Berliner Beschäftigte müssen mit Entlassungswelle rechnen:

Elektroniksparte streicht kräftig Stellen

19.08.1988

MÜNCHEN (ih) - Entlassungen und Kurzarbeit stehen in Berlin auf dem Plan. Siemens, Standard Elektrik Lorenz (SEL) sowie DeTeWe bauen verstärkt Personal ab. Während die Gewerkschaft von einer katastrophalen Lage spricht, hält die Arbeitgeberseite die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen für "nicht ungewöhnlich".

"Wir rechnen mit einem Abbau von rund 300 Mitarbeitern", erklärte in der vergangenen Woche eine Sprecherin des Siemens-Werkes für Textendgeräte in Berlin. Nach Gewerkschaftsangaben sollen jedoch 400 Arbeitskräfte in Gefahr sein. Grund für die Maßnahme bei Siemens sei die schwierige Absatzlage für Tintenstrahldrucker, die im Berliner Werk hergestellt werden (siehe CW Nr. 32, Seite 6). Bei dem Konzern, mit etwa 21 000 Beschäftigten nach wie vor größter privater Arbeitgeber der Inselstadt, gilt seit langem die Faustregel: Rund fünf Prozent der Arbeitsplätze gehen pro Jahr aufgrund des Produktivitätsfortschrittes verloren. Nach Auskunft der IG Metall heißt das für das Geschäftsjahr 1987/88, daß knapp 900 Arbeitsplätze eingespart werden. Allein seit Mitte der siebziger Jahre sind bei dem Multi in Berlin über 10 000 Mitarbeiter erwerbslos geworden.

Doch der Personalabbau bei Siemens ist nur die Spitze des Eisbergs. Drastisch entwickelt hat sich auch die Personalsituation in den Berliner Werken von Standard Elektrik Lorenz (SEL). Arbeitsniederlegungen hatten im vergangenen Jahr dazu geführt, daß anstatt der ursprünglich geplanten 600 (über 20 Prozent) nur 300 Beschäftigte ihren Job verlieren sollten. Tatsächlich aber sind inzwischen 300 Mitarbeiter bereits entlassen worden, weiterer Personalabbau ist bis Ende des Jahres vorgesehen. SEL-Unternehmenssprecher Engelbert Totsche räumt ein: "Wahrscheinlich müssen wir noch einmal 300 Leute nach Hause schicken." Als einen Grund für die Entlassungen nennt SEL die Absicht der Deutschen Bundespost, die Telefonvermittlung von mechanischen Relais auf digitale Übertragungstechnik umzustellen. Die Herstellung der sehr viel kleineren Digitalanlagen erfordere wesentlich weniger menschliche Arbeitskraft. DGB-Vertreter erklären, daß auch in anderen Betrieben dieser Branche der Abbau zahlreicher Arbeitsplätze abzusehen ist. So wird bei DeTeWe, Deutsche Telefonwerke und Kabelindustrie, in diesem Jahr jeder zehnte Job, insgesamt 200, wegfallen.

Es gilt nicht nur in Gewerkschaftskreisen als sicher, daß 1988 die "magische Grenze" von insgesamt 100 000 Arbeitslosen überschritten wird.

Während im vergangenen Jahr der Berliner Wirtschaftssenator Elmar Pieroth noch von einer aufwärtstendierenden Arbeitskräftenachfrage und weiterer gefestigter Wirtschaftstätigkeit sprach, hält sich die Behörde inzwischen in bezug auf die neueste Entwicklung eher zurück. Der Pressesprecher des Senators erklärte lediglich, man sei mit den betroffenen Unternehmen im Gespräch, aber habe sich noch kein klares Bild über die tatsächliche Situation verschaffen können.

"Keinen Anlaß zur Klage dagegen hat die Arbeitgeberseite", erklärte Henning Brekenfeld vom Verband der Berliner Elektroindustrie: "Die Auftragslage ist normal, die Entwicklung der Beschäftigtenzahl nicht ungewöhnlich." Probleme bereite derzeit lediglich das Umwälzen der Technik von der Elektromechanik zur Elektronik. Die Gewerkschaft befürchtet indes, daß in den nächsten drei bis vier Jahren ein Drittel der derzeit rund 14 000 in der Fernmeldetechnik vorhandenen Arbeitsplätze wegfällt. Dies hätte zur Folge, daß die Elektrosparte dann noch auf 50 000 Beschäftigte käme. 1970 waren es mehr als doppelt soviele.