Industrie 4.0

Die vierte industrielle Revolution kommt smart daher

21.03.2013 von Ima Buxton
Die deutsche Industrie sucht Antworten auf den zunehmenden Wettbewerb an den internationalen Märkten. Derzeit ruhen ihre Hoffnungen auf Konzepten, die Produktion übers Internet zu steuern. Organisationen und Experten erwarten davon nicht weniger als eine Revolution in den Produktionshallen.
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Auf der Produktionsstraße eines Automobilherstellers nähern sich zwei Karosserien einer Montagestation. Das erste Modell wird einmal die Limousine eines Mittelklassewagens, darauf folgt die Cabrio-Version desselben Modells. Die beiden Fahrzeuge müssen natürlich unterschiedliche Dachaufbauten erhalten, was die jeweiligen Karosserien dank ihres eingebetteten Systems „wissen“. Diese geben die Information drahtlos an die gleichfalls mit einem Mikrochip ausgestattete Montagestation weiter, die nun in der Lage ist, beide Autos richtig zusammenzubauen. An einer der folgenden Stationen baut ein Mitarbeiter das vom jeweiligen Kunden angeforderte Radio ein – genau genommen baut er in beide Fahrzeuge ein- und dasselbe Radio ein: Der gewünschte Radiotyp ist dabei lediglich eine Frage der Software-Konfiguration. Das Radio liest die erforderlichen Einstellungen für die Aktivierung bestimmter Komponenten aus einem Chip an der Transportpalette ab und konfiguriert sich anschließend selbst.

Völlig neue Produktionslogik

Wir befinden uns mit diesem Szenario in einer Smart Factory, in einer Produktionsanlage wie sie künftig in Deutschland vielerorts zu finden sein dürfte. In der Smart Factory herrscht eine völlig neue Produktionslogik: Bauteile und Werkzeuge sind mit Mikrochips ausgestattet, über die sie drahtlos untereinander und mit dem Internet vernetzt sind. Sie bilden die Basis für so genannte cyber-physikalische Systeme (CPS) mit intelligenten Maschinen, Lagersystemen und Betriebsmitteln, die eigenständig Informationen austauschen und Aktionen auslösen können. „Bei cyber-physikalischen Systemen befindet sich ein gewisser Wissensanteil auf der Produktionsanlage“ erklärt Reiner Bildmayer, Senior Process Architect im Bereich SAP Research. „Auf diese Weise können industrielle Prozesse in der Produktion deutlich effizienter und flexibler gestaltet werden.“

Die Smart Factory steht als Inbegriff für einen tiefgreifenden Wandel, der in Wirtschaft und Forschung derzeit unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ weithin Beachtung findet. Auslöser für diese Entwicklung sind veränderte Marktgegebenheiten, die den Unternehmen neuartige konzeptionelle wie technologische Antworten abverlangen. So konnte sich die deutsche Industrie in den vergangenen Jahren am hart umkämpften internationalen Markt zwar gut behaupten. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) stufte die industrielle Standortqualität der Bundesrepublik im globalen Vergleich erst jüngst auf den fünften Rang ein. Doch die Konkurrenten aus Asien setzen die heimischen Produzenten weiter unter Druck. Längst bauen die Unternehmen jener Länder nicht mehr alleine auf ein niedriges Lohnniveau, sondern versuchen mithilfe von Bildung und Innovationen den Anschluss an die westlichen Industrienationen zu finden.

Nachgefragt

Die Smart Factory ist mobil

Mobile Szenarien werden auch in der Produktion immer beliebter. Sie machen den Produktionsprozess nicht nur einfacher und effizienter, sondern sind geradezu Voraussetzung für die „Smart Factory“, meint Reiner Bildmayer von SAP.
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Werden mobile Szenarien künftig auch in der Produktion eine Rolle spielen?
Reiner Bildmayer: In der digitalisierten und vernetzten Produktionshalle der Zukunft bieten sich mobile Szenarien geradezu an. Möchte ein Mitarbeiter in einer herkömmlichen Werkhalle eine Kiste mit Material einem Arbeitsprozess zuordnen, schreibt er die Nummer ab, geht danach an ein IT-System und startet eine Abfrage. Das verzögert den Zuordnungsprozess. Künftig kann der Mitarbeiter per Smartphone oder einem anderen mobilen Gerät die Nummer einscannen und das System gleicht alle Varianten ab, die zu dieser Nummer passen.

