Im Jahr 2015 wurden beim BAMF insgesamt 476.649 formelle Asylanträge gestellt. Das sind 273.815 Anträge mehr als im Vorjahr -eine Steigerung um über 130 Prozent und zugleich die höchste Zahl von Asylbewerberzugängen, die Deutschland je verzeichnet hat. In der Regierung entstand daher schnell die Anforderung, das Asylverfahren zu beschleunigen mit dem Ziel, die Wartezeit bis zur Antragstellung für Geflüchtete zu verringern und eine schnelle Bearbeitung ihrer Anträge sicherzustellen. Hierfür musste die Verwaltung ihre Abläufe effektiver gestalten und flächendeckend eine schnelle und vor allem identitätssichernde Registrierung der Asylsuchenden etablieren.
Über das vorhandene IT-System zur Verteilung auf die Bundesländer (EASY-System) wurden 2015 knapp 1,1 Millionen Schutzsuchende registriert. Da das System aber keine personenbezogenen Daten speichert, waren Mehrfacherfassungen derselben Person möglich. Ein zentraler Datenpool sowie ein verbesserter Datenaustausch aller am Verfahren beteiligten Behörden wurden geschaffen.
Dabei ließ sich zunächst nicht ausschließen, dass die staatlichen Stellen Daten der in Deutschland ankommenden Asyl- und Schutzsuchenden mehrfach erhoben und speicherten. Ein Grund dafür lag darin, dass Asylsuchende mit mehreren Behörden auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene in Kontakt kamen. Die einzelnen Behörden aber verwenden IT-Anwendungen, die auf ihr Aufgabengebiet ausgerichtet und nur selten miteinander verbunden sind. Auch datenschutzrechtlich war eine eindeutige Identifizierung von Asylsuchenden nicht möglich, da die zuständigen Ämter Fingerabdrücke zum größten Teil nicht sofort erheben konnten, weshalb keine zentrale Speicherung und kein Abgleich der erhobenen Daten erfolgte. Damit einher gingen Risiken insbesondere in Bezug auf Datenqualität, Doppelidentitäten und Möglichkeiten des Leistungsmissbrauchs.
Deutlich verbesserte Transparenz
In dieser Situation waren alle an diesem Vorhaben beteiligten Akteure stark gefordert. So mussten sich IT-Experten und Dienstleister der unterschiedlichen Behörden schnell darüber einigen, was machbar und sinnvoll ist. "Da wir als IT-Dienstleister mit allen föderalen Ebenen des öffentlichen Sektors im Kontakt stehen, haben wir einen Austausch der Beteiligten untereinander angestoßen", berichtet Marc Reinhardt, Leiter Public Sector bei Capgemini Deutschland.
Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Länder beschlossen im September 2015 unter anderem, gemeinsam die weitere Digitalisierung des Asylverfahrens voranzutreiben. Der IT-Planungsrat als zentrales Gremium für die föderale Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der IT richtete in einer Sondersitzung am 30. November 2015 das Koordinierungsprojekt "Digitalisierung des Asylverfahrens zwischen Bund und Ländern" ein, um ein medienbruchfreies digitalisiertes Asylverfahren aufzubauen.
Im Rahmen des Projekts arbeiten Bund, Länder und Kommunen seitdem eng zusammen. Die Beteiligten tagen alle zwei Monate, Länder und Kommunen stimmen die fachlichen Anforderungen ab, die Konzeption und Umsetzung der technischen Lösungen findet beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), beim Bundesverwaltungsamt (BVA) und beim Bundeskriminalamt (BKA) statt - sämtlich Behörden des Bundesministeriums des Inneren.
Der ehemalige CIO der Bundesarbeitsagentur Klaus Vitt, inzwischen Staatssekretär im Bundesinnenministerium und Beauftragter der Bundesregierung für Informationstechnik, kommentiert das Ergebnis monatelanger Arbeit: "Mit der Digitalisierung des Asylverfahrens haben wir ein System eingeführt, das die Bearbeitungsdauer und den Bearbeitungsaufwand deutlich reduziert, die Transparenz verbessert, die Sicherheit erhöht und den Leistungsmissbrauch verhindert."
Innerhalb kürzester Zeit schuf die Regierung die gesetzliche Grundlage dafür. Am 5. Februar 2016 trat das Datenaustauschverbesserungsgesetz in Kraft. Unter anderem hat es dazu geführt, dass im Kerndatensystem schon von jeher zu speichernde Grundpersonalien wie Namen, Geburtsdatum und -ort sowie Staatsangehörigkeit durch neue Speichersachverhalte ergänzt werden, insbesondere um Fingerabdrücke. Auch wurden die Übermittlungsverpflichtungen an das Ausländerzentralregister (AZR) und die Ermächtigungen zum Abruf von Daten aus dem AZR erweitert.
