Digital-Chirurgie-Vorreiter Brainlab wird 30

Deutschland ist noch eine digitale Healthcare-Wüste

18.04.2019 von Jürgen  Hill
Das digitalisierte Krankenhaus vom OP bis zum Krankenbett ist keine Vision mehr – zumindest außerhalb Deutschlands. Was die Verknüpfung von IT und Medizintechnik ermöglicht, zeigt ein Blick nach New York.
Die Digitalisierung in der Medizin schreitet rasant voran.
Foto: Brainlab

Im Jahr 2019 Befunde noch per Fax austauschen? Wichtige Bilddaten aus Katheter- oder MRT-Untersuchung noch auf selbstgebrannten DVDs zum Facharzt mitbringen? Ja, das ist leider der Digitalisierungsalltag in einem Land, in dem zwar Milliarden für eine elektronische Gesundheitskarte versenkt wurden, es aber versäumt wurde, die überbordenden Dokumentationspflichten für Ärzte und Kliniken an die digitale Welt des 21. Jahrhunderts anzupassen. Trotz Medizinermangel, so ist landauf landab zu hören, verbringen die Ärzte zirka 40 bis 60 Prozent ihrer Arbeitszeit mit bürokratischen Dokumentationsaufgaben. Was fehlt, sind Regeln von Politik und anderen Playern im Gesundheitswesen, die eine Digitalisierung der Workflows erlauben. Noch unverständlicher wird das Ganze, wenn man bedenkt, dass digitale Medizintechnik Made in Germany weltweit einen Spitzenruf genießt.

Und was sich alles mit aktueller Digitaltechnik realisieren lässt, zeigt ein Blick über die Grenzen. So öffnete im Juni 2018 in New York der neue Helen L. and Martin S. Kimmel Pavilion in Verbindung mit dem Hassenfeld Children´s Hospital-34th Street. Beide Einrichtungen gehören zum NYU Langone Medical Center, einem akademisch-medizinischem Zentrum, das an die New York University angeschlossen ist. Dabei zählt der Kimmel Pavilion zu einem der fortschrittlichsten Krankenhaus-Neubauten in Sachen Digitalisierung. Dementsprechend wurde ein besonders großer Wert auf eine nahtlose Integration neuer Technologien gelegt. Um dies zu erreichen, investierte NYU Langone in den letzten sieben Jahre über 400 Millionen Dollar in verschiedene IT-Initiativen.

Digitale Akten statt Papier

Für den Patienten des Kimmel Pavilion beginnt die digitale Reise bereits mit dem Betreten des Krankenhauses: Seine Registrierung erfolgt elektronisch. Wann er sich wo in welcher Abteilung vorzustellen hat, erfährt der Patient dabei Schritt für Schritt digital über sein Smartphone. Dreh- und Angelpunkt für die Digitalisierung ist dabei der Electronic Health Record (EHR) des Patienten, also seine elektronische Krankenakte. Auf deren Informationen können die verschiedenen technischen Systeme nahtlos und ohne Medienbruch zugreifen.

Infohub MyWall

Via Tablet bestellt der Patient in New York sein Essen.
Foto: NYU Langone Health

Informationen, die etwa der 75 Zoll große Bildschirm mit 4k-Auflösung in den Krankenzimmern erhält. Das Systems selbst - im Kimmel Pavilion "MyWall" getauft - wird wiederum über ein am Bett angebrachtes Tablet vom Patienten gesteuert. Auf diese Weise kann er etwa Informationen über das ihn betreuende Ärzteteam abrufen oder Informationen zum Umgang mit seiner Krankheit erhalten: Dazu zählen beispielsweise Anweisungen für gewisse Übungen, wie die persönliche Lebensweise zu ändern ist, etc. Zudem kann der Patient über MyWall seine Essenmenüs auswählen. Im Gegensatz zum in Deutschland üblichen System, wo der Patient auf einem DIN-A-4-Zettel seine Speisen für die Woche per Stift ankreuzt, um dann später von der Krankenschwester zu erfahren, dass er genau diese Mahlzeiten wegen seiner Krankheit nicht erhält, erspart MyWall dem Patienten solche Enttäuschungen. Durch die Verknüpfung mit dem EHR erhält der Patient nur die Essensvorschläge, die sich mit seinem Gesundheitszustand vertragen.

