Psychiater mahnen zu mehr Muße

Die optimierte Stress-Gesellschaft

28.11.2016
Ein aufs Maximum beschleunigtes Arbeitsleben, Wochenenden voller Termine - und eine Gesellschaft, in der vor allem das Äußere eines Menschen zu zählen scheint. Wann nimmt die Psyche Schaden?
Gerade in stressigen Momenten auch einmal nichts zu tun, ist für die Gesundheit des Gehirns unglaublich hilfreich.
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Termin folgt auf Termin. Immer die Deadlines im Nacken. An die privaten Pflichten erinnert zwischendurch das Piepen des Handys: Kurznachrichten, E-Mails, soziale Netzwerke. Dort protzen Bekannte mit Reisen oder absolvierten Marathonläufen um die Wette. Bei den Werbemodels kneift kein Hosenbund. So jagt ein Reiz den nächsten. Dass das heutige Leben kaum noch Pausen kennt, kann unter Umständen an der seelischen Gesundheit nagen, fürchten Psychiatrie-Experten. Sie forderten am Donnerstag in Berlin eine bessere Erforschung der modernen Lebensumstände als Risikofaktor.

Die acht stressigsten Jobs der IT-Branche
Platz 8: Programmierer
Programmierer sehen sich ähnlichen Anforderungen ausgesetzt wie Software-Entwickler - allerdings schreiben, testen und codieren sie die Applikationen und Software, die von den Entwicklern erarbeitet wurde. Erstaunlicherweise werden am Markt laut dem amerikanischen Bureau of Labour Statistics (BLS) immer weniger Programmierer gesucht.
Platz 7: Software-Entwickler
Die Aufgabe eines Software-Entwicklers ist es, Computer-Programme zu entwickeln. Dabei sollte er im Idealfall seine Deadlines einhalten, Kunden zufriedenstellen und die Erwartungen seines Unternehmens an die Software-Entwicklung erfüllen. Die Nachfrage nach diesem Jobprofil wird sich bis 2024 laut BLS um 17 Prozent erhöhen. Auch das macht den Job als Software-Entwickler stressiger.
Platz 6: IT-Service-Techniker
Mit dem technologischen Aufschwung wächst der Bedarf an Service-Technikern, die Computer und andere Devices am Arbeitsplatz am Leben halten. Es ist also wenig überraschend, dass der Beruf des IT-Service-Technikers unter den acht stressigsten IT-Jobs vertreten ist.
Platz 5: Data Scientist
Die "Datenwut" greift ja bereits seit längerem um sich. Viele Unternehmen suchen daher händeringend nach Daten-Spezialisten, finden aber keine (oder nur wenige) geeigneten Kandidaten. Die wenigen, die bereits eine solche Position innehaben, haben entsprechend viel zu tun.
Platz 4: Netzwerk-Administrator
Der Job des Netzwerk- und System-Administrators erfreut sich zwar keiner wachsenden Beliebtheit (BLS: minus 8 Prozent bis 2024) - gehört aber trotzdem zu den stressigsten IT-Jobs. Kein Wunder, schließlich ist der arme Kerl mit diesem Titel auf der Visitenkarte für den gesamten Netzwerkverkehr eines Unternehmens verantwortlich.
Platz 3: IT-System-Analyst
System-Analysten sind dafür zuständig, die IT-Systeme und -Prozesse eines Unternehmens zu untersuchen. Ihr Ziel: maximale Effizienz. Der Job ist an sich schon mit einem ausgeprägtem Stress-Level gesegnet - durch den Technologie-Eifer der Digitalisierungs-Ära erhält der Stressfaktor allerdings noch einmal einen deutlichen Boost.
Platz 2: Technischer Redakteur
Der Beruf des technischen Redakteurs wird laut BLS im Laufe der nächsten acht Jahre zunehmend beliebt (Wachstum bis 2024: 27 Prozent). Die Hauptaufgabe des technischen Redakteurs besteht in der engen Zusammenarbeit mit Entwicklern, auf deren Basis technische Dokumentationen, Fachartikel, Tutorials oder Bedienungsanleitungen entstehen.
Platz 1: Web-Entwickler
Entwickler von Web-Anwendungen haben den stressigsten Job der IT-Branche. Aber auch den von den Unternehmen am meisten nachgefragten - mehr als jeder vierte Personaler ist laut BLS jetzt oder in den kommenden Jahren auf der Suche nach Fachkräften.

