Die Kluft zwischen Hochschulausbildung und Praxis ist zu groß

Ein Jahr besteht aus sechs Monaten: Die eigenen Gesetze der IT-Branche

19.11.1998
Von Winfried Gertz* Die Hochschulen müssen sich ändern, sonst verpassen sie den Anschluß an die Marktentwicklung. Daß mehr Praxis in die Ausbildung einziehen sollte, darüber herrschte auf einer von der COMPUTERWOCHE in München veranstalteten Podiumsdiskussion Einvernehmen.

"Ich habe mein Studium nicht abgeschlossen", gibt Olaf Götz freimütig zu. Der Geschäftsführer und Gründer der Dortmunder Gonet GmbH hatte schon zehn Leute auf seiner Gehaltsliste, während seine Kommilitonen noch brav in die Informatikseminare gingen. Wer heute allerdings Grundlagen und Anwendungen von Bits und Bytes studiert, muß nicht unbedingt seinen eigenen Laden aufmachen. Rudolf Haggenmüller, Geschäftsführer des Münchner Forschungsinstituts für Angewandte Software-Technologie FAST: "Jeder Absolvent kann sich die Rosinen aus zahlreichen Jobangeboten herauspicken."

Bis zu 100000 Arbeitsplätze haben Unternehmen in diesem Jahr für IT-Profis eingerichtet, konnten aber nur einen Bruchteil davon besetzen. Dabei treibt der Run auf die "Glücksritter mit IT-Diplom" seltsame Blüten: Auf der einen Seite kungeln Absolventen mit minimaler Praxiserfahrung auf Kongressen um den am höchsten dotierten Karrierestart, auf der anderen Seite lotsen Hersteller gerade eingestiegene Young Professionals mit satten Aufschlägen von den Anwendern weg.

Daß Hochschüler so begehrt sind, stimmt verwunderlich, wird doch bei jeder Gelegenheit auf die zunehmende Bedeutung der fachlich ungebundenen Schlüsselqualifikationen hingewiesen. Vor allem die Wirtschaft beklagt bei angehenden Informatikern einen Mangel an Team- und Kommunikationsfähigkeit sowie an Durchsetzungsvermögen. Nur wenige Hochschulen wie die Universität Saarbrücken ziehen Konsequenzen und versorgen ihre Eleven mit dem notwendigen Rüstzeug. Hochschullehrer und Software-Unternehmer August Scheer: "Damit sie in Beratungsprojekten nicht dumm aus der Wäsche gucken, lernen unsere Studenten samstags Rhetorik, Kommunikation und Teamarbeit."

Überhaupt müsse sich die Universität in den Augen der Ex- perten mehr um ihre Kunden kümmern. Weder wüßten die Hochschulen, wer ihre Studenten seien, noch welchen Weg sie nach ihrem Abschluß beschritten. Ob jedoch Alumni-Clubs wie in Großbritannien aus der Misere helfen oder, wie von Informatiker Ulrich Bode vorgeschlagen, ein an Studentenzahlen gekoppelter Mittelzufluß, mag dahingestellt bleiben. Nur eine "radikale" Veränderung der Hochschullandschaft, so Scheer, könne etwas bewegen.

Interessante Einblicke in die Praxis der Multimedia-Branche gewährte Georg Unbehaun, Geschäftsführer eines Münchner Dienstleistungsunternehmens. "Soziale Kompetenzen wie eigenverantwortliches Handeln und Qualitätsbewußtsein sind ungeheuer wichtig für unsere Arbeit." Gute Noten sagen wenig aus, so Unbehaun. Heute könne niemand mehr erwarten, daß Aufgaben solide abgearbeitet würden. Das meiste gehe "on the fly" über die Bühne: "Die Herausforderung besteht darin, den kreativen Spieltrieb von Informatikern in betriebswirtschaftlichen Erfolg umzumünzen."

Wer sich immer wieder in neue Aufgaben einarbeiten muß - dies betrifft insbesondere hochqualifizierte Beschäftigte in den modernen Branchen -, kommt am lebenslangen Lernen nicht vorbei. Dazu Bode: "Die Verschränkung von Arbeit und Lernen ist eine Realität, auf die Universitäten nicht hinlänglich vorbereiten." Das von den Hochschulen favorisierte Lernen auf Vorrat vergrößere nur die Kluft zwischen Ausbildung und Praxis, schloß sich Scheer an. So sei es auch kein Wunder, daß viele Professoren mit Begriffen wie Enterprise Resource Planning (ERP) oder SAP nichts anfangen könnten.

Was sollte sich ein Student also zu Herzen nehmen, um sich rechtzeitig für den Start ins Berufsleben fit zu machen? Haggenmüller: "Schlüsselqualifikationen sind langfristig wichtiger als technische Kompetenzen." Wer sich frühzeitig in der Praxis tummelt, werde später von diesen Erfahrungen profitieren, meinen auch Götz und Bode. Bereits während des Studiums für eine Firma zu programmieren oder anderen Tätigkeiten nachzugehen zeige Entschlußkraft und Flexibilität. Weil Informatiker sich in Zukunft immer mehr mit Inhalten auseinandersetzen müssen, könnte ein Studium mit exotischen Nebenfächern überhaupt nicht schaden, rät Scheer. Auch Geistes- und Sozialwissenschaftler hätten gute Karten im Jobpoker.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.