Darüber hinaus hat MyWall noch die Funktion eines Entertainment- und Kommunikationshubs. So kann der Patient nicht nur fernsehen und Filme abrufen, sondern auch per Skype mit Freunden und Verwandten kommunizieren. Oder er macht aus MyWall seine persönliche Fototapete, indem er eigene Bilder einspielt, um so der Tristesse eines Krankenhauszimmers zu entfliehen und dem Raum eine persönliche Note zu geben. Gleichzeitig ist MyWall das zentrale Steuerpult, um etwa Raumtemperatur, Jalousien, Licht etc. einzustellen.

Das vernetzte Bett

Selbst das Stryker iBed ist vernetzt und dokumentiert etwa das Gewicht automatisch in der Krankenakte.
Foto: NYU Langone Health

Intelligent und vernetzt ist auch das Bett, in dem der Patient liegt. Das "Stryker iBed System" ist ebenfalls mit der elektronischen Krankenakte verbunden. In dieser dokumentiert das Bett automatisch das Gewicht des Patienten, da es ihn selbst wiegt. Ferner überwacht es die Stellung der Bettgitter, protokolliert mögliche Gefahren einer Lungenentzündung durch Beatmungsgeräte oder warnt vor Druckstellen durch zu langes Liegen in einer Position. Verlassen sturzgefährdete Personen ohne Aufsicht das Bett, dann löst dieses einen Alarm aus.

Auf der Intensivstation befindet sich zusätzlich am Zimmereingang noch ein 42 Zoll großer Touchscreen als "ICU-Monitor" (Intensive Care Unit), der ebenfalls mit der elektronischen Krankenakte verbunden ist. Auf diese Weise erhält das medizinische Personal direkt vor Ort einen Überblick über alle relevanten medizinischen Daten und kann sich so einen besseren Überblick über den Gesundheitszustand des Patienten verschaffen.

Löst das Bett einen Alarm aus, dann besteht nicht die Gefahr, dass er im überlasteten Schwesternzimmer übersehen wird, denn er wird direkt an die "Clinical Mobile Companions" weitergeleitet. Darunter versteht man im Kimmel Pavilion eine Suite aus Applikationen zur Kommunikation und zum Zugriff auf medizinische Daten. Zur Nutzung der Information wurden 2.600 Mobile Devices angeschafft. Des Weiteren gibt es ein "Nurse Call System" mit über 3.000 Geräten, das den Krankenschwestern dabei hilft, mit Ärzten und Patienten im Kontakt zu bleiben.

Neue Wege geht das New Yorker Krankenhaus auch in Sachen Medikamentenversorgung. Die klassischen Medikamentendosierboxen sucht man hier vergeblich. Dafür wurden vor jedem Krankzimmer "Digital Medication Drawers" installiert. Diese digitalen Medikamentenspender sind durch Fingerabdruckscanner gesichert und mit der EHR des Patienten verbunden. Auf diese Weise will man Fehlmedikationen, wie sie durch Flüchtigkeitsfehler entstehen, vermeiden, denn hier wird die Medikation jedes Patienten sowohl digital als auch durch Pharmazieexperten überprüft.

Zimmerservice durch den Roboter

Das Essen bringt künftig der Roboter.
Foto: NYU Langone Health

Die wohl auffälligste Veränderung durch die Digitalisierung dürften für Besucher und Patienten die 31 autonomen Roboter sein, die im Kimmel durch die Gänge fahren. Dabei nehmen die Roboter auch alleine und selbständig den Aufzug - dürfen aber nur die Service-Aufzüge benutzen. Dabei übernehmen die maschinellen Helfer vielfältige Transportaufgaben und bringen Essen, Bettwäsche, Medikamente etc.