Wie wichtig ist das Thema Mobility für Unternehmen im Umfeld von Industrie 4.0?
Reiner Bildmayer: Immer mehr Bauteile, Waren oder Werkzeuge, die irgendwo in der Produktionsanlage zum Einsatz kommen, werden mit Mikrochips ausgestattet sein. Deshalb ist die dezentrale Interaktion dieser Dinge mit dem IT-System in produzierenden Unternehmen und ihrem direkten logistischen Umfeld von entscheidender Bedeutung. Enthält beispielsweise eine Kiste mit Material die Information über ihren Bestimmungsort und ihre Verwendung auf einem Chip, kann das System einen Mitarbeiter per Push-Notifikation informieren, die Kiste an einem bestimmten Punkt zu entladen und den Inhalt produktionstechnisch weiter zu bearbeiten.

Welche Folgen hat diese Entwicklung für die Arbeitswelt?
Reiner Bildmayer: Starre Anwesenheitszeiten werden auch in der Produktion Relikte der Vergangenheit sein. Zukünftig stimmen Arbeitsgruppen ihre Einsatzzeiten per Smartphone ab. Die Mitarbeiter werden eigenverantwortlich, kurzfristig und flexibel nach Bedarf tätig – nämlich dann, wenn der Kunde ordert. Wie entsprechende Arbeitszeit- und Einsatzmodelle aussehen können, erforschen wir gerade in dem Forschungsprojekt „KapaflexCy“ des Bundesforschungsministeriums. Bei dem Projekt werden Mitarbeiter per Smartphone angefragt, ob Sie zu einer weiteren Schicht zur Verfügung stehen. Heute erfolgt die Abfrage per Papier typischerweise in der Frühstückspause. Per Smartphone kann der Mitarbeiter schneller und gezielter befragt, Teilzeitkräfte oder gegebenenfalls auch Rentner können berücksichtigt werden. Ohne schnelle mobile Abfrage wäre dies nicht möglich.

Industrielle Produktion immer dynamischer und komplexer

Zugleich wird die industrielle Produktion immer dynamischer und komplexer. „In den Fabriken hat sich die Produktionsweise in den vergangenen Jahrzehnten massiv gewandelt“, sagt Bildmayer. „Der Auslöser dafür ist die gänzlich veränderte Nachfragesituation“. So seien Lieferzeiten heute wesentlich kürzer als noch zu Zeiten unserer Eltern. Das sei nur möglich, weil die Hersteller auf eine Produktion nach Bedarf umgestellt hätten. Die Bevorratung von Waren wurde damit weitgehend aufgegeben.

Die Produktion orientiert sich jedoch nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich immer mehr am Kunden: Wo früher überwiegend gleichartige Produkte erhältlich waren, zieht jetzt eine zunehmende Individualisierung ein. „Je spezieller ein Produkt den Wünschen des Einzelnen entspricht, desto mehr fühlt dieser sich als Kunde wahrgenommen“, führt Bildmayer aus. „Hochindividualisierte Waren, wie zum Beispiel Fernsehgehäuse, die in mehreren tausend Farben erhältlich sind, erfreuen sich deshalb äußerster Beliebtheit. Zusammengenommen stellt die Entwicklung die Industrie vor die Herausforderung, zunehmend individuelle Produkte in kurzer Zeit zu gleichbleibenden Preisen fertigen zu müssen."

