Ein Plädoyer für die Standardsoftware

13.08.2002 von Horst Schneider
Die Diskussion ist so alt wie die Software: Soll ein Unternehmen seine Computerprogramme selbst entwickeln, oder ist es besser, auf standardisierte Programme, die der Markt anbietet, zurückzugreifen? Der Trend geht in Richtung Standardsoftware, da diese die üblichen Geschäftsprozesse immer besser abbildet.

Bei der Einführung neuer Business-Software stehen Unternehmen häufig vor der Frage, ob die bestehenden eigenentwickelten Systeme um neue Bausteine erweitert werden sollen oder ob es besser ist, auf Standardsoftware umzusteigen. Doch auch wenn die Entscheidung für Standardsoftware gefallen ist, haben Unternehmen noch zahlreiche Hürden zu überwinden - zumal Softwareprojekte eines gewissen Umfangs nie ohne Eingriffe in die eigenen Prozess- und Organisationsstrukturen ablaufen. Eine klar definierte IT-Strategie verleiht dem Management Sicherheit auf dem eingeschlagenen Weg und hilft, die nötige Akzeptanz bei den Mitarbeitern zu erzielen.

 

 

 

 

Das tayloristische Modell der Arbeitsorganisation mit seiner Zergliederung betrieblicher Abläufe in einzelne, kleine Arbeitsschritte ist nicht mehr aktuell. In der Betriebswirtschaftslehre herrscht Einigkeit, dass durchgängige abteilungsübergreifende Prozesse der bessere Ansatz sind. Das moderne Unternehmen sollte ein prozessorientiertes Unternehmen sein. So zumindest die Theorie. Dass diese Erkenntnis nicht leicht umzusetzen ist, hat seine Ursache unter anderem in den IT-Strukturen der Unternehmen: Uneinheitliche Systemlandschaften mit zahlreichen Insellösungen, die nur über nachträglich angelegte Schnittstellen aneinander gekoppelt sind, lassen durchgängige Prozesse kaum zu. Prozessorientierte Geschäftsprozesse stellen darüber hinaus erhöhte Anforderungen an Geschwindigkeit und Aktualität des Datenaustauschs zwischen den einzelnen Prozesselementen.

Dass diese Strukturen heute noch weit verbreitet sind, hat historische Gründe. So können heterogene Systemlandschaften beispielsweise das Resultat von Fusionen oder Übernahmen sein. Bei der regionalen Expansion war die lokale Hoheit über IT-Systeme und Prozesse in der Vergangenheit zudem häufig gewollt. Schließlich sollten landestypische Besonderheiten und Anforderungen optimal abgebildet werden, und zunächst einmal musste die Mannschaft vor Ort mit dem System zurechtkommen.

Zu den historischen Gründen kommen subjektive Faktoren: Vorlieben und Gewohnheiten von IT-Abteilungen sowie die Bevorzugung bestimmter Software- und Hardwareplattformen. Lange Zeit bestand auch kein akuter Handlungsbedarf. Solange keine durchgängigen Geschäftsprozesse erforderlich oder gewünscht waren, bereitete die Uneinheitlichkeit der IT-Systeme keine Probleme. Die Globalisierung der Kunden- und Lieferantenbeziehungen, der steigende Konkurrenzdruck und die Notwendigkeit zur Verbesserung der Rentabilität zwingen jedoch viele Unternehmen, ihre Strategie zu überdenken und die IT-Landschaft im Unternehmen zu vereinheitlichen. Die Geschäftsprozesse sind die Quelle fast aller im Unternehmen gespeicherten und maschinell auswertbaren Daten. Die Umformung dieser Daten zu global gültigen entscheidungsrelevanten Informationen lässt sich nur mit Hilfe konzernweit einheitlicher Standards bewerkstelligen.