Parallel zum Gesetzgebungsverfahren planten Bund, Länder und Kommunen in enger Zusammenarbeit die Umsetzung der Digitalisierung des Asylverfahrens. Sobald das Gesetz in Kraft trat, führte die Politik als ersten Schritt das "Integrierte Identitäts-Management" ein. André Schmode, Leiter des Koordinierungsprojekts im Bundesministerium des Innern, blickt stolz zurück: "Mit einem schnellen, vom Einigungswillen getragenen Gesetzgebungsverfahren schaffte die Regierung die notwendige Rechtsgrundlage, so dass die Behörden unverzüglich im Februar 2016 mit der Einführung des optimierten Verfahrens beginnen konnten."
Das integrierte Identitäts-Management setzt sich aus folgenden Kernbestandteilen zusammen:
1. Registrierung beim behördlichen Erstkontakt,
2. Speicherung der Daten im Kerndatensystem,
3. fälschungssicherer Ankunftsnachweis.
Mit diesem neuen Verfahren registrieren die Behörden alle "Kerndaten" der Asylsuchenden beim Erstkontakt, die unter anderem für die schnelle Integration und Arbeitsvermittlung bei bestehender Bleibeperspektive erforderlich sind. Dazu gehören Fingerabdrücke, das Herkunftsland, die Kontaktdaten zur schnellen Erreichbarkeit (Anschrift, Telefonnummern und E-Mail-Adressen, Angaben zur Verteilung) und Informationen zu Gesundheitsuntersuchungen und Impfungen, die nun in einem zentralen Kerndatensystem gespeichert sind und den berechtigten Behörden sofort zur Verfügung stehen.
Keine unnötigen Behördengänge
Das Kerndatensystem basiert auf bestehenden Komponenten insbesondere des Ausländerzentralregisters. Dieses betreibt das BVA, das die notwendigen Erweiterungen des Registers und die Schaffung neuer Schnittstellen für Einspeicherung und Abruf der Daten zeitnah bereitstellte. Durch die zentrale Speicherung der Fingerabdrücke im Kerndatensystem lässt sich überprüfen, ob eine Person bereits registriert wurde. Dadurch wird laut BAMF das Verwaltungshandeln effizienter, es lassen sich Mehrfacherfassungen vermeiden sowie Doppelidentitäten und Leistungsmissbrauch verhindern. Seit dem 1. November 2016 werden zudem eingespeicherte und geänderte Anschriften von Flüchtlingen automatisiert zwischen dem AZR und den Systemen der Meldebehörden ausgetauscht - somit Daten ohne Zeitverzug übermittelt und den Geflüchteten unnötige Behördengänge erspart.
Das integrierte Identitäts-Management erlaubt den behördlichen Stellen die biometriegestützte Identitätsabsicherung der Asylsuchenden vom ersten Kontaktpunkt an und eine Verknüpfung mit Folgesystemen. Gleichzeitig ist es für die Schutzsuchenden formale Voraussetzung für den Leistungsbezug und die Asylprozessbearbeitung, außerdem erleichtert es die erforderlichen Interaktionen mit Landesbehörden und Kommunen.
Eindeutige ID für Asylsuchende
Als Nachweis der Registrierung erhalten die Geflüchteten ein Papierdokument mit fälschungssicheren Elementen, den sogenannten Ankunftsnachweis. Um eine bessere Steuerung der Asylsuchenden im Bundesgebiet zu erreichen, gibt der Staat den Ankunftsnachweis nur in der Zielaufnahmeeinrichtung aus. Nur dort und nur mit diesem Ankunftsnachweis erhalten Asylsuchende die vollumfänglichen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. So will der Staat einen Anreiz schaffen, sich registrieren zu lassen.
Das Integrierte Identitäts-Management wurde von Mitte Januar bis Mitte Februar 2016 erfolgreich pilotiert und anschließend sukzessive in die Länder ausgerollt. Hierfür wurden die Aufnahmeeinrichtungen der Länder sowie die Außenstellen des BAMF mit "Personalisierungsinfrastruktur-Komponenten", kurz: PIK, ausgestattet. Es handelt sich um Erfassungsstationen mit Fingerabdruckscanner, Kamera, Passprüfgerät und Ausweisdrucker. PIKs ermöglichen die Registrierung der Asylsuchenden und die Ausstellung des Ankunftsnachweises.
