Die Fallhöhe ist hoch: Fergus Wünschmann arbeitete in Wien, bevor es ihn als Geschäftsführer der Web-Agentur Riegg & Partner Intercorp. in die oberfränkische 4000-Seelen-Gemeinde Neudrossenfeld verschlug. Heute schwärmt der 47-Jährige vom Landleben: "Ohne die permanente Megaphonstimme der Stadt lebt es sich erdiger." Mit dem Abstand zur Großstadt könne er Trend und Hype besser einschätzen. "Das tut der kreativen Arbeit gut."
Wünschmann ist kein Einzelfall. Die kreative Klasse spürt, dass frische Ideen auch entstehen, wenn draußen statt der Straßenbahn der Traktor vorbeidonnert. Dass der Dorfplatz ein ebenso gutes Arbeitsumfeld bieten kann wie der Potsdamer Platz. Mindestens.
Sehnsucht nach der heilen Welt
Vogelgezwitscher statt Verkehrslärm. Magazine wie "Landlust", "Liebes Land" und "Landleben" überschwemmen die Regale. Grenzenlose Sehnsucht nach der heilen Welt, auch im Business. Die IT-Agentur Brand`s Mill im Örtchen Lipperreihe am Teutoburger Wald verbindet zum Beispiel Landleben und Cloud Computing. Rund um das Büro laufen Schafe und Hühner herum, und der Chef telefoniert mit Kunden schon mal vom Rücken eines Pferdes aus. Andere Kreativschmieden werben stolz mit dem Land-Label. Jenko Sternberg Design in Apelnstedt hat sich im Internet unter www.dorfdesigner.eu eingerichtet. Das Gestaltungsbüro Provinzglück im hessischen Gladenbach beschreibt seine Arbeit als "Synthese aus Professionalität und sauberer Luft".
Agenturchef Wünschmann fühlt sich mit seinen Kundenterminen in diversen Städten als "Grenzgänger zwischen den Welten". Das halte ihn geistig jung. "In der Stadt lasse ich mich inspirieren, hier prüfe ich die Inspirationen auf Relevanz." Das Land biete dazu Platz ohne Ende und Luft zum Atmen.
Landlust und Laptop gelten nicht länger als Gegensätze. "Durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten verliert das Landleben den Fluch der Einöde", sagt Klaus Burmeister, Mit-Geschäftsführer von Z_punkt, einem Beratungsunternehmen für strategische Zukunftsfragen in Köln. "Der Blick, der die Großstadt als Nabel der Welt sieht, muss daher neu überdacht werden." Blackberry und iPhone funktionierten auch zwischen Brombeersträuchern.
Große Verdienstunterschiede
Kein Wunder, dass auch eingefleischte Großstädter die Räume jenseits der Vorstädte für sich entdecken. Besonders junge Familien schätzen die Vorteile des Landlebens: die Natur als Spielplatz für die Kinder, das überschaubare Umfeld, kurze Wege und niedrige Lebenshaltungskosten. Verena Amann, Head of Marketing & Development bei der 1&1 Internet AG im beschaulichen Westerwald-Städtchen Montabaur, kennt diese Pluspunkte aus dem Effeff. Für sie als Recruiterin sind sie genau jene Argumente, mit denen sie Bewerber in die Provinz locken kann.
Ihr größter Trumpf allerdings hat mit der beschaulichen Kleinstadt nichts zu tun: die neue ICE-Anbindung in Montabaur. Seitdem man nur eine Dreiviertelstunde nach Köln und Frankfurt braucht, "lassen sich auch junge Leute, die Party machen wollen, leichter für den Standort Montabaur begeistern", so Amann. Eine Wüstenprämie muss 1&1 nicht zahlen, um die Bewerber in die Provinz zu locken. Die Internet-Firma hat laut Amann für ihre verschiedenen Standorte "identische Gehaltsbänder".