Ein Unternehmen, das sich für Standardsoftware entscheidet, tut sich bei der Vereinheitlichung seiner IT-Systeme in der Regel leichter. Welches Unternehmen hat schon die Ressourcen, eine Software selbst zu entwickeln, die weltweit eingesetzt werden kann? Stellvertretend für die umfangreichen Aufgaben bei der Entwicklung einer solchen Software sei hier nur auf das Problem der Übersetzung in unterschiedliche Sprachen hingewiesen.

Zudem sind Eigenentwicklungen nur zum Zeitpunkt der Konzipierung aktuell. Bei umfangreichen Projekten, die sich über mehrere Jahre hinziehen, ist die Software zum Zeitpunkt der Fertigstellung oft schon nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik und der betriebswirtschaftlichen Erkenntnis. Standardsoftware dagegen wird laufend weiterentwickelt und lässt sich vergleichsweise leicht durch das Einspielen neuer Releases aktualisieren. Außerdem fließen in die Entwicklung von Standardsoftware in Form von Best Practices die Erfahrungen unzähliger Unternehmen ein, welche die Software einsetzen oder mit dem Hersteller in Form von Entwicklungspartnerschaften kooperieren.

Jedes Unternehmen muss sich also die Frage stellen, ob es langfristig die Softwareentwicklung zu seinen Kernkompetenzen zählen will oder ob es diese Aufgabe nicht besser Spezialisten überlassen sollte. Standardsoftware ist heutzutage so variabel, dass man die meisten Wünsche ohne Modifikation des Standards realisieren kann. Kundenindividuelle Anforderungen lassen sich beispielsweise mit Hilfe von User-Exits umsetzen. Das sind vom Hersteller definierte Punkte innerhalb der Software, an denen selbst geschriebene Programmteile in den Ablauf eingebunden werden können. So lassen sich Standardfunktionen ergänzen oder ersetzen, ohne dass spätere Release-Wechsel allzu sehr erschwert werden.

Anstatt sämtliche Geschäftsprozesse in jeder Gesellschaft eines Konzerns einzeln zu bestimmen, ist es einfacher, zumindest die Kernprozesse nur einmal zu definieren und dann konzernweit auszurollen. Dafür zu sorgen, dass die lokalen Verantwortlichen bei diesem Rollout nicht überrollt werden, ist Aufgabe des Managements. Hierbei können Strategieberater effizient helfen - zum Beispiel, wenn es darum geht, Bedenken auszuräumen und Widerstände zu überwinden. In den seltensten Fällen stoßen Management und Berater von Beginn an auf allseitige Unterstützung ihrer Strategie: Lokale IT-Führungskräfte haben Angst, entmachtet zu werden, die Manager fürchten, dass einheitliche Strukturen Fehler aufdecken, weil durch gemeinsame Prozesse und Daten die Gesellschaften für die Zentrale transparenter und vergleichbarer werden. Ein guter Strategieberater holt deshalb nicht nur Befürworter, sondern auch Kritiker der zu implementierenden

Lösung in sein Team. Er stellt sich den unbequemen Fragen, schreckt aber auch nicht davor zurück, Schwachstellen und konzeptionelle Mängel aufzuzeigen, die ihm von seinem neutralen Blickwinkel auf das Unternehmen auffallen.

Neben den Meinungsbildnern sollten auch Vertreter der späteren Anwender aus den Fachabteilungen frühzeitig die Gelegenheit haben, ihre Wünsche an die neue Software zu äußern. Die Aufklärung und Schulung der Multiplikatoren noch vor Beginn der Implementierung ist einer der wichtigsten Beiträge zum Gelingen eines Softwareprojekts, denn sind die künftigen Anwender nicht von der neuen Lösung überzeugt, nutzen sie die Software nicht optimal und verschenken Wertschöpfungspotenzial. Jede Software hat ihre eigene Philosophie. Von den Mitarbeitern wird daher ein mehr oder minder starkes Umdenken gefordert. Dass Geschäfte künftig anders abgewickelt werden, ist jedoch nicht der unangenehme Nebeneffekt neuer Software, sondern Ergebnis einer bewussten Management-Entscheidung. Es wird ja gewünscht, dass das

Unternehmen anders arbeitet als es in der Vergangenheit. Untersuchungen haben ergeben, dass IT-Projekte dann erfolgreich sind, wenn die Beteiligten begriffen haben, dass es nicht damit getan ist, eine Software durch eine andere zu ersetzen, sondern dass ein solches Projekt auch immer einen Umdenkprozess im Unternehmen bedeutet. Dieser Umdenkprozess muss von internen und externen Beratern begleitet werden.

