Twitter

Firmen-"Gezwitscher" - Chance oder Katastrophe?

29.06.2009
Ein Mann lästerte während eines Vortrages über sein Unternehmen - und war noch vor Ende der Rede seinen Job los.

"Die Zuhörer hatten getwittert und das Unternehmen die Einträge gelesen", erzählt Torsten Schwarz, Marketing-Fachmann im Onlinebereich. Passiert ist die Geschichte in den USA. "Aber auch in Deutschland wird bei Vorträgen viel getwittert." Lange Zeit habe man bei derlei Reden auch mal lax formulieren dürfen. "Jetzt müssen sie überall genau aufpassen, was sie sagen." Es gebe bereits Konferenzen, wo explizit unterschrieben werden müsse, dass man nicht twittern wird. Denn zumindest einige der Millionen 140 Zeichen langen Kurzbotschaften bergen riskanten Zündstoff.

"In Deutschland hat es noch keinen prominenten Rausschmiss wegen Twitter gegeben. Aber das ist nur eine Frage der Zeit", sagt Social-Media-Fachfrau Nicole Simon, die ein Buch über das Phänomen Twitter geschrieben hat ("Twitter - Mit 140 Zeichen zum Web 2.0", ISBN 978-3-9375-1474-1). Arbeitnehmer stünden mit den Möglichkeiten des Web 2.0 viel mehr in der Öffentlichkeit. In der Schweiz habe eine Mitarbeiterin beispielsweise ihren Facebook-Eintrag überarbeitet - nachdem sie sich bei ihrem Arbeitgeber wegen Migräne krankgemeldet hatte. In einem anderen Fall habe ein Bewerber nach dem Vorstellungsgespräch via Twitter über den potenziellen Arbeitgeber gelästert. In beiden Fällen bekamen die Firmen die Untaten mit. "So was ist unschlau", sagt Simon. Viele Leute dächten aber einfach gar nicht daran, dass ihr "Gezwitscher" nicht nur von Freunden und Verwandten gelesen wird.

Gefährlich ist das nicht nur für Angestellte, sondern auch für die Unternehmen selbst - wenn in den Kurznachrichten arglos Interna verraten werden oder über Kunden und Konkurrenz hergezogen wird. "Wenn da etwas Schlimmes oder Spannendes ist, verbreitet sich das explosionsartig", erklärt Simon. Die Wahrscheinlichkeit für so ein "Leck" sei viel höher als bisher bei Blogs, da mit Twitter etliche Menschen ins Mitmach-Web einstiegen, die davon zuvor gar nichts wissen wollten. "Twitter senkt die Hemmschwelle, es ist ganz einfach und macht Spaß. Die Deutschen haben Blogs verschmäht, aber sie verschmähen Twitter nicht."

Umso unverständlicher sei es, dass es bei den meisten Unternehmen derzeit weder Schulungen zum Thema noch spezielle Handlungsrichtlinien gebe. "Das wird zu Skandalen führen. Das ist, mit Ansage gegen die Wand zu laufen", kritisiert Simon.

Twitter sei vom Konzept her einfach eine "Schwätz-Maschine", sagt Schwarz. Das berge Risiken, aber auch Chancen für Unternehmen - etwa beim Marketing. Mit Twitter gebe es eine einzelne große Datenbank, in der man nach Einschätzungen von Firmen und Produkten suchen könne oder eben auch die eigene Meinung kundtun. "Bisher konnten Unternehmen mit massiver Werbung ein positives Bild erzeugen. Jetzt ist aber jede Werbebotschaft absolut transparent", erläutert Schwarz. "Gute Qualität spricht sich schneller rum - schlechte natürlich auch."

Die Unternehmen lernten derzeit "mehr oder weniger schmerzhaft", dass die Verbraucher sich nun effektiv öffentlich melden können, sagt Simon. Es werde bereits an Anwendungen getüftelt, mit denen sich regelmäßig die Unternehmen und Produkten auflisten lassen, die bei Twitter am häufigsten gelobt und kritisiert werden.

Schwarz rät: "Es sollte Pflichtprogramm sein, regelmäßig nach dem Namen des Unternehmens zu suchen und zumindest punktuell einzugreifen." Neben der Standardantwort auf Beschwerdebriefe sei nun auch die rasche Reaktion auf Twitter-Kommentare gefragt. "Das ist lockerer und effizienter. Aber natürlich nimmt auch die Zahl der Anfragen zu." Zudem gebe es immer das Risiko, die Kunden mit plumpen Floskeln und Werbeslogans noch mehr zu verschrecken. "Lügen haben kurze Beine, bei Twitter erst recht."

