Für die DMS-Anbieter wird die Luft dünn

28.05.2002 von Alexander Freimark
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Kaum ein IT-Segment leidet derart unter der Flaute wie die Anbieter von Dokumenten-Management-Systemen (DMS). Mit Ceyoniq und SER Systems sind vorerst zwei traditionelle Softwarehäuser in der Versenkung verschwunden; für die restlichen Wettbewerber geht der Kampf jedoch erst richtig los.

In den letzten Jahren stand die DMS-Branche immer wieder nur ganz knapp vor dem endgültigen Durchbruch. Dass der große Wurf jedoch nie gelingen konnte, hatte gleich mehrere Gründe: Mal war das Jahr-2000-Problem im Weg, dann mussten Anwender auf den Euro umstellen, und schließlich machte die konjunkturelle Flaute den Anbietern einen Strich durch ihre ambitionierten Planungen. Das Ende vom Lied waren die spektakulären Zusammenbrüche von Ceyoniq und SER Systems, von denen sich die gesamte Branche nur schwer wird erholen können.

Börsengang, Übernahmen, Wachstum, Rücktritt, Neuorientierung, Rückkehr, Insolvenz, Betrugsverdacht, Gefängnis.

Jürgen Brintrup, Ex-CEO von Ceyoniq

Nicht nur die Anwender, selbst Manager der betroffenen Unternehmen wurden anscheinend aus heiterem Himmel vom Blitz getroffen. Ceyoniq-Chef Jürgen Brintrup hatte die Firma im vergangenen Herbst verlassen, um sich neu zu orientieren. Damals meldete das Unternehmen, die „Aufbauarbeiten“ seien abgeschlossen, Ceyoniq sei für die Zukunft gut aufgestellt. Kurz vorher hatte man sich auf der Essener Fachmesse DMS Expo noch einen riesigen Stand geleistet, um den Anspruch des Unternehmens zu untermauern: Ceyoniq wollte Weltmarktführer für „Content-Lifecycle-Management“ werden.

Im März 2002 kam Brintrup plötzlich wieder an Bord, es brannte bereits lichterloh. Nun sitzt er im Gefängnis, wegen Betrugsverdachts. Das persönliche DMS-Feature Check-in hat er hinter sich, jetzt wartet er auf sein Check-out. „Ein Schock“, urteilte Finanzanalyst Helmut Bartsch von der Stuttgarter BW Bank. Zu Brintrup heißt es von Insidern, er sei integer gewesen. Häufig wird dieses Prädikat nicht vergeben, in einer Branche, in der jeder jeden kennt und für gewöhnlich kein gutes Haar an der Konkurrenz lässt. „Der hat Kultur vertreten“, sagt jemand, der ihn ebenfalls kennt.

Eine norddeutsche Bank hatte im April die Notbremse gezogen - weil sich das Ceyoniq-Management eines Tricks bediente, der die ganze Verzweiflung der Company angesichts der drohenden Pleite zum Ausdruck brachte: Um das Kreditinstitut mit Sicherheiten ruhig zu stellen, wurden Forderungen an Kunden in Höhe von knapp vier Millionen Euro abgetreten. Dieses Factoring ist ein an sich üblicher Vorgang - wenn die offenen Forderungen tatsächlich existieren. Sind sie erfunden, kommt Paragraph 263 Strafgesetzbuch ins Spiel. Ceyoniqs Finanzchef Thomas Wenzke sitzt folglich auch im Gefängnis, angeblich mit drei afghanischen Drogenhändlern in einer Zelle. Mehr gab auch die Gerüchteküche nicht her.

Für die meisten Branchenexperten war allerdings schnell klar, dass allein Wenzke für die Unregelmäßigkeiten verantwortlich sein soll. Er galt als „graue Eminenz“ des Unternehmens, während Brintrup den Vorturner bei der Großkundenansprache gab. Die Kontrolle der Finanzen und Reporting-Tools soll komplett auf Wenzke zugeschnitten gewesen sein, berichtet ein ehemaliger CE-Mitarbeiter. Sonst war niemand im Detail über die Kennzahlen informiert, hieß es. Auch habe Wenzke angeblich zugegeben, für die kreative Fakturierung verantwortlich gewesen zu sein, während Brintrup den Vorwurf stets bestritten hat.