"Alle sind leistungsfähig, schön und jung und möchten das möglichst lange bleiben. Das hat Folgen im Verhalten der Menschen", sagte Iris Hauth, die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) am Rande des Jahreskongresses der Fachgesellschaft. "Ich würde nicht sagen, Lifestyle macht Erkrankungen. Aber Lifestyle bewirkt Verhaltensveränderungen und emotionale Veränderungen, die gegebenenfalls Risikofaktoren für eine Erkrankung werden können." Sie sieht in diesem Feld Möglichkeiten für Vorbeugung und Therapie.

In Zahlen schlägt sich die Befürchtung bisher nur bedingt wieder. Die "echten" psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Abhängigkeitserkrankungen haben laut Hauth in den vergangenen rund 15 Jahren nicht zugenommen. "Was zunimmt, sind Befindlichkeitsstörungen unter der Schwelle einer echten psychiatrischen Diagnose." Als Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Berlin-Weissensee erlebe sie, dass zum Beispiel zunehmend junge Menschen mit Prüfungs- oder Partnerschaftsstress in der Notaufnahme Hilfe suchen.

Hauth zählt weitere Phänomene auf, die für sie ins Bild passen: Da sind Eltern, die ihr zappliges Kind mit Tabletten optimal durch die Schulzeit bringen wollen. Menschen, die sich fragen, ob ihre Aufenthaltsdauer im Internet noch normal ist. Frauen, die nicht mehr nur Diäten ausprobieren, sondern sich dauerhaft mit ihrem Aussehen beschäftigten und sogenannte Körperbildstörungen entwickeln. Und dann sind da noch die bis zu fünf Prozent der Berufstätigen, die mit Medikamenten Hirndoping betreiben, wie Claus Normann von der Klinik für Psychiatrie am Uniklinikum Freiburg sagt. Tendenz steigend. "Unter Studierenden dürften die Zahlen noch höher liegen."

Besteht Grund zur Sorge um die Gesellschaft? Jein. Wie gut Menschen mit Stress zurechtkommen, ist auch eine Frage der persönlichen Verfassung. Dem Druck der Selbstoptimierung setzten sich vor allem Menschen aus, denen es an Selbstwertgefühl mangele, sagt Hauth. "Wenn ich dagegen genügend Selbstwertgefühl habe - was mit der eigenen Persönlichkeit, Vererbtem, aber auch Erfahrungen der ersten 15 bis 20 Lebensjahre zu tun hat - dann ist das ein wesentlicher Resilienzfaktor." Unter Resilienz wird die Fähigkeit verstanden, mit Widrigkeiten und Tiefschlägen umzugehen - und gesund zu bleiben.

Jeder kann auch selbst etwas tun. Hauth ruft zu mehr Muße auf: "Auch einmal nichts zu tun, ist für die Gesundheit des Gehirns unglaublich hilfreich." Man müsse nicht alles machen, was der Markt biete. Ihre Patienten bringt sie dazu, sich die gelungenen Dinge des Tages vor Augen zu führen statt der Defizite. Und sie appelliert, soziale Kontakte zu pflegen: Einzelgänger, die sich isoliert fühlen, trügen ein besonders hohes Risiko für psychische Erkrankungen und seien angreifbarer als Menschen in gesunden Beziehungen.

Zumindest im englischsprachigen Raum wird derzeit Entschleunigung nach dänischem Vorbild propagiert, wie der "Guardian" kürzlich berichtete. Denn in Dänemark leben die nach Umfragen glücklichsten Menschen. Als Schlüssel gilt "Hygge", was so etwas wie Gemütlichkeit bedeutet. Das Nachmachen ist gerade zu dieser Jahreszeit ziemlich einfach: eine Kerze anzünden, Handy ausschalten, heißen Kakao trinken, zurücklehnen und dem schnellen Leben für ein Weilchen entsagen. (dpa/ib)