Industrielle Fertigung und Internet wachsen zusammen

In dem Konzept von Industrie 4.0 sehen viele Unternehmen einen vielversprechenden Ansatz, den veränderten Ansprüchen des Marktes zu begegnen. In der digitalisierten und vernetzten Produktionshalle der Smart Factory wachsen die industrielle Fertigung und das Internet zusammen, um Herstellungsprozesse neu zu denken und zu organisieren. Ursprünglich aus einem Zukunftsprojekt der Bundesregierung hervorgegangen, spielt der Begriff Industrie 4.0 daher auch ganz bewusst auf einen neuen Meilenstein in der industriellen Entwicklung an: Nach der Mechanisierung Ende des 18. Jahrhunderts, der arbeitsteiligen Massenproduktion Ende des 19. Jahrhunderts und der computergestützten Automatisierung in den 1960er-Jahren steht der Industrie nun mit dem Internet der Dinge und dem Einsatz von Cyber-physikalischen-Systemen eine vierte Revolution bevor. „Für die Unternehmen ist diese vierte Phase der Industrialisierung eine Chance, mithilfe intelligenter Konzepte ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich zu steigern“, prognostiziert Bildmayer. Diese Ansicht teilt auch die deutsche Hightech-Industrie: In einer der ersten Umfragen zu diesem Thema, die der Hightech-Branchenverband BITKOM durchgeführt hat, meinen 90 Prozent der deutschen IT-Unternehmen, Industrie 4.0 sei für das produzierende Gewerbe wichtig, um weiter im internationalen Wettbewerb bestehen zu können.

"Die menschenleere Fabrik war ein gedanklicher Irrweg"

Auch wenn Industrie 4.0 die personenunabhängige Kommunikation zwischen den Dingen auf eine neue Ebene hebt, kommt dem Menschen in diesem Konstrukt doch eine zentrale Bedeutung zu. Die menschenleere Fabrik, wie sie noch mit der computergestützten Automatisierung in Verbindung gebracht wurde, ist für Industrie 4.0 kein Thema mehr. „Die menschenleere Fabrik war ein gedanklicher Irrweg“ sagt Bildmayer. „In der Produktionshalle der Zukunft wird der Mensch einen wichtigen Part als Aktor und Sensor übernehmen, das heißt er nimmt auf und handelt dann entsprechend. Damit kommt dem Arbeitnehmer nicht mehr die Rolle eines Bedieners von Maschinen zu, stattdessen wird er immer mehr die Prozesse steuern und regeln.“

Ob den Firmen der Schritt in die digitalisierte und vernetzte Industrieproduktion gelingt, ist in erster Linie produktabhängig. „Die Unternehmen müssen ihre Produkte grundsätzlich überdenken“, meint Bildmayer. „Die Produkte müssen flexibel genug sein, um einerseits zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Herstellung individualisiert werden zu können und andererseits, um sinnvolle Abläufe in der Produktionsanlage zu ermöglichen.“ So ist der flexible Einsatz des Autoradios aus dem Eingangsbeispiel natürlich nur möglich, wenn ein Radio in der erforderlichen modulartigen Form entwickelt.

Bereitschaft zu grundsätzlichem Wandel erforderlich

Der Einstieg in Industrie 4.0 muss jedoch nicht notwendigerweise von Produktseite aus erfolgen. Denkbar ist auch der Anstoß durch eine innovative Engineering-Leistung. „Einer unserer Kunden, ein Getriebehersteller, benötigte beispielsweise für die Fertigung seiner Getriebe sehr spezielle Einzelteile“, so Bildmayer. „Es gelang den Entwicklern des Unternehmens schließlich das exotische Material durch Standardteile zu ersetzen, die mit sehr kurzem zeitlichen Vorlauf in nahezu allen erforderlichen Mengen zu beschaffen waren.“ Generell verbindet Bildmayer den Einstieg in die Industrie 4.0 jedoch mit der Bereitschaft zu einem grundsätzlichen Wandel: „Für Unternehmen muss der strategische Ansatz bei der Beschäftigung mit Industrie 4.0 sein, Waren und Produktionsweisen generell zu überdenken, immer vor dem Hintergrund der Frage, ob Produkte und Prozesse noch zeitgemäß sind“.