Der Offshore-Trend erreicht Europa

14.05.2006 von Sabine Prehl
Analysten warnen jedoch vor voreiligen Projekten und einer einseitigen Fixierung auf die Kostenseite.

Ungeachtet der Bedenken gegenüber dem Arbeitsplatzabbau im eigenen Land und der Risiken von Projekten in Niedriglohnländern ist der Trend zum Offshoring nicht mehr aufzuhalten. Während US-amerikanische Firmen ihre IT schon seit Jahren in Länder wie Indien auslagern, haben jetzt offenbar auch die Europäer erkannt, welches Potenzial im Offshoring steckt.

Hier lesen Sie...

  • worauf sich das rasante Wachstum des Offshore-Markts gründet;

  • welche Vor- und Nachteile die einzelnen Offshore- und Nearshore-Länder bieten;

  • inwiefern die qualitative Komponente globaler Sourcing-Modelle an Bedeutung gewinnt;

  • und welche weiteren Trends sich im Markt abzeichnen.

Für Firmen aus Europa bietet sich das Auslagern in süd- und osteuropäische Länder nicht nur wegen der geografischen Nähe an.

Auf dem Outsourcing-Kongress von Gartner vergangene Woche in London bestand Einigkeit darin, dass das so genannte Global-Delivery-Modell derzeit einen der wichtigsten Wachstumstreiber im europäischen Markt für extern erbrachte Dienstleistungen bildet.

Um insgesamt 50 Prozent werden sich die europäischen Offshore-Ausgaben Berechnungen von Gartner zufolge in diesem und im kommenden Jahr erhöhen. Getragen wird das Wachstum vornehmlich von Firmen aus Großbritannien, doch auch in Deutschland und Skandinavien steigt die Nachfrage: "Der weltweite Anteil an Unternehmen, die sich Offshore-Ressourcen bedienen, wird in den kommenden zwei Jahren von 13 auf 20 Prozent zunehmen", prognostizierte Ian Marriott, Research Vice President bei Gartner. "Europäische Anwender bilden die Speerspitze dieser Entwicklung."

Effizienz und Qualität wichtig

Marriott warnte allerdings da-vor, voreilig auf den Offshoring-Zug aufzuspringen, nur um "dabei zu sein". Angesichts der sich rasant verändernden Marktanforderungen könnten einige Geschäftsmodelle schon bald wieder überholt sein. So eröffneten zurzeit viele europäische Service-Provider Standorte in Niedriglohnländern, um Billigleistungen anbieten zu können. Aber bei weitem nicht allen gelinge es, auch tatsächlich mehr Effizienz, besseren Support und Innovationen für ihre Kunden zu erreichen, da sie sich häufig vorrangig auf die Lösung technischer Probleme zu günstigen Preisen fokussierten.

Indien bleibt die erste Adresse

Dieser taktische Ansatz habe das enorme Wachstum des Offshore-Markts zwar erst ermöglicht. Gleichzeitig sei er jedoch auch der Grund dafür, dass Offshoring nicht nur als Low-Cost- sondern auch als Low-Value-Modell abgestempelt werde: "Der Faktor Kostensenkung ist nach wie vor wichtig, reicht aber künftig allein nicht aus", warnte Marriott. Die Provider müssten sich verstärkt auf die Qualität und Innovationsfähigkeit ihrer Leistungen konzentrieren.

Dauerhaft gute Chancen hät- ten nur Anbieter, die in der Lage seien, eine breite Palette an Dienstleistungen kostengünstig und schnell zur Verfügung zu stellen, über die besten Skills verfügten und an den jeweils strategisch günstigsten Orten präsent seien. "Es geht darum, die eigenen Prozesse zu verbessern, um Services und Sourcing-Optionen anbieten zu können, mit denen der Kunde seine Wettbewerbsfähigkeit zu steigern vermag."

Weltweit die erste Adresse für Offshore-Dienstleistungen ist nach wie vor Indien, während China und Brasilien um den zweiten Platz konkurrieren. Allerdings ist die Zahl an fähigen Fachkräften auf dem Subkontinent begrenzt und die Mitarbeiterfluktuation hoch, außerdem steigt das Lohnniveau. "Indien läuft Gefahr, Opfer des eigenen Erfolgs zu werden", warnte Marriott. Der Experte riet europäischen Firmen daher, nach Alternativen Ausschau zu halten, die ihren individuellen Bedürfnissen besser gerecht werden. Auch China, Brasilien und Mexiko seien nur bedingt geeignet. Marriott bemängelte vor allem die dürftigen Englisch-Kenntnisse, die mangelhafte Marktreife und die Konzentration der Anbieter auf US-amerikanische Kunden. Unterm Strich seien Nearshore-Regionen in Süd- und Osteuropa für europäische Unternehmen die bessere Wahl (siehe Kasten: "Nearshoring: Die Alternative für Europas Firmen")

Global-Sourcing-Trends

  • Steigende Servicequalität zu günstigen Preisen;

  • zunehmende Auswahl an Services, Delivery-Modellen, Anbietern und Ländern;

  • gleichzeitige Nutzung von Onshore-, Offshore- und Nearshore-Resourcen;

  • Standardisierung von einfachen Dienstleistungen;

  • reine Kostenfixierung verliert an Bedeutung.