Pilotprojekt in Baden-Württemberg
In Heidelberg fand der erste Testlauf statt, der die Ausgabeprozesse des Ankunftsnachweises für Flüchtlinge überprüfte. Ein Modellversuch testete die räumliche, personelle und zeitliche Bündelung zur zügigen Ersterfassung der Geflüchteten bis hin zur Asylantragstellung im zentralen Registrierungszentrum mit 5000 Unterbringungsplätzen. Heidelberg teilte hierfür die Asylsuchenden in vier Gruppen (Clusterung), abhängig von den voraussichtlich nötigen Verfahrensschritten. Weitere Bausteine des Modellverfahrens verringern den Zeitaufwand bei der Bearbeitung: Dolmetscher unterrichten Gruppen von Asylsuchenden in extra eingerichteten Räumen über ihre Rechte und Pflichten.
Alle Seiten profitierten davon, dass sämtliche Schritte des komplexen Verfahrens der Flüchtlingsaufnahme und -registrierung an einem Ort vereint sind: von der erkennungsdienstlichen Behandlung über die Gesundheitsuntersuchung bis hin zur Asylantragstellung und zum Asylbescheid. "Mit dem Konzept des Heidelberger Modells haben wir gemeinsam mit dem Bund die Aufnahme von Flüchtlingen optimiert", so Stefan Krebs, Beauftragter der Landesregierung für Informationstechnologie in Baden-Württemberg und einer der Sieger im Wettbewerb "CIO des Jahres 2016". Das Heidelberger Modell sei so erfolgreich, dass es Pate stehe für zahlreiche weitere Ankunftszentren, die bundesweit aufgebaut wurden.
1500 Registrierstationen in kurzer Zeit
Die bundesweite Einführung des Integrierten Identitäts-Managements konnte Ende Mai 2016 erfolgreich abgeschlossen werden. Damit steht nun die Infrastruktur für die frühzeitige und einheitliche Registrierung von Asylsuchenden flächendeckend zur Verfügung. "Der Ankunftsnachweis und das Kerndatensystem sind beispielhaft für behördliche Zusammenarbeit auf Bundes-, Landesebene und in Kommunen", erklärt Markus Richter, Abteilungsleiter Infrastruktur und IT im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Innerhalb weniger Monate baute das BAMF 1500 Registrierstationen in ganz Deutschland auf. Damit gestalte sich die Registrierung von Geflüchteten "deutlich effizienter und sicherer als früher". Das System sei Grundlage für die Digitalisierungsagenda des BAMF. Darin sind 28 IT-Projekte verankert, die die Kommunikation zwischen den beteiligten Behörden weiter vereinfachen.
Inzwischen registrierten die Behörden mittels dieser Infrastruktur etwa 182.000 Personen und stellten 155.000 Ankunftsnachweise aus (Stand 22. November 2016). Die Nachregistrierung der sich bereits in Deutschland aufhaltenden Asylsuchenden, die nicht sofort in das förmliche Asylverfahren eintreten konnten, ist abgeschlossen.
Ziel bürgerfreundliche Verwaltung
Bund, Länder und Kommunen beraten im nächsten Schritt gemeinsam über die weitere technische und organisatorische Umsetzung insbesondere zur Anbindung weiterer Behörden an das Kerndatensystem über standardisierte Schnittstellen. Zudem hat die Verwaltung mit der Entwicklung einer Gesamtdokumentation begonnen, mit der die Prozesse einer Flüchtlingserfassung von der Registrierung bis zur Integration beziehungsweise Rückkehr transparent gemacht werden. Beispiele hierfür sind die Informationen zur Lebenslage eines Geflüchteten, die für die schnelle Integration und Arbeitsvermittlung erforderlich sind (Daten über Schulbildung, Berufsausbildung, sonstige Qualifikationen).
Auf jeden Fall zieht Klaus Vitt jetzt schon ein positives Fazit: "Eines hat sich deutlich gezeigt: Bei der Digitalisierung der Asylverfahren sind Bund, Länder und Kommunen in der Zusammenarbeit einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Das zeigt, dass wir in einer Krisensituation sehr gut und sehr effizient zusammenarbeiten können. Diese Erfahrungen wollen wir nutzen, um auch in anderen Bereichen, wo es keine Krisensituation gibt, eine moderne und bürgerfreundliche Verwaltung zu schaffen."