In anderen Unternehmen ist das nicht so. Das zeigt eine Gehaltsvergleichs-Sonderauswertung für die Computerwoche von Personalmarkt Services in Hamburg. Der Vergleich von mehr als 18.200 Gehältern von ITlern mit akademischem Abschluss erbrachte ein eindeutiges Ergebnis: In der Provinz verdienen Computerfachleute bis zu einem Drittel weniger als in der Großstadt. Erhält eine IT-Fachkraft in München im Schnitt 64.163 Euro, kommt sie in Mecklenburg-Vorpommern nur auf 43.848 Euro. Bei IT-Führungskräften ist das Gehaltsgefälle genauso groß: 109.908 Euro versus 75.110 Euro.
Gegentrend zur Virtualisierung
Die niedrigeren Verdienstchancen auf dem Land schrecken manche Wissensarbeiter aber nicht ab. "Landlust ist der Gegentrend zur Virtualisierung", sagt Trendforscher Professor Peter Wippermann aus Hamburg. "In der virtuellen Welt sind wir emotional unterfordert. Das Landleben steht in der Vorstellung der Menschen für pures Offline-Leben." So lässt sich der zunehmende Fluchtinstinkt aus der virtuellen Welt erklären, der sich in Büchern wie "Ich bin dann mal offline" von Christoph Koch oder "Ohne Netz" von Alex Rühle widerspiegelt.
"Das Landleben bietet die Möglichkeit, sich je nach Bedarf abschotten oder andocken zu können", ergänzt Trendforscher Burmeister. Community finde man heute auch auf der Scholle: einerseits in der Dorfgemeinschaft, andererseits im virtuellen Netzwerk. "Die Sehnsüchte nach Rückzug und nach Teilhabe lassen sich hier gut miteinander verbinden", so Burmeister. Ruhe ist überall auf dem Land. Wer Anschluss sucht, geht in die Dorfkneipe oder ins Internet.
Treffen in Social Hubs
Demnächst womöglich auch in Social Hubs, in dezentrale Netzwerke, in denen sich Wissensarbeiter virtuell und physisch treffen wie heute schon in den Kaffeebars der Großstädte. Holger Eggerichs, Director Professional Services Networks bei SAP, hat ein erstes Pilotprojekt in Lübeck eröffnet. Auf mehr als 1200 Quadratmetern können Wissensarbeiter hier im Café Cloudsters netzwerken und konzentriert arbeiten. Hubs in ländlichen Regionen sollen folgen. Das Besondere: Nicht große Konzerne installieren diese Treffpunkte, sondern die kreative Klasse. "Sie entwickelt ein neues Wir-Gefühl", so Eggerichs, "und einen Anspruch, diese Umgebung selbst aufzubauen, selbst weiterzuentwickeln und letztendlich auch kollektiv zu besitzen."
Reif für die Eifel?
Kommt für Sie ein Job auf dem Land in Frage? Wer oft mit Ja antwortet, sollte über Stadtflucht nachdenken.
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Stress habe ich im Job schon genug. Nach der Arbeit will ich meine Ruhe haben.
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Bücher wie "Morgen komm ich später rein", "Reset", "Wir nennen es Arbeit" und "Die 4-Stunden-Woche" habe ich verschlungen.
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Shoppen? Kann ich auch im Internet.
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Ich habe Familie und will, dass die Kinder im Grünen aufwachsen.
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Meinen Job könnte ich auch in einem Home Office erledigen.
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Nach langen Tagen am Rechner brauche ich frische Luft.
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Meine turbulente Partyzeit liegt hinter mir.
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Der ständige Verkehrslärm nervt.
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Ich erwische mich dabei, öfter mal die Zeitschrift "Landlust" durchzublättern oder bei "Bauer sucht Frau" hängen zu bleiben.
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Ich kann diszipliniert arbeiten.
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Coffeeshops und Theater sind überschätzt.
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Geld ist nicht alles. Ich würde auch mit ein paar Euro weniger über die Runden kommen.
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Ich habe ein Auto und fahre gern.
Dass die Provinz imstande ist, ein neues Wir-Gefühl zu kreieren, hat auch Agenturchef Wünschmann beobachtet. Während er seine Kunden anfangs nur schwer nach Neudrossenfeld locken konnte, kommen sie heute gern - weil man hier in Ruhe Meetings abhalten und beim Spaziergang Dinge hinterfragen kann. "Wer mal hier war, wird Wiederholungstäter." (am)