Work-Life-Balance

Ein Plädoyer für den Feierabend

26.02.2014 von Ferdinand Knauß
Glücklich ist, wer sich im Beruf selbst verwirklichen kann. Alle anderen Menschen brauchen die Trennung von Arbeit und Leben. Und Arbeitgeber müssen das akzeptieren.

Thomas Vašek ist sicher ein glücklicher Mensch. Und er lässt die Welt an diesem Glück teilhaben: "Ich liebe meine Arbeit", lautet der erste Satz seines aktuellen Buches. Es heißt "Work-Life-Bullshit" und die These steht im Untertitel: "Warum die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre führt."

In diesem Werk teilt uns Vašek, der als Chefredakteur eines Philosophiemagazins seinen Lebensunterhalt verdient, nicht ganz uneitel mit, dass er "gar nicht viel anderes tue" als zu arbeiten und "dennoch weder krank, noch erschöpft" sei und daher das "Gejammer über die Zumutungen der Arbeit" nicht mehr hören könne.

Sind die vielen arbeitsbedingt psychisch Kranken also nur Hypochonder und Jammerlappen? Führt das Bedürfnis nach Freizeit und nach der Trennung von Arbeit und Leben tatsächlich in die Irre? Ist das Geheimnis des Glücks, die Arbeit ganz einfach zum Lebensinhalt zu machen?

Zunächst einmal muss man fragen, was "Arbeit" ist. Der Philosoph Vašek gibt darauf keine befriedigende Antwort. Er scheint nicht zu merken, dass das, was er pausenlos tut, kaum mit demselben Arbeitsbegriff zu fassen ist wie das, was eine Kassiererin oder ein Bankkaufmann tut. Und daher ist sein Buch mit 275 Seiten trotz aller aufgehäuften Gelehrsamkeit selbst ziemlicher Bullshit.

In der freien Natur ...
... erholen sich die meisten CIOs hierzulande gern. Aber auch Heimwerken, Bonsaizüchten oder Gärtnern steht bei den IT-Profis nach der Arbeit auf dem Programm.
Es grünt so grün
... bei Horst Westerfeld. Der ehemalige CIO des Landes Hessen ist begeisterter Gärtner und freut sich über die frische Ernte auf seinem Tisch.
Sönke Vetsch
... hat sein Hobby auch im Büro um sich: Der ehemalige CIO der Börse Stuttgart liebt Bonsais.
Auf zwei Rädern
... verbringt der ehemalige EBZ-CIO Markus Kapler (hier mit Team, obere Reihe, 2.v.re.) seine Freizeit. Wahlweise mit dem Rad oder mit dem Motorrad.
Von Entspannung
... kann bei Leo Hintersteiner, CIO bei Wittur Austria, in seiner Freizeit keine Rede sein. Der begeisterte Triathlet ist für die Ironman Weltmeisterschaft Hawaii 2013 nominiert!
Heimwerken
...leistet bei Able-CIO Christoph Grewe-Franze ebenso gute Dienste zum Entspannen wie Spaziergänge mit seinem Hund.
Der CIO des Jahres 2012
... war Thomas Noth von der Talanx AG. Er entspannt sich gerne im Kreis seiner Familie oder fährt Oldtimer.
Musik
... ist für Klaus Höffgen, CIO bei der Delvag Luftfahrtversicherung, das allerbeste zum Abschalten.
Hoch hinaus
... treibt es Volker Dirksen, CIO bei Springer. Er geht gerne bergsteigen, 2011 hat er z.B. den Annapurna in Nepal umrundet.
Michael Kollig, heute bei T-Systems,
... räumte 2012 beim 'CIO des Jahres' groß ab: Als CIO von Danone war er Gewinner des Global Exchange Awards und Dritter bei den Großunternehmen. Und trotzdem bleibt noch Zeit für Familie und Golfen.
BRITA-CIO Frank Nittka
... ist gerne sportlich unterwegs: Mountainbiken, Ski/Snowboard, Laufen und Tennis zählen zu seinen Hobbys. Aber er trifft sich auch einfach gerne mit guten Freunden.
ProSiebenSat1-CIO
... Andreas König engagiert sich als Business Angel und geht gerne golfen mit der Familie.
In der Ruhe liegt die Kraft
Deshalb geht Thorsten Pawelczyk, CIO bei Tönsmeier, gerne zum Yoga.
Der Mittelstandsgewinner 'CIO des Jahres 2012'
... entspannt sich am liebsten in der freien Natur. Aber auch Musik steht bei Bernd Kuntze von Haas Food Equipment ganz hoch im Kurs.
Golfen
... und Joggen sind die beiden Sportarten, bei denen Johnson Controls-Automotive-CIO Volker Raupach gut abschalten kann.
Dietmar Schlößer
... ist CIO bei Deloitte. Davon erholt er sich gerne mit seiner Familie, aber auch Rudern und Laufen stehen auf dem Freizeitprogramm.
Rehau-CIO Thomas Schott
... zieht's in die Berge: Er ist gerne mit dem Mountainbike in großen Höhen unterwegs.
Viel frische Luft
... bevorzugt der CIO der Bundesagentur für Arbeit, Klaus Vitt. Er geht gerne in seiner Freizeit wandern und radfahren.
Christian Mezler-Andelberg
... CIO bei Magna Steyr setzt in seiner Freizeit eindeutige Prioritäten: seine Familie. Und ab und zu noch mal ein gutes Buch.
Sebastian Saxe, CIO bei Hamburg Port Authority
... entspannt sich gerne mit einen guten Buch, geht aber auch gerne Wandern und auf Reisen.
Jochen Schneider, Ex-CIO
... der Zürcher Kantonalbank ist ein großer Fan von Ausdauersportarten. Joggen, Schwimmen, Rennrad fahren: Hauptsache, draußen unterwegs.

