ITIL, CoBIT, Togaf & Co.

Die Grenzen von ITIL

28.05.2013 von Michael Maicher
ITIL, CoBIT, Togaf & Co. haben durchaus ihren Sinn. Aber eine zu enge und unkritische Ausrichtung auf solche Standards wird den individuellen Anforderungen der Unternehmen oft nicht gerecht.
Individuelle Anpassung ist sinnvoll.
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Regelwerke sind brauchbare Instrumente für die Strukturierung und Ausrichtung der IT-Organisation dar. Unter bestimmten Bedingungen und für gewisse Zwecke helfen sie den Unternehmen, ihre IT zu optimieren, indem sie Definitionen, Techniken, Prozesse und Vorgehensweisen als Orientierungsrahmen und Starthilfe anbieten. Die darin enthaltenen "Best Practices" oder "Common Practices" sind zudem eine Quelle guter Ideen.

Allerdings werden solche Regelwerke oder De-facto-Standards häufig als Rezeptbücher missverstanden, von denen nur "Unläubige" abweichen. IT-Verantwortliche machen sich selbst zur Geisel dieser Standards, wenn sie sich sklavisch an die Vorgaben halten, anstatt sie als Methodenvorschlag zu begreifen und intelligent auf die eigenen Unternehmenserfordernisse zuzuschneiden.

Sechs Tipps zum Umgang mit Regelwerken
Sechs Tipps zum Umgang mit Regelwerken
ITIL, CoBIT, Togaf & Co. haben durchaus ihren Sinn. Aber eine zu enge und unkritische Ausrichtung auf solche Standards wird den individuellen Anforderungen der Unternehmen oft nicht gerecht.
Tipp 1:
Lassen Sie sich nicht von einem Regelwerk vereinnahmen, sondern entwickeln Sie eine kritisch-konstruktive Distanz dazu.
Tipp 2:
Versuchen Sie nicht, individuelle Erfordernisse des Unternehmens in den Standard eines Methodenwerks zu pressen.
Tipp 3:
Definieren Sie ein unternehmensspezifisches Framework und übernehmen Sie nur die Teile aus den Regelwerken, die nützlich sind und verstanden werden. Beachten Sie dabei die Pareto-Regel (mit 20 Prozent Aufwand 80 Prozent der Dinge regeln), damit keine zu komplizierte Frameworks entstehen.
Tipp 4:
Entwerfen sie zum Unternehmen passende Prozesse, zum Beispiel mit der "Wertschöpfungsmaschine" von Andreas Suter oder der Business-Engineering-Methode von Hubert Österle.
Tipp 5:
Bestehen Sie auf klaren und präzisen Begriffsdefinitionen. Prüfen Sie Ihre Definition, indem sie drei Stakeholder/Experten aus Ihrem Unternehmen nach deren Interpretation fragen. Wenn jeder etwas anderes interpretiert, taugt die Begriffsdefinition nicht.
Tipp 6:
Greifen Sie bei Servicedefinitionen auf fundierte und konkrete Werke zum IT-Produkt-Management oder Service-Engineering zurück (beispielsweise von Harry Sneed, Tilo Böhmann oder Klaus-Peter Fähnrich).

Nur das Was, nicht das Wie

Obwohl die Regelwerke sehr umfangreich sind, beschreiben sie eigentlich nur das Was. Damit eignen sie sich für die operativ Verantwortlichen allenfalls bedingt als Ideengeber. Denn die Praxis fragt weniger danach, was zu tun ist, sondern wie das unter Berücksichtigung der Ausgangslage im eigenen Unternehmen funktioniert.

Von daher ist Zweierlei sinnvoll: Zum einen sollten sich die Unternehmen auf die Kernideen der Frameworks konzentrieren. Zum anderen müssen sie deren Umsetzung konsequent an den eigenen Zielen und Handlungsbedürfnissen ausrichten.

Fehleinschätzungen und Missverständnisse

ITIL ist das Paradebeispiel für ein IT-Regelwerk mit Best Practices

Als Beispiel für Fehleinschätzungen kann die Einführung "ITIL-konformer" Prozesse im IT-Service-Management gelten - vor allem in konzerngebundenen IT-Organisationen. Zunächst ist zu fragen, was eigentlich ITIL-konform bedeutet. In der Praxis sind ja teilweise erhebliche Anpassungen der ITIL-Vorgaben an das Unternehmen vorzufinden.

Sodann muss mit einem Irrglauben aufgeräumt werden. Die Orientierung an dem internationalen De-facto-Standard zieht nicht automatisch eine durchgreifende Verbesserung der Leistungsqualität oder gar eine Kostenreduktion nach sich. Letzteres ließ sich bislang noch durch keine unabhängige Studie belegen (siehe beispielsweise Rob England, Review of Recent ITIL Studies).

