Der Mittelstand entdeckt Osteuropa

26.05.2004 von Holger Eriksdotter
Die EU-Osterweiterung rückt Länder, die schon vorher eine Rolle im Outsourcing-Geschäft spielten, näher an Westeuropa heran. Vielen deutschen Unternehmen fällt jetzt die Entscheidung für die Auslagerung von IT-Aufgaben leichter. Die osteuropäischen Nachbarn bieten gerade für kleine und mittelständische Firmen eine reizvolle Alternative.
Die Europäische Union wächst - jetzt wagen auch mittelständische Firmen, IT-Aufgaben auszulagern. Foto: Audiovisual Library European Commission

Als klassisches Land für Offshore-Outsourcing gilt bisher vor allem Indien mit seinen sehr niedrigen Gehältern und gut ausgebildeten Programmierern. Die Nachteile wurden dabei nur allzu leicht übersehen. Die Auftraggeber unterschätzten sprachliche Barrieren, Zeitverschiebung, kulturelle Differenzen und vor allem die Probleme des Projekt-Managements und der Qualitätssicherung.

Während große Unternehmen wie SAP, Daimler-Chrysler oder Siemens sowohl das Know-how als auch die Kapitaldecke besitzen, um in Joint Ventures oder Tochtergesellschaften vor Ort Einfluss auf Projektablauf und Qualitätskontrolle zu nehmen, haben kleine und mittelständische Unternehmen (KMUs) einen schwereren Stand. "Großunternehmen sind eher in der Lage, das größere Gehaltsgefälle auszuschöpfen; für sie ist ein Outsourcing nach Asien oft interessanter als nach Osteuropa", sagt Thomas Haeck, Offshore-Berater aus Düsseldorf, und ergänzt: "KMUs dagegen unterschätzen leicht die Risiken und den erheblichen Mehraufwand zur Steuerung indischer oder chinesischer Projektteams."

Mittelständische Unternehmen sind nach Ansicht von Szenekennern mit einem mittel- oder osteuropäischen (MOE) Offshore-Partner meist besser beraten. Dabei spielt die geografische Nachbarschaft ebenso eine Rolle wie die kulturelle Nähe. Auch die sprachlichen Probleme sind leichter in den Griff zu bekommen. In vielen osteuropäischen Ländern gibt es eine große Affinität zu Deutschland, Deutsch ist oft erste Fremdsprache, hinlängliche Englischkenntnisse sind die Regel.

Rechtssicherheit steigt

Neben den EU-Neulingen sind es vor allem Rumänien, die Ukraine und Russland, die sich schon einen Namen als "Nearshore-Länder" gemacht haben. "Für Standorte, die unter drei Flugstunden zu erreichen sind, hat sich der Begriff Nearshore etabliert - das trifft auf fast alle osteuropäischen Länder zu", sagt Timm Beyer, Vorstand des auf Nearshore-Projekte spezialisierten IT-Beratungsunternehmens Skilldeal AG in Berlin. Mit der EU-Osterweiterung werde sich nach Beyers Einschätzung wenig ändern. "Die Rechtssysteme der Beitrittskandidaten sind schon jetzt an westlichen Standards ausgerichtet; das wird sicher noch besser werden, aber auch die bisherigen Verhältnisse waren kein entscheidendes Hemmnis für gemeinsame Projekte", so Beyer. Wichtiger sei, dass durch den EU-Beitritt die Länder im Osten auch im Bewusstsein an Westeuropa heranrückten. "Die MOE-Länder werden eher als potenzielle Partner wahrgenommen", sagt Beyer. Neben den gefallenen Zollschranken,

die allerdings für Dienstleistungen wenig Bedeutung haben, nehme vor allem die "gefühlte Rechtssicherheit" zu.