Der amerikanische Soziologe Richard Florida hat sehr schön beschrieben, wie Künstler, Musiker, Wissenschaftler, Autoren - also Leute wie Vasek - sich nie zwingen lassen und dennoch fast immer mit Kunst, Musik oder Wissenschaft befasst sind, ohne das als Mühsal zu empfinden. Wie sich "Arbeit" und Spiel bei ihnen verwischen, weil sie viel Zeit für intensive Konzentration in Einsamkeit brauchen. Und dazwischen Phasen, in denen sie scheinbar nichts tun, während in ihren Köpfen neue Werke heranreifen. Ein Controller würde das, was Vašek oder Florida tun, nicht "Arbeit" nennen. Und er hätte damit Recht.

Wer seine leidenschaftlichen Interessen ausleben und davon leben kann, und das noch weitgehend selbstverantwortlich und ungebunden, der wird nie ausbrennen. Der hat selbstverständlich auch kein Bedürfnis nach Grenzen für seinen Beruf. Natürlich ist so ein Mensch immun gegen Burnout und andere arbeitsbedingte Krankheiten. Thomas Vašek und Richard Florida können auf die Work-Life-Balance pfeifen, weil für sie Lebensinhalt und Erwerbstätigkeit identisch sind. Happy few!

Arbeit ist etwas anderes. Etymologisch kommt das Wort vom lateinischen "arvum", dem Ackerland, und im Mittelhochdeutschen war es gleichbedeutend mit Mühsal. Der Philosoph Otfried Höffe definiert Arbeit als "Tätigkeit des Menschen in Abhängigkeit von Natur und natürlicher Bedürftigkeit zum Zweck der Lebensunterhaltung und -verbesserung." Oder wie es in der Bibel heißt: "Im Schweiße Deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen."

Glück ist nicht der Daseinszweck von Unternehmen

Karriere-Berater und wichtigtuerische Sachbuchautoren wollen uns nun einreden, dass wir nicht schwitzen müssen. Dass für jeden Menschen irgendwo der Traumjob wartet, eine Karriere, die die totale Erfüllung bedeutet. Sie stellen uns dann gerne Menschen vor, die sich erfolgreich selbständig gemacht haben. "Hört auf zu arbeiten" von Anja Förster und Peter Kreutz ist so ein Buch.

Natürlich sollte jeder Mensch mit kreativen Ambitionen versuchen, sie auszuleben. Und jedem Menschen ist zu wünschen, dass er mit seinen Interessen und Leidenschaften seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Aber die Selbstverwirklichungsapostel blenden aus, dass sehr viele Menschen mit diesem Ziel scheitern, oder von vornherein gar keine Chance haben, es zu erreichen. Wenn Förster und Kreutz den Leser auffordern, dass zu tun, "was Ihnen viel mehr entspricht, nämlich das, was Sie tun würden, wenn Sie die Haltung eines Künstlers einnehmen würden!", dann unterstellen sie, dass es für dieses Tun auch eine ökonomische Umsetzung gibt. Schön wär's. Aber nicht jeder hat das Glück des Thomas Vašek.

Auch viele Angehörige der von Richard Florida besungenen "kreativen Klasse" können nicht von ihrer Kreativität leben. Ich kenne eine Schriftstellerin, sogar eine recht erfolgreiche. Sie hat zwölf Romane bei angesehenen Verlagen veröffentlicht, mehrere Preise gewonnen. Und doch musste sie lange Jahre als Lehrerin arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Schriftstellerei war und ist für sie keine Arbeit, es ist ihr Leben. Die Arbeit als Lehrerin war nicht ihr Leben. Und gerade darum hat sie immer dafür gesorgt, dass diese begrenzt blieb, um Zeit fürs Schreiben frei zu halten.

