Der Gastkommentar

Fuer weltweite Kompatibilitaet sind alle Muehen gerechtfertigt

11.06.1993

Der Autor hat jahrzehntelang in Standardisierungsgremien wie CCITT, ISO/IEC, DIN und anderen mitgewirkt. Die oft als Muehsal empfundenen Anstrengungen haben sich im Laufe der Zeit geaenderten Anspruechen stellen muessen. Eine Situation ist aber unveraendert dieselbe: Die Oeffentlichkeit ist stets mit den Resultaten unzufrieden. Die Bereitschaft zur Mitarbeit, gerade seitens der Anwender, war immer relativ gering. Denn natuerlich konnte und kann man verbindliche Regelungen nicht kostenlos und ohne Aufwand erreichen.

Heute spricht man von allgemeinen Standards, die freiwillig zur Anwendung kommen, und von bindenden Standards, wenn eine politische Instanz die Verbindlichkeit festlegt. Die Fragen, wie Standards entstehen, wie die notwendigen Kompromisse erzielt werden koennen, welche Interessen dabei kollidieren, wie lange ein solcher Vorgang dauert, wie bestmoegliche Beruecksichtigung der Kreise erreichbar ist, die mit den Resultaten arbeiten wollen oder sollen, sind heute aktueller denn je. Jeder ist unzufrieden mit den Ergebnissen, ueberall hoert man die Kritik an den zu langen Entstehungswegen, jeder wuenscht Kompatibilitaet, aber kaum noch besteht irgendwo die Bereitschaft, einen Teil der Lasten des muehevollen Weges zu weltweiten Standards auf sich zu nehmen.

Im Familienleben ist die Situation relativ klar: was nicht durch eigene Anstrengung erreicht wird oder durch gesellschaftliche Leistungen erhalten werden kann, ist schlicht nicht da. Im gesellschaftlichen Rahmen sind die Grundzusammenhaenge natuerlich die gleichen. Aber hier faellt es viel leichter, anderen die Schuld zuzusprechen.

Wer sich etwas ernsthafter mit der Lage auseinandersetzt und sich die Antworten nicht zu leicht macht, stoesst rasch an Grenzen des eigenen und des allgemeinen Verstaendnisses.

Heute wird viel von Wettbewerb gesprochen, eine in demokratisch arbeitenden Umfeldern und freier Marktwirtschaft berechtigte Forderung. Das Handeln des Staates als Gegenkraft zu den Mechanismen des freien Marktes weist Parallelen zum Bemuehen um Standardisierung auf. Der Grundsatz, dass Vereinheitlichung nicht weiter als notwendig gehen sollte, hat seit jeher gegolten (schon des Aufwandes wegen). Eine weitere Binsenwahrheit besteht in der Tatsache, dass die treibende und bestimmende Kraft der Standardisierung die technologische Entwicklung ist.

Die Forderung nach Kompatibilitaet, die vor allem im Bereich der Kommunikation unverzichtbar ist, sorgt fuer komplexere Fragestellungen. Wenn Telekommunikation mehr und mehr den Grundsaetzen des Wettbewerbs unterworfen wird: Wo liegen dann die Interessen, wie werden sie artikuliert, wer uebernimmt die Aufgabe der Standardisierung, die doch offenbar von allen gebraucht wird und die nach wie vor muehsam und kostspielig ist? Wie vertragen sich die immer staerker in den Vordergrund tretenden Interessen von Regionen und Wirtschaftsraeumen mit dem Anspruch weltweiter Kompatibilitaet?

Die schwierigste Aufgabe bei der Standardisierung besteht darin, Einigung zwischen den interessierten Partnern zu erzielen. Meist liegen mehrere Alternativen auf dem Tisch. Jede ist vielleicht gangbar, jede hat Vor- und Nachteile. Wie kann man Uebereinstimmung erreichen? Vielleicht versucht man, die Vorzuege der verschiedenen Loesungswege zu kombinieren. Jeder auf diese Art erreichte Konsens wird allerdings Abstriche von der bestmoeglichen Loesung einschlieEs werden vielleicht Optionen eingefuehrt, die im Sinne der Einheitlichkeit und Klarheit ueberhaupt nicht erwuenscht sind, aber einen Konsens erst ermoeglichen. Diese bittere Einsicht hat schon viele Menschen frustriert, die sich aktiv um Standardisierung bemueht haben.

Am Ende treten meist kluge Koepfe auf, die die Standards wieder von den Optionen befreien wollen. Auf regionaler Ebene ist dies leichter erreichbar als im groesseren Rahmen. "Profile" werden erfunden, die regional unterschiedliche Loesungen zulassen. Dann versucht man, die Profile weltweit doch wieder zu vereinheitlichen. Der Kreislauf beginnt unter etwas anderer Fragestellung, aber mit den gleichen Grundproblemen behaftet, von vorne.

Im CCITT (neuerdings ITU-TSS genannt) hat man bis vor nicht allzu langer Zeit Standardisierung mit der Vorgabe der Einstimmigkeit betrieben. Erst neuerdings ist man zu Verfahren uebergegangen, die das geschlossene Votum nicht mehr in allen Faellen voraussetzen.