Digitaler OP

Digitaler OP mit Buzz-OP-Integrationssystem als Informations-Hub.
Foto: NYU Langone Health

Highlight der Digitalisierung sind die über 30 Operationssäle des Kimmel Pavilions. Gemeinsam mit Partner Brainlab haben die Amerikaner hier OPs aufgebaut, bei denen die verschiedensten bildgebenden Systeme das Ärzte-Team während einer Operation unterstützen. So kann beispielsweise direkt während der Operation eine MRT durchgeführt werden, ohne die sterile Umgebung verlassen zu müssen. Ein "Buzz-OP-Integrationssystem" mit hochauflösendem Display dient im OP als eine Art Informations-Hub und integriert mehrere verschiedene Informationssysteme. Auf diese Weise können die Chirurgen und andere Mitglieder des OP-Teams einen Fall in Echtzeit visualisieren und mit den Pathologen im Labor interagieren. Ferner erlauben Augmented Reality und andere bildgebende Systeme Operationen, die bis vor kurzem nur schwer vorstellbar waren. Wie ein Navigationssystem führt die digitale Technik nun den Chirurgen durch eine OP.

Allerdings fordert eine solche Digitalisierung des OPs auch ihren Tribut auf der Infrastrukturseite. So wurden im Kimmel zwei redundante Rechenzentren mit Load Balancing gebaut. Da das Krankenhaus in einem hochwassergefährdeten Gebiet in der Nähe des Hudson liegt, wurden die RZs nicht wie üblich im Keller installiert, sondern in höheren Etagen, um einen Ausfall durch Überflutung zu vermeiden. Einen Ausfall durch Hacker von außen sollen Firewalls abblocken. Zudem ist jeder OP noch einmal extra durch Firewalls abgesichert.

Die IT-Infrastruktur

Zum Informationsaustausch selbst wurden im Krankenhaus rund 150 Meilen an Glasfaserkabeln verlegt sowie über 1.100 Meilen CAT-6A-Kabel. Übertragungskapazitäten, die auch notwendig sind, denn ein moderner, digitaler OP erzeugt rund 10 GB an Daten pro Stunde. Zumal noch die Daten von MyWall und Co. hinzukommen. Für eine zuverlässige WLAN-Abdeckung im Kimmel Pavilion wiederum sorgen 1.300 Access-Points. Ferner wurden auf jedem Stockwerk Mobilfunkantennen/-Repeater für die in New York gängigen Mobilfunkprovider installiert.

Legt man den HIMSS EMRAM (Healthcare Information and Management Systems Society Electronical Medical Record Adaption Model) - kurz auch als HIMSS Level bezeichnet - als Messlatte an, so hat das Kimmel den Level 7 erreicht. Der HIMSS-Level misst von Null bis Sieben den Grad der Digitalisierung und die Verwendung elektronischer Patientenaufzeichnungen. In Deutschland befindet sich das Gros der Krankenhäuser auf Level 3.

Während das Kimmel also bei der Digitalisierung des Klinikalltags in der Oberliga mitspielt, ging es bei der Entwicklung noch ganz old-fashioned zu: Sowohl von OPs als auch Krankenzimmern wurden 1:1 Mockups gebaut, um den Einsatz der Digitaltechnik mit Ärzten und Krankenhauspersonal zu testen. Ganz anders dagegen in Bozen, wo ein Krankenhaus ebenfalls gerade neue digitalisierte Operationssäle implementiert. Die Norditaliener überprüfen und üben mit ihren neuen OPs per Virtual-Reality-Simulation.

Blackbox für den OP

Ein digitalisierter OP erzeugt pro Stunde rund 10 GB an Daten.
Foto: Brainlab

Mit den digitalen OPs hält auch ein Prinzip Einzug, das nicht unumstritten ist. Vergleichbar mit den Flugschreibern eines Flugzeuges protokollieren im digitalen OP künftig Blackboxes alle Vorgänge und Daten. So weiß der Rechner im Hintergrund etwa, wie viele Skalpelle ein OP-Team verwendet hat und wie viele davon zur Sterilisation wieder eingesammelt wurden. Fehlt eines, kann der digitale OP Alarm schlagen, bevor das medizinische Besteck im Patienten vergessen wird. Ferner könnten diese Daten zu Schulungszwecken verwendet werden, aber auch, um womöglich ärztliche Fehler nachzuweisen.