Der Daseinszweck von Wirtschaftsunternehmen ist nicht das vollkommene Glück ihrer Angestellten, sondern finanzieller Gewinn durch die Produktion von rentablen Waren oder Dienstleistungen. Auch wenn uns mancher Buchautor das Gegenteil einredet. Will man wirklich dem Produktmanager, dem Monteur am Fließband, der Sachbearbeiterin empfehlen, sie sollen entweder ihre Arbeit zum Lebensinhalt erklären oder damit aufhören und "die Haltung eines Künstlers einnehmen"?

Die meisten Menschen müssen sich wohl oder übel damit zufrieden geben, einen Beruf auszuüben, der möglichst angemessene Bezahlung und soziales Ansehen einbringt. Einen Beruf, in dem sie sich einigermaßen wohlfühlen, weil sie ihn für einigermaßen sinnvoll halten und ihre Begabungen einigermaßen anwenden können.

"Dead Man Working"

Ihr Lebensglück aber finden die meisten Menschen nicht in der Tätigkeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen (müssen). Sonst wären die Fußballstadien nicht so voll. Sport und andere Hobbies sind mentale Fluchten für Menschen, die das Glück außerhalb der Arbeit suchen (müssen). Diese Menschen haben ein verständliches Bedürfnis nach einem vor ökonomischen Zwängen geschützten Rückzugsraum, nach einem Leben jenseits der Arbeit, das sie selbstbestimmt ihren Interessen und Leidenschaften widmen können, ohne dauernd mit einem Anruf der Chefin rechnen zu müssen.

Nur die wenigen Glücklichen, die vollkommen in ihrem Beruf aufgehen, werden dazu neigen, die Grenzen zwischen Arbeit und Leben aufzulösen. Wenn aber diese Entgrenzung von außen aufgezwungen wird, dann ist das Ergebnis der "Dead Man Working", den Carl Cederström und Peter Fleming in ihrem gleichnamigen Buch beschreiben: Ein Mensch, der das "Gefühl des Nicht-Lebens" bekommt. Ein Mensch, der seinen Job nicht mehr nur ausübt, sondern wider seine Natur gezwungen ist, dieser Job zu sein. Ein unglücklicher, erschöpfter, vielleicht sogar kranker Mensch. Und kein produktiver Arbeitnehmer.