So manches Unternehmen mag es deshalb vorziehen, auf das riskante "Gezwitscher" vorerst ganz zu verzichten. Das aber ist nach Ansicht der Experten keine Option: "Twitter ist extrem schnell extrem groß geworden. Es geht nicht mehr darum, ob oder ob nicht. Sondern darum, wie man es effizient und sinnvoll macht." Skeptiker verweisen gern darauf, dass es noch gar nicht lange her sei, dass die Online-Welt "Second Life" auf ähnliche Weise als "Muss für Unternehmen" gepriesen wurde. Viele Firmen steckten Unsummen in die Plattform - die dann nie so bedeutsam wurde wie prophezeit. "Twitter ist eine ganz andere Nummer. Ich würde es als Revolution bezeichnen", betont Schwarz.

Werbebranche stürzt sich auf Twitter

Es ist noch gar nicht lange her, da mussten die meisten Deutschen das Wort Twitter erst mal googeln. Seit den Unruhen nach den Wahlen im Iran ist der Internetdienst, über den Kurznachrichten (auch per Handy) auf Computerbildschirme in der ganzen Welt geschickt werden können, zur Nachrichtenquelle geworden, der Name ist ständig zu hören. Während viele jetzt zum ersten Mal einen Blick auf die Twitter-Seite werfen, hat die Werbebranche sie schon längst ins Visier genommen. Denn genau wie im Internet-Netzwerk Facebook und in Blogs sind bei Twitter jede Menge potenzielle Käufer unterwegs. Aber die sind gar nicht so einfach einzufangen.

"Werbung über solche Dienste ist sehr viel komplizierter als über klassische Medien", sagt Klaus Wilsberg vom Siegfried Vögele Institut für Dialogmarketing im hessischen Königstein, Aussteller bei einer Fachmesse für Direktmarketing in Nürnberg. "Werber müssen ihre Kunden sehr viel komplexer ansprechen." Längst sei es in der Branche gang und gäbe, sogenannte "crossmediale" Kampagnen zu fahren. Dabei werden die Kunden sowohl klassisch mit Plakaten und Zeitungsanzeigen, gleichzeitig aber auch mit TV-Werbespots, Werbung auf Internetseiten und möglichst auch noch E-Mail-Anschreiben im gleichen Design umgarnt.

Doch die Flut von Spam-E-Mails und die Werbeschreie auf allen Kanälen bewirken oft das genaue Gegenteil des Geplanten: Die Leute wehren sich und schalten einfach ab. "Die Aufmerksamkeit für einzelne Medien sinkt. Die Frage ist: Wie erreichen sie Kunden, die übersättigt sind von den Medien?", sagt Wilsberg, Direktor des Vögele-Instituts, einer Tochter der Deutschen Post World Net. Die Antwort: Kunden müssen individueller angesprochen, Zielgruppen genauer ausfindig gemacht werden.

Neuere Kommunikationsformen wie Twitter oder Facebook sind dazu nach Ansicht von Nikolaus von Graeve, Geschäftsführer einer auf E-Mail-Marketing spezialisierten Agentur aus Frankfurt am Main, bestens geeignet. Allerdings müssten die Firmen dafür umdenken - mit Massen-E-Mails sei es nicht mehr getan, erklärt er. "Die Inhalte zum Beispiel von Newslettern müssen Qualität haben, sie müssen spezifischere, präzisere Informationen enthalten."

Im Fall von Twitter ist es noch einmal komplizierter. Auf den meisten Internetseiten können einfach Werbeanzeigen geschaltet werden, zu sehen auf der Oberfläche, wenn die Seite aufgerufen wird. Als Facebook vor einiger Zeit für Anzeigen freigegeben wurde, ging ein Aufschrei durch die Benutzerschar, die keine Lust auf noch mehr Werbung im Netz hatte. Twitter allerdings bleibt derzeit noch standhaft. Obwohl sie täglich verlockende Angebote von Werbemachern bekommen, schreiben die Betreiber auf der Seite, vorerst noch ohne Werbung weitermachen zu wollen. In der momentanen "Entwicklungsphase" allerdings werde mehr Geld ausgegeben als eingenommen - irgendwann solle sich das aber auch ändern.

Um trotzdem jetzt schon an die Twitter-Gemeinde heranzukommen, soll ähnlich gearbeitet werden wie bereits bei Facebook. Graeve erklärt: "Im Grunde haben heute Privatpersonen einen eigenen Newsletter." Wer auf Facebook oder Twitter aktiv ist, der ist mit zahlreichen Freunden verlinkt, denen er technisch mit einem Klick Informationen zuschicken kann - über sich selber, oder aber eben über ein Produkt. Bekommt nun ein Internetnutzer einen Newsletter von einer Firma, den er selber bestellt hat, soll es ihm so einfach wie möglich gemacht werden, seinen Freunden davon zu berichten.

Allerdings ist diese Marketing-Form nicht für jeden das Richtige, meint Wilsberg. Medientrends werde es noch viele geben. Bevor Firmen aufspringen, sollten sie sich fragen: "Generiert dieses neue Medium auch Geschäft?" Im Iran sind derzeit sicher viele froh, dass Twitter noch nicht auf Werbung angewiesen ist. (dpa/tc)