Nichtsdestotrotz stellen diese Blackbox-Daten derzeit ein Problem dar. Denn noch ist nicht abschließend geklärt, wer wann unter welchen Umständen an diese Daten heran darf. Und wem gehören sie? Dem Patienten, dem behandelndem Arzt, dem OP-Team oder dem Krankenhaus? Würden hier einfache Erklärungen zum Datenschutz reichen? Solche und andere rechtliche Fragen sowie von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Krankenhausgesetze bremsen hierzulande die Digitalisierung des Gesundheitswesens aus. Und das, obwohl deutsche Hersteller bei der Digitalisierung der Medizintechnik eine führende Rolle einnehmen.

Zu diesen zählt etwa das bereits erwähnte Münchner Unternehmen Brainlab, das vor 30 Jahren gegründet wurde. Die Münchner haben sich auf bildgebende Verfahren zur 3D-Darstellung anatomischer Strukturen sowie die Digitalisierung der OPs fokussiert. Dabei beschränken sich die Münchner nicht nur auf die Darstellung, sondern liefern für die Chirurgen gleich ein Art Navigationssystem für den Eingriff an der richtigen Stelle mit.

Doch die Münchner und ihr Firmenchef und Gründer Stefan Vilsmeier haben noch mehr vor. "Wir wollen die digitale Chirurgie demokratisieren", gab Vilsmeier als Losung aus. Hierzu will der Manager bestimmte Komponenten seiner Middleware "Origin" künftig als Open Source zur Verfügung stellen. Die Software fungiert quasi als eine Art MIoT-Plattform (Medical Internet of Things) und stellt etwa die Verbindung zwischen dem eigentlichen Betriebssystems eines Rechner und der darüber liegenden medizinischen Software her. Zudem dient sie als Bindeglied, um verschiedene Datenformate und Protokolle wie etwa DICOM (Digital Imaging and Communications in Medicine) miteinander zu verbinden. Ferner ermöglichen die APIs der Plattform den Datenaustausch und die Zusammenarbeit von OP-Maschinen unterschiedlicher Hersteller.

Plattformökonomie in der Chirugie

Brainlab sucht den Einstieg in die Plattformökonomie.
Foto: Brainlab

Die Bereitstellung der Middleware ist für Brainlab ein Schritt in den Einstieg in die Plattformökonomie. Dabei hofft man, dass sich rund um Origin ähnlich wie bei IoT-Plattformen à la MindSphere oder Adamos ein eigenes Ökosystem mit neuen Apps und Services bildet. Zudem soll dies das eigene Standing in Sachen Digitalisierung absichern, beziehungsweise ausbauen und den Konzern gegen die Konkurrenz wappnen. Wobei Vilsmeier als Konkurrenz weniger andere Medizinhersteller sieht, sondern vielmehr Computergiganten wie Google und Amazon. Denn auch in der Medizin werden mit AI/ML Daten immer wichtiger. Zumal in den Augen Vilsmeiers die hierzu erforderliche Technik in Form von Cloud, Rechenleistung etc. nun im erforderlichen Umfang verfügbar ist und auch ausreichend skaliert.

Always young - die Hardware

Dies ist auch einer der Gründe dafür, warum Brainlab die Hardwareproduktion noch in diesem Jahr wieder am Standort München insourcen wird. Im Gegensatz zum Maschinen- und Anlagenbau, wo ein PC-Modell auch mal zehn Jahre und mehr eingesetzt wird, verfolgt Brainlab den Anspruch "always young". Sprich die Münchner wollen nach Möglichkeit immer die jeweils aktuellste Hardware verbauen, um so für den rasanten Fortschritt in der digitalen Medizin gerüstet zu sein und den Anwendern Investitionsschutz zu geben. Mit Blick auf die erforderlichen Tests, Zertifizierungen etc. könnte dies am besten am eigenen Standort gewährleistet werden.

Und aktuelle Rechenleistung benötigt die moderne digitale Chirurgie auch. Jüngste Entwicklung sind etwa OPs mit Mikroskop und Augmented-Reality-Unterstützung. Und der Bedarf an Rechen-Power dürfte weitersteigen. Schon sind komplett non-invasive Eingriffe im Gespräch, bei denen Miniatur-Instrumente zur OP über Körperöffnungen eingeführt werden. Assistenzarzt Computer leitet dabei den Chirurgen zur richtigen Stelle. Mit dem steigenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Machine Learning bei der Operationsunterstützung dürften die Hardwareanforderungen sogar explodieren.