Bonn diskutiert die Werte der Informationsgesellschaft

Der Nutzen des Internet für die Gesellschaft ist ungewiß

27.09.1996

Wenig bekam Bundesminister Rüttgers von der Diskussion mit. Nachdem er mit einigen einleitenden Worten für eine mündige Informationsgesellschaft geworben hatte, enteilte er zu einer wichtigen Haushaltssitzung. Den Kongreßteilnehmern teilte er mit, daß Deutschland mit 2,7 Millionen ISDN-Anschlüssen technisch gut auf die Informationsgesellschaft vorbereitet sei. Für die richtigen Rahmenbedingungen werde das für 1997 vorgesehene Multimedia-Gesetz sorgen, nach dem zum Beispiel der Gewerbeschein reichen soll, um Online-Dienste anbieten zu dürfen. Doch schon bei den Infrastrukturdaten gab es Widerspruch von Thomas Middelhoff, Vorstandsmitglied der Bertelsmann AG, Gütersloh: "Wir mögen bei den ISDN-Anschlüssen führend sein. Bei der Kabelverfügbarkeit, den installierten PCs, der Modemverbreitung sind wir es nicht." (vgl. Abbildung).

In dasselbe Horn stößt Robert Cailliau, Leiter des Web-Office im Forschungszentrum CERN und Miterfinder des Wold Wide Web (WWW). Er kritisierte das mangelnder Engagement deutscher Institutionen und Firmen. So fänden sich nur vier von ihnen im World Wide Web Consortium (W3W), das weltweit 150 Mitglieder zählt. Auch vor überzogenen Hoffnungen, mit dieser Technik die Wirtschaft anzukurbeln und damit Arbeitsplätze zu schaffen, warnt der Techniker. Dafür fehlten in Europa die Rahmenbedingungen: Diesseits des großen Teiches, so das harsche Urteil, gebe es so gut wie keine eigenständige Computer- oder Software-Industrie. Aus diesem Grund, folgerte ein Teilnehmer aus Cailliaus Aussage, würden im Falle eines anhaltenden

Internet-Booms zwar Arbeitsplätze geschaffen, doch dies in den USA, nicht hierzulande.

Auch Michael Sommer, Vorstandsmitglied der Deutschen Postgewerkschaft, glaubt nicht, daß die Informationstechnik zu einem Job-Boom führen wird. Seine Erfahrung lehrt ihn, daß Datenverarbeitung im wesentlichen ein Rationalisierungsinstrument ist, das nun auch den Dienstleistungssektor ergreift. Dennoch bekennt sich Sommer zur Informationsgesellschaft, denn: "Schlimmer als deren mögliche Konsequenzen wären die sicheren Folgen eines Verzichts."

Die Einschnitte der nächsten Jahre werden, so Sommers Szenario, gravierend sein. Der Betrieb als sozialer Ort wird verlorengehen, aber auch als Bereich, in dem sich Arbeitszeit- und -ablauf, betriebliche Mitbestimmung sowie Entlohnung kontrollieren ließen. Außerdem müssen die Arbeitnehmer künftig weltweit mit ihren Kollegen konkurrieren. All diese Veränderungen verlangten nach neuen Regelungen, die dem Grundsatz folgen sollten den Nutzen zu mehren und Schaden abzuwenden.

Eine Zwickmühle für die Politik

Klaus Leggewie, Soziologe an der New York University, sieht das Internet als Teil einer generellen Globalisierung der Gesellschaften. Sie bringe die Politik in eine grundsätzliche Zwickmühle. So sei der Bundestag immer öfter gezwungen, über Sachfragen zu entscheiden, die nur international gelöst werden können. Die in Rücksicht auf europäische oder weltweite Verhältnisse getroffenen Entscheidungen müßten aber dennoch vor der nationalen Bevölkerung gerechtfertigt werden. Leggenies Anspielung bezieht sich auf EU-Regelungen, Umweltfragen, Steuergesetze für international agierende Unternehmen und natürlich auch auf mögliche Internet-Gesetze.

Nicht diskutiert wurde in diesem Zusammenhang die Frage, wo der Gerichtsstand für via Internet begangene Rechtsbrüche liegt. Auch bleibt offen, ob ein deutscher Kunde jedes Recht auf Verbraucherschutz verliert, wenn er eine Ware per Internet von einem ausländischen Anbieter ordert.