Verständigungsprobleme bleiben

Schon jetzt blicken viele Unternehmen auf Nearshore-Projekte mit MOE-Partnern zurück. Beyer hat für die Studie "Auslagerung von IT-Dienstleistungen nach Mittel- und Osteuropa" 55 mittelständische deutsche Unternehmen befragt. 38 Prozent hatten bereits Projekte mit osteuropäischen Partnern betrieben, 78 Prozent können sich eine solche Zusammenarbeit gut vorstellen. Dabei spielen Kosteneinsparungen die entscheidende Rolle: Mehr als 80 Prozent bezeichneten die angebotenen Preise der MOE-Unternehmen als gut oder sehr gut. 76 Prozent schätzen die Fachkenntnisse der Osteuropäer. Ein Knackpunkt bleibt allerdings die Kommunikation, die als das größte Hemmnis wahrgenommen wird. Während knapp 40 Prozent damit zufrieden waren, stuften ebenso viele die Kommunikation als schlecht oder sogar sehr schlecht ein.

Trotz möglicher Risiken veranlassen knappe IT-Budgets und Kostendruck immer mehr mittelständische Unternehmen, über Offshore-Projekte nachzudenken. Wie viel sie einsparen können, hängt von der Art des Projekts und dem gewählten Land ab.

Denn auch in den osteuropäischen Ländern sind die Gehälter keineswegs homogen. Wer allerdings mit der Erwartung an ein Offshore-Projekt herangeht, Einsparungen in voller Höhe der Gehaltsdifferenz zu erzielen, wird mit Sicherheit enttäuscht: Kosten für das Einrichten von Prozessen, Projekt-Management und Qualitätssicherung, Reisen und Kommunikation schlagen in erheblichem Maße zu Buche. Erfahrungsgemäß sind Kosteneinsparungen in Höhe von 20 bis 30 Prozent gegenüber rein deutschen Projekten realistisch.

Kooperation nutzen

Inzwischen haben sich in Deutschland viele Offshore-Dienstleister etabliert. Ihr Angebot reicht von der Vermittlung eines osteuropäischen Partnerunternehmens über die Projektleitung mit einem deutschsprachigen Manager bis zur Generalunternehmerschaft, bei der ein deutsches Unternehmen alleiniger Vertragspartner bleibt. Auch indische und osteuropäische Outsourcing-Unternehmen bilden zunehmend Brückenköpfe in Deutschland. Sie gründen Tochterunternehmen oder übernehmen kleine deutsche IT-Dienstleister. "Die Vorteile des so genannten verdeckten Offshoring, bei dem allein ein deutsches Partnerunternehmen verantwortlich zeichnet, das seinerseits das ganze Projekt oder Teile davon mit einem Offshore-Partner abwickelt, sind die höhere Rechtssicherheit, der Ansprechpartner vor Ort und die Hilfe beim Einrichten der Prozesse", sagt Skilldeal-Vorstand Beyer. Allerdings sei bei größeren Vorhaben meist auch die direkte Kommunikation zwischen Auftraggeber und

Offshore-Partner die Regel, und die Einsparmöglichkeiten sind geringer als bei der direkten Vergabe an einen Offshore-Dienstleister.

Die Bertelsmann-Tochter Arvato Systems etwa bietet unter der Bezeichnung "Rightshoring" die gesamte Palette an Offshore-Dienstleistungen an: von der Beratung über die Projektierung und Auslagerung von Projekten oder Teilen davon in die neuen Bundesländer, nach Osteuropa oder Asien bis zur Generalunternehmerschaft. "Wir helfen auch bei der Planung, welche IT-Dienstleistungen an welchem Standort am besten zu erbringen sind", sagt Matthias Moeller, Geschäftsführer der Arvato Systems Technologies in Rostock. "In vielen Fällen lassen sich schon erhebliche Kostenvorteile in den neuen Bundesländern erzielen, größere Projekte können meist in Teilleistungen zerlegt werden, für die wiederum unterschiedliche Länder die besten Voraussetzungen bieten."

Aber genau dieses Wissen, welche IT-Dienstleistungen an welchen Standorten am günstigsten zu bekommen sind, in welchen Bereichen Offshore-Partner spezielle Erfahrungen mitbringen, wo das Gehaltsgefälle am größten ist und welche IT-Qualifikationen anzutreffen sind, fehlt in den mittelständischen Unternehmen. Selbst Experten haben es schwer, die Übersicht zu behalten.

Sich auf gut Glück für ein Offshore-Unternehmen zu entscheiden ist keine erfolgversprechende Strategie. "Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unternehmen ohne Erfahrung in diesem Bereich auf den richtigen Offshore-Dienstleister trifft und nennenswerte Kostenvorteile erzielt, ist äußerst gering", meint Beyer.