Ob Offshoring oder Nearshoring - die größte Nachfrage nach Niedriglohnservices besteht nach wie vor in den Bereichen Anwendungsentwicklung und -wartung, Softwareentwicklung und Testing. Auch Call-Center- und IT-Infrastruktur-Dienstleistungen werden zunehmend offshore erbracht.

Steigende BPO-Nachfrage

So hat das Auslagern der IT-Infrastruktur als Kern vieler IT-Outsourcing-Vorhaben einen hohen Reifegrad erreicht und lässt sich mit Hilfe technischer Neuerungen - etwa dem Monitoring per Fernzugriff - mittlerweile auch aus entlegenen Regionen managen. Gleichzeitig sehen die Gartner-Beobachter hier einen klaren Trend zum Utility-/On-Demand-Computing, also zur Standardisierung und Industrialisierung von IT-Services. Die Provider seien daher gezwungen, personalintensive Tätigkeiten verstärkt zu automatisieren und statt auf den Kunden zugeschnittenen One-to-One-Dienstleistungen standardisierte One-to-Many-Umgebungen anzubieten.

Das größte Wachstumspotenzial liegt nach Ansicht der Experten derzeit im Business Process-Outsourcing (BPO). Weltweit soll dieses Segment bis 2008 um durchschnittlich 9,2 Prozent zulegen, wobei der Offshore-Anteil stetig zunimmt. Da Offshorer wie TCS oder Infosys ihre Angebote um höherwertige Dienstleistungen bis hin zum BPO und KPO- (Knowledge-Process-Outsourcing) erweitern, um langfristige Geschäftsbeziehungen aufzubauen, seien die europäischen, reinen BPO-Spezialisten gezwungen, ihre Wertschöpfung um Angebote in Niedriglohnländern zu ergänzen, um dem neuen Preisdruck standzuhalten. Gleichzeitig steigt der Standardisierungsgrad der Services: "Einfache Tätigkeiten wie Lohn- und Gehaltsabrechnungen werden künftig etwa in Guatemala konzipiert, in China gedruckt und in einem europäischen Land weiterbearbeitet", beschreibt Gartner-Analystin Cathy Tornbohm. Die Kunden könnten von diesen Trends nur profitieren: "Offshore- und Nearshore-BPO bieten hohe Qualität zu niedrigen Preisen."

Nearshoring: Die Alternative für europäische Firmen

Langjährige EU-Länder:

Irland, Nordirland, Spanien

Vorteile

  • Robuste Infrastruktur;

  • politisch und wirtschaftlich stabil;

  • keine Visumspflicht für EU-Bürger;

  • Datenschutz nach EU-Richtlinien;

  • Förderung von ausländischen Investitionen (Irland, Nordirland);

  • Muttersprache Englisch (Irland, Nordirland).

Nachteile

  • Vergleichsweise hohes Preisniveau.

Neuere EU-Länder:

Tschechien, Lettland, Polen, Ungarn, Slowakei

Vorteile

  • Niedriges Preisniveau;

  • politisch und wirtschaftlich relativ stabil;

  • keine Visumspflicht für EU-Bürger;

  • Datenschutz nach EU-Richtlinie;

  • gute technische und betriebswirtschaftliche Kenntnisse;

  • gute Deutsch- und Englischkenntnisse.

Nachteile

  • Begrenzte Zahl an Experten.

Nicht-EU-Länder:

Rumänien, Russland

Vorteile

  • Baldige EU-Aufnahme (Rumänien);

  • niedriges Preisniveau;

  • Förderung von ausländischen Investitionen;

  • gute technische Kenntnisse;

  • Umfassende Sprachkenntnisse (Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch).

Nachteile

  • Mangelhafte Infrastruktur;

  • unzureichende Globalisierung;

  • Visumspflicht;

  • politisch und wirtschaftlich relativ instabiles Umfeld.

Onsite-Offshore-Kombination

Nicht nur im BPO-Geschäft - generell geht es nach den Erfahrungen der Gartner-Experten immer weniger um die Frage: Offshore - ja oder nein, sondern vielmehr darum, je nach Einsatzgebiet die Nutzung von Onsite-, Onshore-, Nearshore- und Offshore-Ressourcen zu kombinieren, um optimale Ergebnisse zu erzielen. Der bislang wichtigste Wettbewerbsvorteil der Offshore-Anbieter, günstige Preise in Niedriglohnländern offerieren zu können, verliere damit allmählich an Bedeutung - zugunsten von anderen Differenzierungsmerkmalen wie Qualität, Schnelligkeit und Innovation. Dieser Trend sei jetzt schon zu beobachten. Erwarteten sich Offshore-Kunden noch bis vor kurzem ausschließlich Kostenvorteile, gehe es vielen heute vorrangig um Effizienz. Langfristig werde jedoch verstärkt der Wert, den die Dienstleistungen zu ihrem Geschäft beitragen, in den Vordergrund rücken.