Wachstumsmotor Börsengang

Dass es gerade die DMS-Schwergewichte SER und Ceyoniq erwischt hat, kam für viele Beobachter überraschend. Dabei zählten die Firmen zu den ersten Unternehmen, die vor einigen Jahren auf den Wachstumsmotor Börse gesetzt haben: SER beispielsweise war im Juli 1997 das sechste Unternehmen am Neuen Markt, für dieses Jahr war ursprünglich der Börsengang an der Nasdaq geplant. Alle Euphorie verflog jedoch schnell, als sich die Geschäfte nicht wie erwartet einstellten. Und die vermeintliche Starthilfe erwies sich im Nachhinein als Bumerang.

"An den Kernprodukten lag es nicht“, beurteilt DMS-Experte Volker Halstenbach von der Sulzbacher Management- und Technologieberatung Zöller & Partner die Qualität der einschlägigen Lösungen. BW-Bank-Analyst Bartsch sieht das ähnlich. SER und Ceyoniq hätten sich vielmehr bei Zukäufen verhoben. Der Aufwand für die Integration der Companies sei unterschätzt worden, der Blick für die Realität verloren gegangen. Wie viele andere Unternehmen am Neuen Markt haben auch die DMS-Spezialisten durch die hohe Marktkapitalisierung zu Beginn jede Bodenhaftung verloren. Letztlich geriet das Ceyoniq-Management in eine Notlage, die nur noch mit kriminellen Machenschaften beseitigt werden konnte.

Die Bielefelder wurden zudem durch ihre interne Struktur behindert: Diese sah eine Zweiteilung in den Bereich Sparkassen mit eher kleineren Kunden sowie das Industrie- und Versicherungsgeschäft mit Konzernen vor. Die Einteilung habe immer wieder zu Konflikten  geführt, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter. Ferner habe es das Unternehmen versäumt, adäquate Strukturen einzuziehen, von denen das zunächst rapide Wachstum getragen werden konnte. Die Erkenntnis ist nicht neu: Wer eine Firma gründet, muss nicht automatisch für den Vorstandsposten geeignet sein.

Gleiches gilt auch für SER Systems, 1984 von Gert Reinhardt gegründet. Das Unternehmen hat im vergangenen Geschäftsjahr nach vorläufigen Zahlen 149 Millionen Euro umgesetzt, der für Ende März geplante Geschäftsbericht wurde immer noch nicht veröffentlicht. Das Minus vor Zinsen und Steuern belief sich auf fulminante 163,5 Millionen Euro. SER Systems musste sich zu einem schlechten Preis von eigenen Aktien und Auslandstöchtern trennen oder letztere in das Insolvenzverfahren schicken. Die Gläubigerbanken hatten dem DMS-Spezialisten schlicht die Pistole auf die Brust gesetzt.

Volker Halstenbach von Zöller & Partner

Der DMS-Experte beobachtet, dass das Vertrauen in die gesamte Branche erschüttert ist. Wahrscheinlich hält die Kaufzurückhaltung an.

Seit 1998 hatte SER Systems acht Firmen gekauft, deren strategischer Wert - vom finanziellen ganz zu schweigen - anscheinend gering war. Marktbeobachtern zufolge hat das Unternehmen dabei sein Kerngeschäft vernachlässigt und sich zu weit auf das Feld des Knowledge Management vorgewagt. Seit Anfang April ist die Firma im Geregelten Markt gelistet, weshalb sie nicht mehr der Publizitätspflicht unterliegt.

Derweil versuchen die überlebenden DMS-Firmen, an die verwertbaren Reste ihrer ehemaligen Wettbewerber zu gelangen. Branchengerüchten zufolge war die Berliner Firma Saperion brennend am neuen „Solutions“-Server von Ceyoniq interessiert, um sich im Handstreich eine umfangreiche und ausgereifte Plattform zu sichern. Abwegig sind die Spekulationen nicht, denn der Marketing-Vorstand von Saperion, Mathias Petri, kennt sich bei Ceyoniq aus:

Er arbeitete als Geschäftsführer für den Anbieter Sidoc („Arcis“), der im Jahr 1998 von Ceyoniq, damals noch CE, geschluckt worden war. Auf der CeBIT 1999 wechselte Petri überraschend - innerhalb eines Messetages - von CE zu Saperion. Das Berliner Unternehmen wollte keine Stellungnahme zu der Personalie abgeben.