ISO/IEC arbeitet nach Verfahrensregeln, die sich an qualifizierten Mehrheiten orientieren. Trotzdem wird versucht, durch Kommentierungsrunden moeglichst viele Einwaende zu beruecksichtigen und einzuarbeiten. Auch nationale Normung wird in den meisten Laendern nach aehnlichen Regeln vorgenommen. ETSI beispielsweise hat die Verfahrensregeln zu straffen versucht, die Fristen verkuerzt und die Abstimmungen auf raschere Konsensbildung unter aktiven Partnern abgestellt. Was man damit erreicht hat, ist zwar die staerkere aktive Beteiligung der interessierten Kreise, aber nicht die der Anwenderschaft, die in der Regel Zeit und Aufwand zu aktiver Mitarbeit nicht erbringen kann oder will.

Standardisierung dauert zu lang, ist vielerorts zu hoeren. Das ist sicher richtig, und es waere herauszufinden, wie man die Dinge beschleunigen kann. Man erkennt sehr rasch, dass allen Bemuehungen dieser Art praktische Grenzen gesetzt sind. Diese Aussage trifft natuerlich nur so lange zu, wie es sich um weltweite Normung handelt. Unter anderen Voraussetzungen hat beispielsweise ECMA durchaus bewiesen, dass es auch rascher gehen kann. Die Abstimmung wird hier aber auch nur unter einer begrenzten Anzahl sehr potenter Herstellerfirmen vorgenommen.

Wenn man von der Tatsache ausgeht, dass der Technologiefortschritt den zeitlichen Takt bestimmt, muss dieser sich in Absichten der an der Standardisierung beteiligten Partner niederschlagen. Hier zeigt sich bereits das erste Hindernis. Gibt es Ideen und haben diese in Produktplanungen Eingang gefunden, wird der Marktvorsprung, den man sich vielleicht ausrechnet, nicht immer eine rasche Standardisierung angebracht erscheinen lassen; von den patentrechtlichen Problemen, die haeufig mit einer Verheitlichung zusammenhaengen, einmal ganz abgesehen.

Vorschlaege muessen gemacht und bearbeitet werden. Die Mitarbeit erfordert Tagungen und zwischenzeitliche Betreuung. Der Abgleich nimmt kaum weniger als 18 Monate in Anspruch, wenn Gelegenheit zu Stellungnahme und Kommentierung gegeben sein soll. Andernfalls bleibt der Konsens fragwuerdig und wird sich wahrscheinlich nicht durchsetzen koennen. Wenn dann schliesslich schriftlich abgestimmt wird, gehen im besten Fall wieder drei Monate ins Land. Wollen gar verschiedene Standardisierungsorganisationen die Texte untereinander abgleichen, ergeben sich daraus meist weitere Verzoegerungen.

Das ist bei weitem noch nicht alles. Standards in Produkte zu ueberfuehren, sie erfolgreich am Markt umzusetzen, verschlingt eine mindestens ebenso lange Frist. Wenn sich in der Zwischenzeit Chancen ergeben, nicht genormte Produkte wirtschaftlich einzusetzen, ist die Neigung der Anwender verstaendlich, diese Moeglichkeiten wahrzunehmen. Da ja am Ende immer der Markt entscheidet, was sich erfolgreich ins Feld bringen laesst - haeufig unter kurzsichtiger Einschaetzung des langfristigen Nutzens - schliesst sich der Kreis oft zuungunsten von Standards. Vielfach bedingt das den Verlust von Kompatibilitaet, ohne die offene Kommunikation kaum denkbar ist.

Standards muessen also rascher entstehen, aber wie? Man spricht von projektorientierten Konzepten, von besserer zielorientierter Arbeit. Dazu gehoeren aber ausreichende Finanzierung und vor allem auch Expertise, Know-how und personelle Ressourcen sowie die Bereitschaft, diese fuer den genannten Zweck auch einzusetzen.

Nun entwickelt sich die Technologie sehr rasch, wie schon festgestellt worden ist. Es entsteht eine Zeitspanne zwischen dem State of the art der technischen Entwicklung und den erreichbaren Standards sowie eine weitere zwischen der Erreichung eines Standards und seiner Implementierung und Akzeptanz am Markt. Da man diese Grundgegebenheiten nicht aufheben kann, gibt es wohl nur den Ausweg, das Beste aus der Situation zu machen. Standardisierung nicht mehr anzustreben, hiesse schliesslich, sich mit anarchischer Kommunikation ohne Kompatibilitaet abzufinden. Eine Situation, die weder dem Entwicklungsstand moderner Technik, noch den Notwendigkeiten industriealisierter Wirtschaftssysteme entspricht.

Wenn man weltweite Kompatibilitaet in der Kommunikation will, sind alle Anstrengungen gerechtfertigt, dieses Ziel zu erreichen. Ohne Muehe und Kosten geht das aber nicht, und es sind immer Vorleistungen auf die Zukunft. Wer den Aufwand erbringen soll und kann, haengt von verschiedenen Faktoren ab. Es ist bis zu einem gewissen Grade eine politische Frage. Daraus abzuleiten, dass nur staatliche Massnahmen die Zielerreichung sicherstellen koennen, wuerde die selbstregelnden Kraefte freier Marktwirtschaft in Zweifel ziehen, und das scheint auch nicht die vollstaendige Antwort zu sein.

Es ist also notwendig, die Vorteile des freiheitlichen und des regulativen Ansatzes zu vereinen. Etwas Idealismus ist auch nicht verkehrt und kann moeglicherweise das bindende Element darstellen. Nur, gibt es noch Idealismus mit Blickrichtung auf das Gemeinwohl in der kommerzbestimmten Umgebung freier Marktwirtschaft? Immerhin ist offensichtlich, dass die eigenen Interessen sehr wohl auch mit denen des Gemeinwohls zusammenhaengen.