Während Leggewie neben Gefahren durchaus auch Chancen in der Globalisierung erkennt, betont sein Freiburger Professorenkollege Ludger Kühnhardt vor allem ihre Risiken. Schon jetzt sei der Verfall gültiger Normen zu beklagen. Immer öfter sei auch von der Atomisierung der Gesellschaft die Rede. Solche Trends werden seiner Meinung nach durch ein offenes, weltweites Medium wie das Internet noch verstärkt. Es könne nicht angehen, daß über das Internet von nicht durch Wahlen autorisierten, ja sogar anonymen Instanzen unkontrolliert Meinungen etabliert würden, deren Konsequenzen dann andere zu tragen hätten.

Für die negativen Folgen der Globalisierung macht die Bevölkerung, so Kühnhardt, zu Recht ihre Regierung verantwortlich. Deshalb müsse der Staat seine Interessen klar definieren und seiner Autorität durch "anspruchsvolle Institutionen" Geltung verschaffen. Das gelte auch gegenüber der Wirtschaft, deren Vorschläge, wenn sie funktionierten, zwar zu Prosperität und innerem Frieden beitrügen, nicht aber zur die Stärkung der Demokratie.

Soziologe Klaus Leggewie greift bei der Frage nach dem demokratischen Potential des Internet auf seine Erfahrungen in den USA zurück. Anders als beim Fernsehen und anderen Massenmedien, wo Informationen einseitig von einem Sender an viele Empfänger weitergegeben werden, findet im Netz technisch eine gleichberechtigte Kommunikation vieler mit vielen statt. Diese führe einerseits zu einem weltweiten Austausch von Meinungen, andererseits aber auch zu einer lokalen Verdichtung von Informationen. Letzteres sei vor allem in den USA von Bedeutung, wo es eine lange Tradition der "Community" gebe.

Der Mangel an staatlicher Absicherung habe dort die Nachbarschaftshilfe zu einem eigenständigen Wert werden lassen. Daher stamme auch der in den USA berechtigte Optimismus, im Internet werde sich eine globale Gemeinschaft bilden. Die globale Ausrichtung des Web gibt auch den Europäern die Möglichkeit, sich einen Teil dieses Gemeinsinns anzueignen.

Als weiteres Beispiel nennt er den amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore, zu dessen Aufgaben es gehört, die Art des Regierens neu zu erfinden. Sein Ziel, mehr Bürgernähe und einen schlanken Staat zu schaffen, will er mit Hilfe des Internet umsetzen. Partizipation heißt hier das Zauberwort. Die Bürger sollen intensiver in die Entscheidungen von Behörden einbezogen werden. Im Bundesstaat Oregon wurden sogar Kommunalwahlen per Web erprobt. Die Wahlbeteiligung erwies sich als weit höher als gewohnt.

Auch jenseits des großen Teichs gibt es Befürchtungen, daß sich beim elektronischen Bürgerentscheid die Verfahren verlängern und die Teilnehmer aufgrund der einfachen Technik ihre Wahl quasi im Vorbei-Surfen spontan treffen anstatt ihre Entscheidung vorher gründlich zu überdenken. Auch ist das Problem der eindeutigen Identifizierung der Wähler noch nicht gelöst. Es könnte aber auch sein, daß die größere Bürgernähe zu intensiveren Online-Diskussionen führt und eine transparente Verwaltung langfristig die Prozesse verkürzt. Um die Wahrheit herauszufinden, diskutieren die Amerikaner nicht lang, sondern probieren die elektronische Bürgerbeteiligung einfach aus.

Das Web schafft keinen Gemeinsinn

Der Soziologe warnt allerdings davor, im Internet das wiedererstandene Athen, die Mutter der Demokratie zu sehen. "Wenn die Gemeinschaft funktioniert, dann hilft die Netzkommunikation neues Potential zu erschließen", so Leggewie. Verlorengegangenen Gemeinsinn kann sie nicht wiederbringen. Deshalb warnt der Soziologe auch vor Sozialabbau und wirtschaftlichem Egoismus - Entwicklungen, die das Nachbarschaftsideal in den USA bereits stark in Mitleidenschaft gezogen haben. Zerstört würden die positiven Möglichkeiten aber auch, wenn die Offenheit und der in den USA weitgehend kostenfreie Zugang zum Internet aufgrund kommerzieller Interessen abgeschafft werden.