9 Tipps gegen Stress
Treiben Sie Sport ...
... und ziehen Sie Yoga und weitere Meditationsübungen in Betracht. Diese Übungen sind die besten Mittel gegen Stress und tragen dazu bei, Stressgefühle abzubauen. Ganz abgesehen vom gesundheitlichen Nutzen dienen die Trainings auch dazu, den Stress besser zu managen.
Lernen Sie gut zu atmen
Obwohl wir natürlich seit unserer Geburt atmen, wissen die meisten von uns nicht, wie man richtig atmet. Viele atmen in einer oberflächlichen Art und Weise - besonders in stressbetonten oder unruhigen Zeiten. Tiefes Atmen durch den Bauch kann zur inneren Ruhe beitragen. Und es hilft, in unbequemen und angespannten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren.
Bringen Sie ihre Mitarbeiter an einen Tisch, um über jetzige schwere Zeiten zu sprechen
Wer sich die Zeit nimmt um darüber zu sprechen, wie die vielen Veränderungen und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz die einzelnen Mitarbeiter bewegen, kann die Arbeitsmoral heben. Es ist ein Fehler zu glauben, Menschen seien nicht verängstigt und besorgt und der Arbeitsplatz sei davon nicht betroffen.
Fordern Sie zu positiven, lösungs-orientierten Antworten auf
Die Zeiten sind angespannt und schwierige Veränderungen in Organisationen sind die Regel. Daher sind Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und Offenheit so wichtig. Heute ist es mehr als je zuvor entscheidend, eine positive Einstellung in der Belegschaft auszulösen. Stellen Sie Fragen, die zu Lösungen ermuntern wie "Was läuft heute gut, was sind unsere Stärken, wie möchten wir, dass dieses Unternehmen aussieht?"
Seien Sie mit den Gedanken und mit dem Herzen bei der Sache.
Leute arbeiten intensiver für das, woran sie glauben und was sie zur Schaffung beigetragen haben. Das ist ein entscheidender Punkt, der während einer tiefgreifenden Umgestaltung am Arbeitsplatz geprüft werden muss. Was das mögliche Ausmaß des Arbeitsplatz-Wandels betrifft, sollten Mitarbeiter frühzeitig in die Entwicklung einbezogen werden.
Lernen Sie Ihre eigenen Gefühle zu erkennen
Bücher, Gruppen, Familie und enge Freunde sowie Trainer können wichtige Quellen sein, um sich den eigenen Gefühlen bewusster zu werden. Auch kann man dadurch leichter lernen, mit diesen Gefühlen umzugehen, um sich über sein Verhalten im Klaren zu werden. Besonders sollte man darauf achten, wie man andere Menschen anspricht.
Geben Sie als Führungskraft ein gutes Beispiel
Was man tut oder lässt, hat direkten Einfluss darauf, was Mitarbeiter glauben, was akzeptabel ist. Seien Sie ein überzeugendes Beispiel dafür, dass ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Beruf und Privatleben von Bedeutung ist. Essen Sie mit anderen zu Mittag und motivieren Sie Kollegen dazu mitzukommen. Auch Spaß und Lachen am Arbeitsplatz sind erwünscht, da dies Stress reduzierende Faktoren sind.
Nehmen Sie sich Zeit für gute Nachrichten
Wer sich immer nur auf das Negative konzentriert, tut weder seiner Gesundheit noch seiner Denkweise einen Gefallen. Und seien wir ehrlich: Der Anteil an positiven und erbaulichen Geschichten in den Nachrichten fällt eindeutig spärlich aus. Es ist extrem wichtig, sich so gut wie möglich von jeglichem Trübsal abzukapseln und wieder mit Leuten Kontakt aufnehmen bzw. Dinge zu tun, die Spaß machen.
Halten Sie sich von überflüssigen Dingen frei
Konzentrieren Sie sich auf den Kern Ihrer Arbeit. Jetzt ist Zeit, mit den Mitarbeitern Prioritäten zu setzen und sich darüber Gedanken zu machen, welche Projekte einen perfekten Lösungsansatz erfordern. Nicht jedes Projekt kann an oberster Stelle stehen. Gerade in wirtschaftlich angespannten Zeiten sind Brainstorming-Sitzungen wichtiger denn je.