Recherche vor Ort

Offshore-Experten raten deshalb, sich vor Projektbeginn intensiv mit der Materie zu befassen. Viele Faktoren sind entscheidend: Kann das Partnerunternehmen Erfahrungen in dem gefragten Bereich vorweisen? Gibt es deutsch- oder englischsprachige Ansprechpartner? Ist die Infrastruktur und Kommunikationslandschaft auf dem neuesten Stand? Offshore-Experte Haeck rät sogar zu weitergehenden Recherchen. "Man sollte so viel wie möglich über den potenziellen Partner in Erfahrung bringen und auch das Unternehmen vor Ort in Augenschein nehmen." Weil es meist um viel Geld geht, könne es sich auch lohnen, auf lokales Consulting zurückzugreifen, um sich über Management, Kapitalausstattung, Renommee und vielleicht sogar Fluktuationsrate des potenziellen Outsourcing-Partners ein genaueres Bild zu verschaffen.

Grundsätzlich sind natürlich auch Mittelständler in der Lage, auf eigene Faust mit Offshore-Partnern erfolgreich Projekte zu realisieren. Aber anders als in Großunternehmen ist die Personaldecke meist zu knapp, um Mitarbeiter eigens mit dem Management der Projekte zu betrauen. "Wenn ein Mittelständer einige qualifizierte Leute von der operativen IT freistellt, die sich voll dem Offshore-Projekt widmen können, hat das gute Erfolgsaussichten", sagt Beyer von Skilldeal. Das aber sei nur selten der Fall, weil schon die operative IT die vorhandene Manpower verzehre. "Ein interkulturelles Offshore-Projekt verschlingt erheblich mehr Organisations-, Kommunikations- und Management-Aufwand als mit einem deutschen IT-Dienstleister vor der Tür; das lässt sich nicht nebenbei abwickeln", warnt Beyer.

Gute Noten für Offshore-Firmen

Grund dafür ist aber weder die Qualifikation noch die Motivation der ausländischen Mitarbeiter. Im Gegenteil: In beiden Bereichen erhalten die Offshore Unternehmen beste Noten. "Gerade in Osteuropa ist eine Aufbruchsstimmung zu verzeichnen, die etwas an die deutschen Wirtschaftswunderzeiten erinnert", sagt Dirk Buchta, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Managementberatung A.T. Kearney. Die Motivation und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter sei vorbildlich und weit besser als in vielen deutschen Betrieben: "Die sehen die Möglichkeit, mit harter Arbeit ihren Wohlstand zu vergrößern, und ergreifen die Chance."

Eine Studie des Beratungsunternehmens Deloitte & Touche, die das Offshoring im Telekommunikationssektor untersucht, kommt zu dem Schluss, dass Outsourcing oft zu besserer Qualität bei sinkenden Kosten führen kann. "Die Ausbildung in den Offshore-Ländern ist häufig so gut, dass die Mitarbeiter zum Teil qualifizierter als die eigenen sind und man trotzdem noch Geld sparen kann", sagt Studienleiter Igal Brightmann.

Osteuropa als Zwischenstation

Allerdings steigen schon heute die Gehälter in den EU-Betrittsländern. Ungarische Unternehmen vergeben inzwischen IT-Projekte nach Rumänien, weil sie sich dort noch erheblich günstiger abwickeln lassen, berichtet Offshore-Berater Haeck. Das sei aber kein Grund, die Beitrittsländer zu meiden, sagt Buchta: "Es wird noch viele Jahre dauern, bis die Gehälter auch nur annähernd westeuropäisches Niveau erreichen." Fünf bis zehn Jahre, rechnet der Spezialist von A.T. Kearney, werden mindestens vergehen, in denen sich Offshore-Projekte in den Beitrittsländern noch gut rechnen. Und danach könne man sich in der globalen Landschaft neu orientieren: "Wer ein erfolgreiches Outsourcing-Projekt mit einem osteuropäischen Land hinter sich gebracht hat, der hat auch die Methoden und Prozesse etabliert und kann problemlos zu einem asiatischen Dienstleister wechseln", sagt Buchta.