Produktionsplanung und -steuerung bei Steyr-Daimler-Puch

Flexibilität: Im Zweifelsfall wichtiger als Funktionalität

25.07.1997

Die Automobilhersteller entwickeln sich mehr und mehr von klassischen Produzenten zu Komponenten- und Systemintegratoren. Betrug die Quote der zugelieferten Teile 1980 nicht einmal 30 Prozent, bewegt sie sich heute zwischen 50 und 80 Prozent - mit steigender Tendenz. Gleichzeitig sind die Zulieferbetriebe immer stärker als Systempartner gefragt. Sie tragen umfassende Verantwortung von der Entwicklung bis zum fertigen Produkt.

Diese Tendenz fordert auch vom ältesten Automobilhersteller Österreichs, der Steyr-Daimler-Puch Fahrzeugtechnik AG & Co. KG (SFT) mit Sitz in Graz, die Fähigkeit, sich permanent an neue Produktionsabläufe anzupassen. Das gilt um so mehr angesichts von Trends und Problemen wie Prozeßorientierung, Globalisierung der Märkte, Just-in-time-Lieferung, Jahrtausendwechsel und Euro-Einführung.

Bereits 1979 war SFT in die auftragsbezogene Fertigung und Montage eingestiegen: mit dem Geländewagen "G", einer Gemeinschaftsproduktion mit der Mercedes-Benz AG, Stuttgart. Von 1984 bis 1992 produzierten die Grazer zusätzlich den VW-Transporter "T3" in der Allradversion "Synchro". Seit 1994 ist auch der Jeep "Grand Cherokee" von Chrysler made in Austria. Im November 1996 startete SFT dann die Vorfertigung und Montage der "E-4matic"-Modelle von Mercedes-Benz.

Neben Mercedes-Benz, VW und Chrysler kooperieren die Österreicher auch mit den Herstellern Alfa Romeo, Audi, Fiat, Lancia, Matra und Opel, denen sie bei der Entwicklung und Fertigung von Fahrzeugkomponenten und -systemen helfen. Das Produktspektrum der SFT reicht vom Schaltgetriebe über Verteiler, Differentiale und Kupplungen bis zu Achs-, Fahrwerk- und Antriebskomponenten sowie Autositzen, Kabelsträngen und Stoßstangen.

Zwischen 1990 und 1992 zeichnete sich ab, daß die variantenreiche Kleinserienfertigung mit der existierenden Host-Landschaft auf Dauer nicht mehr wirtschaftlich zu steuern sein würde. Die Systeme erreichten langsam, aber sicher ihre Leistungsgrenzen. Eine Unzahl von Schnittstellen war notwendig, um die Materialwirtschafts- und Beschaffungssysteme funktionsfähig und konsistent zu halten sowie den Datenaustausch mit den Systemen der Hersteller zu schaffen: Das Unternehmen kam nicht mehr um eine Neuorientierung der Organisations- und DV-Struktur herum.

Wie der verantwortliche Systemgestalter Heinrich Eichenauer erläutert, erarbeitete Steyer-Daimler-Puch zunächst ein neues abteilungsübergreifendes Logistikkonzept, das auf der vorhandenen Unternehmensstrategie basierte. Dieses Konzept mündete, so Eichenauer weiter, in ein durchgängiges Modell aller Geschäftsprozesse und bildete die Grundlage für die Auswahl entsprechender Hard- und Softwarekomponenten.

Das neue Informatiksystem sollte unter anderem die simultane Fahrzeugentwicklung ("Simultaneous Engineering") durch parallel arbeitende Projektteams unterstützen. Damit beabsichtigte das Unternehmen, die Entwicklung von Fahrzeugen und Komponenten zu beschleunigen und effizienter zu gestalten.

Nach den Vorarbeiten begann SFT mit der Suche eines geeigneten Produktionsplanungs- und -steuerungssystems (PPS). In die engere Wahl kamen die Produkte von SAP, Software AG und Kybernon. Die Wahl fiel auf "Factory" vom letztgenannten Anbieter. Es läuft unter Unix und nutzt eine Oracle-Datenbank. "Unser strategisches Unternehmensziel, Systemlieferant der internationalen Autoindustrie zu sein, konnten wir nur mit einem plattformunabhängigen und extrem flexiblen PPS-System umsetzen", beschreibt Eichenauer die Ausgangssituation. Factory sei für die Bedürfnisse eines Kleinserienfertigers mit großer Variantenvielfalt maßgeschneidert.

Wie der Systemgestalter ergänzt, deckt Factory nicht nur alle Stationen der SFT-spezifischen Logistikkette ab, vielmehr lasse es sich auch weitestgehend in der Standardversion einsetzen; größere Anpassungs- und Erweiterungsarbeiten seien nur bei der eigentlichen Montagesteuerung nötig geworden.

Wichtig waren Eichenauer auch die Hardware-Unabhängigkeit des Produkts sowie die weitgehende Kompatibilität mit dem Oracle-Standard, die es möglich mache, alle Weiterentwicklungen des Datenbanksystems problemlos zu nutzen. Last, but not least äußert der Systemgestalter die Überzeugung, daß er sich wegen der kommenden vierstelligen Jahreszahlen und der Währungsumstellung auf den Euro keine Sorgen machen müsse.