Inzwischen sind viele ITIL-engagierte Unternehmen tief enttäuscht darüber, dass entgegen ihrer Erwartung weder der Output an Leistung noch die Kosteneffizienz gestiegen sind. Ein Nutzen stellt sich in aller Regel erst dann ein, wenn die implementierten Prozesse auch in der Aufbauorganisation des Unternehmens verankert und bei den Mitarbeitern angekommen sind. Die empfohlenen Best-Practice-Kennzahlen ungefiltert den IT-Regelwerken zu entnehmen lässt sich oft nicht mit Geschäftsstrategie des Unternehmens vereinbaren.

Ohne Itil ...
Was ohne Itil geht - und was nicht
Die IT Infrastructure Library, kurz Itil, hat sich zum Quasi-Standard im IT-Service-Management entwickelt. Manche sagen, es ginge auch ohne Itil. Was allerdings zu beweisen wäre.
Ohne Itil ...
... fehlt die Grundordnung für komplexe ITSM-Strukturen.
Ohne Itil ...
... kann die IT die Wettbewerbsanforderungen des Unternehmens nicht erfüllen.
Ohne Itil ...
... büßen die ITSM-Verantwortlichen strategische Durchsetzungkraft ein
Ohne Itil ...
... verlieren sich IT-Services im Dickicht schlecht abgestimmter Einzelprozesse.
Ohne Itil ...
... lassen sich viele Einsparungspotenziale nicht ausschöpfen.
Ohne Itil ...
... muss die Qualitätssteuerung ohne Kennzahlensysteme auskommen.
Ohne Itil ...
... hat die IT Schwierigkeiten, ihren Wertbeitrag konkret nachzuweisen.
Ohne Itil ...
... sind die Möglichkeiten der Compliance-Kontrolle eingeschränkt.

Eines der größten Missverständnisse haben die ITIL-Protagonisten im OGC (nun Cabinet Office) selbst geschürt. Nämlich die These, dass ITIL keine Prozesse sondern Funktionen beschreibe. Tatsächlich definiert ITIL Funktionen innerhalb eines bipolaren Organisationsmodells zwischen Kunde (Business) und IT-Dienstleister. In der Unternehmenspraxis gilt es aber, über mehrere Organisationsbereiche hinweg IT-Prozesse und -Verfahren einzuführen und zu steuern.

Dabei spielen mit: der jeweilige Fachbereich (getrennt nach Kunde und User), der zentrale IT-Dienstleister, in großen Unternehmen auch eine IT-Governance-Einheit sowie dezentrale IT-Dienstleister, die unter Umständen tief in den Fachbereichen verankert sind. Hat das Unternehmen Teile seiner IT ausgelagert, kommen noch ein oder mehrere externe IT-Dienstleister hinzu. Dieses komplizierte und manchmal auch komplexe Gebilde gilt es, im Sinne der Unternehmensstrategie optimal auszurichten. Ein generisches Modell ist dafür ungeeignet; das kann nur mit unternehmensspezifisch zugeschnittenen Lösungen gelingen.

Zur Abbildung der Schnittstelle von Unternehmen zu (externen) IT-Dienstleistern hat sich ITIL zweifellos etabliert. Es ist inzwischen zur Selbstverständlichkeit bei Ausschreibungen und Angeboten beim IT-Infrastruktur-Outsourcing geworden. Allerdings gibt es auch hier Einschränkungen: Konzepte wie "Operational Integrator" beim Multi-Sourcing mit kaskadierenden Prozessen und Verantwortlichkeiten lassen sich damit allenfalls unzureichend abbilden.

Mangelndes Verständnis

Das Ziel, über Standards das gemeinsame Verständnis von Sachverhalten zu schaffen, ist de facto nur begrenzt erreichbar. Bereits in der Verständigung zwischen IT-Verantwortlichen untereinander ist trotz Einführung eines Standards ein Manko festzustellen. Noch weniger haben es Regelwerke bisher geschafft, das Zusammenspiel von IT-Abteilungen und Fachbereichen hinsichtlich der Kommunikation klarer zu gestalten. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die fachlichen Schulungen für IT-nahe Frameworks fast ausschließlich auf die IT-Mitarbeiter fokussiert sind.

Aber ganz davon abgesehen dürfen Regelwerke inhaltlich nicht als Inbegriff der Wahrheit verstanden werden. Schließlich beruhen sie nicht unbedingt auf einer durchgängig präzisen oder allgemein anerkannten Terminologie. Deshalb war ja das im vergangenen Jahr veröffentlich Refresh von ITIL V3 mit einer deutlichen Schärfung von Begrifflichkeiten und Definitionen notwendig. An dem Regelwerk haben weltweit zahlreiche Autoren mitgewirkt. Solche Bedingungen bergen selbst bei großem Bemühen um fachliche Genauigkeit das Risiko inhaltlicher und terminologischer Widersprüchlichkeiten. Auch deshalb ist vor einem zu großen Vertrauen in die die IT-Regelwerke zu warnen.