Strategien definieren - und begründen

Bedenkenträger lassen sich in der Regel überzeugen, wenn ihnen der Zusammenhang zwischen der neuen IT-Strategie und der Unternehmensstrategie aufgezeigt wird. Am Anfang jeder Strategieberatung steht daher die Aufnahme der Unternehmensstrategie. Nur wenn bekannt ist, welche Vision das Unternehmen hat und wie es künftig Geschäfte abwickeln will, kann festgelegt werden, was die IT leisten muss, um diese Strategie zu unterstützen. Es folgt ein Soll-Ist-Vergleich, im Zuge dessen ermittelt wird, wo die bestehende IT-Strategie Lücken aufweist und wo Änderungsbedarf besteht. Die konzernweite Hardwarestruktur muss ebenfalls bewertet und auf ihre Tauglichkeit für die IT-Strategie geprüft werden. In einem Business Case wird der Nutzen der zu implementierenden Lösung aufgezeigt und konkret beziffert. Der Business Case zeigt auch, ob es sich lohnt, fehlende Funktionen selbst zu entwickeln, oder ob es besser ist, auf ein Update des Softwareherstellers zu warten. Bei

internationalen Projekten kann für jedes betroffene Land ein eigener Business Case erstellt werden. So werden regionale Eigenheiten ausreichend berücksichtigt. Gleichzeitig dient der Business Case zur Kommunikation des Nutzens an das Management der Landesgesellschaften.

Definition Business Case: Neben einer Kosten-/Nutzenanalyse muss in jedem Projekt auch eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung erfolgen.

Erst wenn die grundsätzliche Marschrichtung feststeht, sollte sich das Team den einzelnen Geschäftsprozessen zuwenden: Es analysiert die Prozesse im Altsystem, klopft sie auf Schwachstellen wie Medienbrüche und unnötige manuelle Schritte ab, prüft, ob sie den Best Practices entsprechen, und ermittelt anschließend den Handlungsbedarf auf Prozessebene. Den vollständigen Umfang einer IT-Strategieberatung zeigt die nebenstehende Grafik. Sind die zeitlichen oder finanziellen Ressourcen des Kunden begrenzt, kann der Umfang reduziert werden. Oft sind einzelne Aspekte der IT-Strategie schon gut ausgearbeitet. Sie werden von den Beratern lediglich kurz evaluiert und dann in die Gesamtstrategie eingebettet. Außerdem lassen sich in vielen Fällen Standardvorgehensweisen anstelle individueller Lösungen nutzen - der Vorteil der Best Practices. Wichtig dabei ist, dass sämtliche Maßnahmen ganzheitlich und im Gesamtzusammenhang der Geschäftsstrategie gesehen

werden.

Die Definition der Geschäftsstrategie ist die gemeinsame Aufgabe von Management und Unternehmensberatern. Die IT-Strategieberatung liefert gewissermaßen die Straßenkarte, stellt die Wegweiser auf, schlägt Fahrzeugtypen vor und führt das Fahrertraining durch. Mit anderen Worten, sie sorgt dafür, dass das Ziel sicher und ohne Umwege erreicht wird. Dies kann sie nur, wenn sie Ziel und Route mit dem Auftraggeber abgestimmt hat, das heißt, wenn unternehmerische Vision, Geschäftsstrategie und IT-Strategie vorab genau herausgearbeitet wurden. Voraussetzung ist ferner, dass das Management hinter dem Projekt steht und Mitarbeiter die Neuerungen samt den notwendigen Änderungen akzeptieren.