Ende 1992 holte SFT das Produkt ins Haus. Ein Jahr später hatten alle Arbeitsgruppen die Anforderungen ihrer Fachbereiche definiert. Die größte Herausforderung bestand darin, den Abbau der Altsysteme mit dem Aufbau der neuen Umgebung so zu synchronisieren, daß möglichst wenig Übergangs-Schnittstellen zu schreiben waren.

Dabei plante das Unternehmen, in drei Schritten vorzugehen. Zunächst machte es sich daran, die Materialfluß-Steuerung mit taktgenauer Materialbereitstellung an jeder Montagestation zu implementieren sowie die Standard-Lagersteuerung zu erweitern und anzupassen. Hier konzentrierte sich die SFT-eigene DV-Abteilung auf das Erarbeiten der fachlich-organisatorischen Vorgaben und die Schnittstellen zu den Altsystemen, während der Software-Anbieter diese Vorgaben in neue oder geänderte Module umsetzte.

Probleme bei der Synchronisierung

Es stellte sich schnell heraus, daß der erste Schritt zu groß gewählt war - jedenfalls im Hinblick auf die organisatorische Umsetzung in den operativen Bereichen. Probleme gab es vor allem bei der Synchronisierung von Factory mit den vorerst beibehaltenen Altsystemen (Stücklisten, Bedarfsermittlung und Auftragswirtschaft). Um diese Aufgabe zu lösen, mußte SFT - in Zusammenarbeit mit Kybernon - eigene Schnittstellen schreiben. Im Juli 1995 setzte SFT diesen ersten Systemteil schließlich zum ersten Mal produktiv ein.

Im vergangenen Jahr kam eine zusätzliche Herausforderung auf die Grazer zu. Sie mußten das System für die Produktion der allradgetriebenen E-Klasse von Mercedes-Benz (E-4matic) anpassen. Im Gegensatz zum "G" wird bei der E-Klasse lediglich die Allradversion in Graz gefertigt, während die anderen Modelle in Sindelfingen vom Band laufen.

Damit diese Verbundproduktion reibungslos funktioniert, mußten die Bereiche Auftragsabwicklung, Dokumentation und Beschaffung in zweifacher Hinsicht mit den Systemen der Mercedes-Benz AG in Einklang gebracht werden. Denn auf der einen Seite fungiert der Stuttgarter Automobilkonzern als Auftraggeber, auf der anderen Seite aber als Zulieferer für SFT.

Firmenübergreifende Logistik abgebildet

Mit anderen Worten: Der Mercedes-Vertrieb, die SFT-Montage und die Teileproduktion in Stuttgart müssen aufeinander abgestimmt sein, damit sie die Just-in-time-Philosophie der Mercedes-Benz AG unterstützen, die dort "produktionssynchroner Abruf" heißt: Die Einzelkomponenten sollen exakt zum Zeitpunkt ihres Verbrauchs am Montageband sein. Dadurch lassen sich Bestände und Lagerflächen reduzieren, die Versorgung mit einzelnen Komponenten wird sicherer, Art und Zahl vorhandener Teile sind für jeden zuständigen Mitarbeiter transparenter und Fehler schneller auffindbar.

Diese unternehmensübergreifende Logistik abzubilden erforderte wiederum die Entwicklung von Individual-Schnittstellen. Auf der Kommunikationsebene löst SFT das Problem mit Hilfe des VDA-Standards für Electronic Data Interchange (EDI). Am 11. November 1996 waren all diese Hürden genommen, und der erste E-4matic lief vom Band.

Mittlerweile hat SFT auch die zweite Phase der Factory-Einführung beinahe abgeschlossen, die eben diesem Thema, nämlich der Auftragsabwicklung, gewidmet war. Der dritte und letzte Schritt des Großprojekts zielt darauf, die alte Stückliste abzulösen. Mit dieser Arbeit haben die Grazer gerade erst begonnen. Ihre Zukunftspläne richten sich mittelfristig vor allem auf die Integration der hauseigenen Entwicklungssysteme.

Das Unternehmen

SFT ist ein international anerkannter Komponenten- und Systementwickler für Personenwagen und leichte Nutzfahrzeuge. Mit 5000 Mitarbeitern produziert das Unternehmen am Hauptsitz in Graz pro Tag zirka 210 Automobile: 40 E-4matic und 16 Geländewagen für Mercedes-Benz, 150 Jeeps für Chrysler und im Durchschnitt vier Puch Pinzgauer. Das sind rund 55000 Fahrzeuge im Jahr. Der Umsatz des Unternehmens lag 1995 bei rund 4,3 Milliarden Schilling (zirka 610 Millionen Mark). 60 Mitarbeiter in der Informatik- und Informationsabteilung kümmern sich um Organisation, Software-Entwicklung, Benutzerservice und neue Technologien.

Das System

- Hardware: RISC-System RM 600/E von SNI- Betriebssystem: Unix- Datenbanksystem: Oracle, Version 7.2- ein Anwendungs-Server und- ein Datenbank-Server mit Ausfallsicherheitskonzept- Endgeräte: 200 Terminals VT520 und 200 PCs- Netz: Ethernet-basiertes LAN mit FDDI- Backbone, demnächst ATM