ITIL - die häufigsten Irrtümer
ITIL - die häufigsten Irrtümer
Am 29. Juli 2011 wurde das aktuelle Refresh von Itil V3 veröffentlicht. Höchste Zeit, die häufigsten Itil-Missverständnisse aufzuklären.
Itil V4 steht unmittelbar vor der Tür.
Das ist falsch - richtig ist<br><br>In Kürze wird ein Refresh ("Itil Edition 2011) veröffentlicht.
Strategische Prozesse sind in der IT sind unrealistisch.
Das ist falsch - richtig ist:<br><br>Die Itil-Prozesse helfen dem CIO, sich als Partner des Business zu etablieren.
Der Umstieg von V2 auf V3 ist radikal.
Das ist falsch - richtig ist:<br><br>Die grundlegenden Konzepte bleiben erhalten.
Itil V3 erhöht nur die Komplexität der Prozesse.
Das ist falsch - richtig ist:<br><br>Die Komplexität hat nichts mit der Itil-Version zu tun.
Es ist einfacher, erst einmal mit ITIL V2 zu beginnen.
Das ist falsch - richtig ist: ITIL V3 bietet so viele Verbesserungen, dass es töricht wäre, sie zu ignorieren.
Die Investitionen in Itil V2 sind definitiv verloren.
Das ist falsch - richtig ist:<br><br>Investitionen in Prozesse und Standards lassen sich unmittelbar in V3 überführen.
Viele der V3-Prozesse sind in der Praxis überflüssig.
Das ist falsch - richtig ist:<br><br>Nicht jeder Prozess muss nach V3 eingeführt werden, aber die Funktion muss abgedeckt sein.
Die V3-Prozesse sind unübersichtlich und schwer steuerbar.
Das ist falsch - richtig ist:<br><br>Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt, daran ändert auch Itil V3 nichts.
Die Standards stehen der Flexibilität im Weg.
Das ist falsch - richtig ist:<br><br>Definierte Kompetenzen und Prozesse erleichtern die Reaktion auf Änderungen.
Der Nutzen kann die Investition nicht aufwiegen.
Das ist falsch - richtig ist:<br><br>Itil V3 hilft, die Effizienz und Qualität des IT-Service-Managements erheblich zu steigern.
ITIL V3 erfordert einen zu hohen Schulungsaufwand.
Das ist falsch - richtig ist: Die Bedeutung des ITSM ist gestiegen - und damit auch das Anforderungsprofil der Experten.

It´s not a trick, it´s a service

Mit ITIL hielt der Begriff "Service" Einzug in die IT-Bereiche der Unternehmen. Doch ITIL hat es bislang nicht geschafft, diesen Begriff verständlich und praxistauglich zu definieren sowie von anderen Definitionen/Begriffen abzugrenzen. Dort lautet die Beschreibung: "a means of delivering value to customers by facilitating outcomes customers want to achieve without the ownership of specific costs and risks". Was aber ist ein solches Mittel ("means")? Was sind die spezifischen Kosten? Eine allgemeingültige Definition des Servicebegriffs lässt sich auf diese Weise nicht erreichen.

Ein unabweisbares Problem einer starken Regelwerksorientierung besteht zudem darin, dass die Frameworks ständig umfangreicher werden - sowohl hinsichtlich des Scope als auch der Detaillierung. ITIL, CoBIT und Togaf sind Paradebeispiele dafür. Dadurch geraten die Frameworks zu sehr in den Mittelpunkt und werden zum Selbstzweck. Zudem steigt durch die immer komplexeren Methoden auch der Bedarf an regelwerksspezifischer Fortbildung/Zertifizierung und an Projektressourcen, ohne dass diesem Mehraufwand ein nennenswerter Nutzengewinn gegenüberstünde. Außerdem verlängert sich die Projektdauer, was im Regelfall mit Kostensteigerungen einhergeht.

Standards reduzieren Kreativität

IT-Prozesse entstehen selten auf der grünen Wiese. Daher sind in der Unternehmenspraxis immer mehrere Einflussgrößen für die Organisationsgestaltung zu berücksichtigen - beispielsweise Größe, Kultur, Geografie, Produktspektrum, Mitarbeiterfähigkeiten, Wertschöpfungstiefe in der IT, vorhandene IT-Unterstützung etc. All diese Anforderungen kann ein generisches Referenzmodell nicht leisten.

Schneller und kostengünstiger umgesetzt sind unternehmensspezifische IT-Prozessdesigns, die durchaus an gängige Standards angelehnt sein können, aber die Prozessschritte aus der Praxis heraus begründen sollten. Hilfreich ist hierbei, die Anforderungen der ISO 20000 (aus ITIL abgeleitet) als Prozesscheckliste zu verwenden, also zu überprüfen, ob die dort festgeschriebenen Anforderungen/Merkmale von den eigenen und unternehmensspezifischen Prozessdesigns abgedeckt werden. Um jedem Missverständnis vorzubeugen: Ein Standard ist schon wichtig, es sollte aber ein Unternehmensstandard sein - so individuell wie der Betrieb selbst. (qua)