Zielsicher in die Katastrophe
Viele Menschen steuern - bewusst oder weniger bewußt - über Jahre hinweg zielsicher auf den Burnout zu. Werden konsequent die häufigsten 13 Fehler gemacht, ist früher oder später der Burnout garantiert!
Allzeit bereit!
Bei Ihrem Job werden "flexible" Arbeitszeiten und Überstunden als selbstverständlich erwartet, auch Reisetätigkeiten, wechselnde Arbeitsplätze, internationale Zusammenarbeit über mehrere Zeitzonen hinweg und Erreichbarkeit 24 Stunden an sieben Tagen per Blackberry, Handy & Co.
Brennen für den Job
Ihre Tätigkeit begeistert Sie, Überstunden stören Sie nicht. Sie stehen für Flexibilität, Schnelligkeit und höchste Qualitätsansprüche. Das Team, der Chef, der Auftraggeber und alle anderen können sich stets auf Sie verlassen. Sie sind ehrgeizig, der nächste Schritt zum Projekt-Manager, Team- oder Abteilungsleiter winkt und fordert vollen Einsatz auf gleichbleibend hohem Niveau. Brennen Sie für Ihre Aufgaben, das Projekt, Ihr Team, Ihr Unternehmen - bis Sie ausgebrannt sind.
Entspannen? Was ist das?
Signale wie anhaltende Müdigkeit, Unkonzentriertheit, Leistungsabfall, Schlafstörungen sowie die Unfähigkeit abzuschalten und aufzutanken, ignorieren Sie. Bedienen Sie sich bei auftretenden Zipperlein großzügig an Produkten der Pharmaindustrie.
Nur nicht wütend werden
Kümmern Sie sich auf keinen Fall um Ihre Gefühle. Wut, Ärger, Ängste, das Gefühl von Überforderung oder ständiger Gehetztheit ignorieren Sie, ebenso wie das Schwinden Ihrer Lebensfreude, zunehmende Teilnahmslosigkeit, Sinn- und Lustlosigkeit und Depressionen. Bei zunehmendem Leeregefühl lösen Sie sich von der Idee, dass Arbeit Sie innerlich erfüllen könnte.
Immer schön fleißig sein!
Ineffektiv verbrachte Arbeitszeit kompensieren Sie mit Mehrarbeit. Das vertreibt auch die Langeweile am Wochenende und im Urlaub. Sind Sie Freiberufler, verzichten Sie ganz auf Urlaub. Sie müssen die Aufträge abarbeiten, oder das Geld reicht nicht. Machen Sie möglichst mehrere Dinge gleichzeitig, um Zeit zu sparen. Sagen Sie "Ja" zu jeder neuen Aufgabe.
Verzweifelt? Sie doch nicht!
Machen Sie sich unentbehrlich. Auch wenn es unmöglich ist und Sie der Verzweiflung nah sind, versuchen Sie, möglichst alle Erwartungen von Teamkollegen, Auftraggebern, internen und externen Projektmitarbeitern, Vorgesetzten und Ihrer Familie und Freunde zu erfüllen. Am besten übertreffen Sie noch deren Erwartungen.
Warnsignale?
Verwerfen Sie sämtliche Warnungen, Vorhaltungen, Vorwürfe, Bitten und Sorgen von Ihrer/m Partner/in, Angehörigen oder Kollegen. Ihre Ausreden sollten wasserdicht sein: "Nach diesem Projekt wird alles besser" oder "nur noch dieser Fall". Oder: "Die Umstände/der Vorgesetzte/der Auftraggeber zwingen mich dazu, ich habe keine Wahl."
Im Hamsterrad
Hämmern Sie sich und anderen ein, es geht nicht anders, in Ihrem Job jedenfalls nicht. Wenden Sie sich dennoch auf Drängen anderer an eine professionelle Beratung, werden Sie es sicher verstehen, die Sinnlosigkeit dieser Maßnahme unter Beweis zu stellen.
Nur nicht drüber reden!
Gehen Sie auf Distanz zu Menschen, zu denen erstaunlicherweise noch Kontakt besteht. Als Eigenbrötler können Sie leichter die Fassade wahren. Sagen Sie niemandem, wie es Ihnen geht. Gemeinsame Mittags- und Kaffeepausen mit Kollegen sind zeitlich unmöglich, die Zeit mit der Familie wird immer knapper.
Jede Minute zählt - zum Arbeiten.
Streichen Sie sämtliche Hobbys einschließlich sportlicher Betätigungen. Falls Sie doch noch ein Privatleben haben, gestalten Sie die Terminplanung zwischen ihm und dem Job noch engmaschiger, nutzen Sie jede freie Minute.
Gesund leben? Maßlos überschätzt!
Gesundes Essen wird als Zeitkiller abgeschafft zugunsten von Fast Food und belegten Semmeln. Damit Sie überhaupt entspannen und von Ängsten und anderen unangenehmen Gefühlen abschalten können, gönnen Sie sich regelmäßig abends etwas Alkoholisches.
Perfektion, Perfektion, Perfektion
Seien Sie nie zufrieden mit Ihren Ergebnissen, auch wenn andere begeistert sind. Sie sind Ihr strengster Kritiker. Weniger als perfekt kommt für Sie nicht in Frage. Stecken Sie sich zusätzliche Ziele. Erlernen Sie eine Fremdsprache, machen Sie eine berufsbegleitende Ausbildung und laufen Sie Marathon.
Probleme? Ach was!
Lösen Sie keine Konflikte und Probleme grundlegend. Schieben Sie alles vor sich her, damit der Berg von Unerledigtem immer höher wird.
Ein Ausstieg ist möglich!
Falls Sie sich in unserem Text zu stark wiedererkennen, steiegen Sie aus! Je früher, desto besser. Gehen Sie zum Arzt, ändern Sie Ihre Lebensweise, solange es noch früh genug ist. Das raten Ihnen Ruth Hellmich, Rechtsanwältin und Geschäftsführerin von CoachingTraining.

Bei der Rheinbahn in Düsseldorf hat man das begriffen. Auf Werbeplakaten präsentiert die städtische Verkehrsgesellschaft ihre Mitarbeiter nicht bei der Arbeit, sondern bei ihren Hobbies. Ein Handballtorwart ist da zu sehen, eine Trommlerin, ein Langstreckenläufer im Neandertal und ein Mann, der seine Freizeit am liebsten im Indianerkostüm verbringt. Die Botschaft der Kampagne: Wir wissen, dass die Firma einen Anspruch auf die Arbeitskraft ihrer Beschäftigten hat, aber nicht auf den ganzen Menschen. Das dürfte bei Arbeitnehmern sehr viel besser ankommen als Teambuilding-Events oder ein Betriebsfest in der schönsten Feierabendzeit.

Die "Wertschätzung", von der Personalmanager neuerdings so viel reden, zeigt sich nicht durch den Kickertisch im Pausenraum, sondern im Respekt für das Bedürfnis nach einem Leben jenseits der Erwerbsarbeit.

Quelle: Wirtschaftswoche