Wettbewerber auf Schnäppchenjagd

Auch Ixos hat „generelles Interesse“ an Ceyoniq bekundet, bekennt Unternehmenssprecher Stefan Huth. Allerdings fürchtet er, als Wettbewerber wohl nachrangig behandelt zu werden: „Der Insolvenzverwalter tritt nicht mit uns in Kontakt.“ Dabei kennt Ixos das Ceyoniq-Tool „Arcis“ ganz gut, schließlich waren die Münchner vor zehn Jahren Entwicklungspartner für die Software, als sie - damals noch im Hause Siemens - ins Leben gerufen wurde. „Die Architektur der Systeme ist auffallend ähnlich“, vergleicht DMS-Experte Halstenbach Arcis mit der Ixos-Lösung.

Das wichtigste Gut der betroffenen DMS-Firmen ist jedoch ihr großer Kundenstamm. Um diesen ins eigene Boot zu holen, ist den Wettbewerbern jedes Mittel recht. Den - früher angeblich vorhandenen - „Ehrenkodex“ der Branche, Kunden nicht direkt anzusprechen und zu einer Migration zu bewegen, gibt es nicht mehr. Auch scheuen sich die Firmen nicht, die Pleiten der anderen für die eigene Öffentlichkeitsarbeit werbewirksam auszuschlachten. So sieht sich beispielsweise Saperion „gut gerüstet“ für Migrationsprojekte, besonders von Ceyoniq-Kunden.

Ixos war noch vier Tage schneller als die Berliner. Am 12. April meldete Ceyoniq Insolvenz an, sechs Tage später pries Ixos schon „einfache Lösungswege“ für die Migration an. Bei einer „kleinen“ Installation im SAP-Umfeld betrage der Aufwand zehn Manntage, sagt Ixos-Sprecher Huth. Im Parallelbetrieb könne sich die Migration aber auch schon mal über ein Jahr hinziehen. Experten schätzen selbst dies als ambitioniert ein. Inzwischen hält Ixos auch kostenlose Workshops zur schrittweisen Ablösung bestehender Archive an. Man habe die Ceyoniq-Insolvenz zum Anlass genommen, so Huth, etwas aggressiver aufzutreten; schließlich biete man schon lange Migrationslösungen an: „Wir legen aber großen Wert darauf, hier seriös vorzugehen.“

Bei Filenet hingegen nennen sich die Vertriebsveranstaltungen „Move it“. Sie werden von der Hamburger Havi Computer-Service GmbH ausgerichtet, die im vergangenen Geschäftsjahr von Ceyoniq verkauft worden war, weil sie angeblich nicht zum Kerngeschäft gehört hat. Es winken günstige Konditionen für die Lizenzen und die Implementierung, heißt es von Filenet, einer Firma, die stets als „Mercedes“ der DMS-Branche galt.

Überhaupt ist die „Preisflexibilität“ im Markt plötzlich sehr groß, berichten Insider. Das Geschäft verläuft schleppend, ausruhen kann sich kein Anbieter. Machbarkeitsstudien gibt es viele, konkrete Projekte werden nur selten in Angriff genommen. „Das Wettrennen um die Gunst der Kunden ist hart“, beurteilt Analyst Bartsch von der BW Bank die Lage. Viel hat sich an den schlechten Rahmenbedingungen zum ersten Quartal des Jahres nicht geändert, als Investitionszurückhaltung, Überkapazitäten und die saisonale Schwäche zusammen kamen und den Absturz der Firmen auslösten.

Migrieren? Laut Volker Halstenbach, Berater bei Zöller & Partner, können sich die von den Firmenpleiten betroffenen DMS-Anwender mit einer Migration Zeit lassen, solange die Zukunft der Lieferanten und der Tools nicht geklärt ist: „Wer bereits produktiv tätig ist, sollte nicht hektisch zur Konkurrenz überwechseln.“ Eine Garantie, dass der Ersatzlieferant in einigen Jahren noch existiert, ist zudem niemals gegeben. Dies hängt auch nicht von der vermeintlichen finanziellen Stärke des Unternehmens ab, wie die Beispiele „Arcis“ (Siemens) und „Megadoc“ (Philips) zeigen. Nutzer sollten ihre DMS-Konzepte darauf ausrichten, möglichst unabhängig vom einzelnen Hersteller zu sein. Nach Ansicht Halstenbachs könnten Anwender auch die Gelegenheit nutzen, sich in der so genannten zweiten Reihe der DMS-Anbieter umzusehen. Dort seien im Laufe der Jahre teilweise sehr interessante Konzepte entwickelt worden.

Angesichts der eingefrorenen IT-Budgets ist es mehr als fraglich, ob Anwender in den nächsten Wochen auf eine neue Plattform migrieren, bloß weil der alte Lieferant zahlungsunfähig ist. „Allein durch die Insolvenz fällt uns nichts in den Schoß“, schätzt Ixos-Sprecher Huth die Lage ein. Man sei verhalten optimistisch für die nächsten Monate, störe sich aber daran, dass die gesamte Branche in Verruf geraten ist: „Jetzt müssen wir mithelfen, Schadensbegrenzung zu betreiben.“

Experten für Schadensbegrenzung

Mit Schadensbegrenzung hat Ixos immerhin Erfahrung, schließlich purzelten die Münchner vor zwei Jahren überraschend von einem hohen Ross herunter. Verluste waren aufgelaufen, die Finanzmarktkommunikation agierte nicht immer glücklich. Zudem hatten sich die Ixos-Gründer Eberhard Färber und Hans Strack-Zimmermann kurz vor der Gewinnwarnung von jeweils 300 000 Aktien getrennt - das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel schaltete sich ein. Von der negativen Entwicklung habe man nichts geahnt, lautete damals die Rechtfertigung.

Die SER Solutions Deutschland GmbH plant unterdessen weiterhin, sich per Management- Buyout im deutschsprachigen Raum auf eigene Beine zu stellen. Zu den Investorengruppen könne er keine Detailangaben machen, sagte SERs Marketingleiter Manfred Zerwas. Ob neben den Gläubigerbanken auch namhafte Kunden dazu zählen, ist nicht geklärt. Die Abwicklung könne aber in einigen Wochen unter Dach und Fach sein, hieß es vage. Um die Kerngeschäftsfelder DMS und Workflow sollen sich bei SER künftig Entwickler, Vertrieb und Support scharen.

Gemischt sind die Signale, was die Zukunft von Ceyoniq betrifft. Laut Gerüchten arbeitet das Unternehmen schon seit Wochen an einer Auffanggesellschaft, zu der auch Kunden aus dem Bereich der Finanzdienstleister zählen sollen. Ceyoniq selbst hält sich bedeckt, zudem hatte die Pressesprecherin unlängst ihren letzten Arbeitstag. Die Satelliten von Ceyoniq wie die Karlsruher Group AG, Insiders IM aus Kaiserslautern und Ceyoniq Healthcare in Augsburg werden wohl verkauft oder über einen weiteren Management-Buyout abgespalten. Der zum Insolvenzverwalter bestellte Bielefelder Rechtsanwalt Hartmut Stange war in den vergangenen Wochen nicht zu einer Stellungnahme zu bewegen.

Offene Kommunikation findet kaum statt

Diese zurückhaltende Kommunikationsstrategie ist jedoch nur begrenzt dazu geeignet, die angeschlagene Branche vom Makel reinzuwaschen: „Das Vertrauen in den Markt ist sicherlich erschüttert“, meint DMS-Berater Halstenbach. Wer sich als Anwender heute mit Investitionen zurückhalte, werde dies wahrscheinlich auch noch länger tun. Hinzu komme seiner Einschätzung nach, dass Kunden häufiger als zuvor planten, die Basistechnologie eines Herstellers mit individuellen Applikationen abzurunden oder einfach auf Drittanbieter ausweichen.

Folglich sehen Beobachter noch weitere Gewinnwarnungen oder gar Pleiten auf die Branche zukommen. Der DMS-Markt habe schon länger ein strukturelles Problem, berichtet ein Insider. Die notwendige Bereinigung finde nicht statt, auch wenn sich zwei große Anbieter vorerst aus dem Rennen zurückgezogen haben. Ceyoniq hat beispielsweise das Ende der Arcis-Software schon vor drei Jahren eingeleitet, und noch immer laufe das Archivsystem bei mehr als 90 Prozent der Bestandskunden, schätzt ein ehemaliger CE-Mitarbeiter. Nennenswertes Neugeschäft für die Wettbewerber sei dadurch nicht entstanden. So wies etwa die Easy Software AG im vergangenen Geschäftsjahr einen Jahresfehlbetrag von 24,3 Millionen Euro bei Einnahmen von 34,7 Millionen Euro aus.

Grundsätzlich besteht jedoch immer noch Bedarf an DMS-Lösungen, nicht zuletzt wegen neuer rechtlicher Rahmenbedingungen zur revisionssicheren Archivierung von elektronischen Dokumenten. Ein Wachstum der Nachfrage, soviel scheint heute sicher, leitet sich daraus aber nicht zwangsläufig ab - erst recht nicht, solange das Vertrauen der Anwender nicht wenigstens ansatzweise wiederhergestellt ist.