Der Erfolg hängt nicht von Methoden und Werkzeugen ab

Der maßgebliche Faktor ist die organisatorische Einbindung

01.05.1992

CASE tangiert nicht nur die DV-Abteilung, sondern das gesamte Unternehmen. Der wirtschaftliche Erfolg dieser Technologie hängt also davon ab, inwieweit die CASE-Prozesse in die Unternehmensorganisation eingebunden sind. Hermann Henrich* erläutert, warum das so ist und was das Top-Management zum Erfolg beitragen kann.

Obschon der Einsatz des computerunterstützten Software-Engineering heute kaum mehr umstritten ist, wurde auf der letzten "CASE-World"-Konferenz in Hamburg festgestellt, daß nur etwa 15 Prozent der Unternehmen heute schon entsprechende Werkzeuge einsetzen. Erst Mitte der 90er Jahre, so die Prognosen, dürfte die Hälfte aller neuen Softwaresysteme mit CASE-Tools erstellt werden.

Worin liegt diese Diskrepanz zwischen einem als wünschenswert anerkannten Werkzeugeinsatz und der Realität begründet? Die Frage läßt sich leicht beantworten: Weder die Methode noch das Werkzeug sind dafür verantwortlich; die eigentlichen Stolpersteine liegen vielmehr im Umfeld.

Die bereits gesammelten Erfahrungen beweisen, daß CASE sich nur dann erfolgreich einsetzen läßt, wenn die gesamte DV und ihr Umfeld einer Revision unterzogen werden. Diese gewaltige Aufgabe ist allerdings eine große unternehmerische Herausforderung, die ohne leitende Hand des Top-Managements nicht zu bewältigen ist.

Entscheidungen nicht der zweiten Ebene übertragen

Eine von Diebold in Zusammenarbeit mit der Universität Regensburg erstellte Studie zeigt, daß, die CASE-Entscheidungsprozesse im Unternehmen überwiegend vom Mittel- und Top-Management eingeleitet wurden und nur zu 20 Prozent von der Fachabteilungsebene. Die Entscheidung, CASE-Tools einzusetzen, hat einen großen personellen, technischen und organisatorischen Aufwand zur Folge. Diese Entscheidung kann wegen ihrer Tragweite nicht der zweiten Ebene übertragen werden.

Allenthalben wird immer deutlicher, daß Informatikvorsprünge Wettbewerbsvorteile nach sich ziehen. Wie soll aber ein Unternehmen Informatikvorsprünge erzielen, wenn die Anwendungsentwicklung den technischen Möglichkeiten weit hinterherhinkt?

Aus dieser Frage leitet sich die Notwendigkeit ab, das gesamte Top-Management von der Bedeutung einer ingenieurmäßigen Softwareherstellung zu überzeugen und ihm zu vermitteln, daß die effiziente Anwendung der DV und ihr zielgerichteter Einsatz einen entscheidenden strategischen Erfolgsfaktor darstellen.

In mancher Hinsicht eine Schlüsselrolle

Das Top-Management spielt bei der Einführung von CASE in vielerlei Hinsicht die Schlüsselrolle: Es sorgt für das notwendige Budget, den Einsatz externer Berater, die erforderlichen weitreichenden Organisationsveränderungen und - nicht zu vergessen - die notwendige Standfestigkeit, die bei Einführung von Technologieveränderungen unumgänglich ist.

Sehen wir uns nun schlaglichtartig die Besonderheiten von CASE an, so wird klar, wo Handlungsbedarf besteht. Die unbestreitbaren Vorteile von CASE machen gleichzeitig deutlich, mit welchen Schwierigkeiten zu rechnen ist.

So entsteht erstmals eine einheitliche Sprach- und Analyseplattform für alle am CASE-Prozeß Beteiligten; Fachabteilung, Betriebsorganisation und DV werden also durch eine einheitliche Methode verbunden. Dies läßt sich erreichen, indem ein großer Teil der Analysearbeiten von den Mitarbeitern der Fachabteilung getragen wird.

Konflikte mit dem Tagesgeschäft

Die Tatsache, daß an CASE-Projekten zu 40 bis 50 Prozent Mitarbeiter aus den Fachabteilungen mitwirken, heißt aber auch, daß diese Mitarbeiter geschult werden und später über längere Zeit bis hin zur Erstellung des Fachkonzepts zur Verfügung stehen müssen. Hier sind Konflikte mit dem Tagesgeschäft quasi programmiert; außerdem erhalten die Fachabteilungen enorme Einflußmöglichkeiten - im positiven wie im negativen Sinne.

Wird ein Integrated-CASE-Tool eingesetzt, so hat der Anwender eine Tool-Unterstützung von der Analysephase bis zur Realisierung zur Hand - einschließlich einem frühen Prototyping. Dadurch verschwinden die bisherigen Probleme der Divergenz von Fachabteilungswünschen und DV- Realisierung. Darüber hinaus führt die Transparenz der Systemanalyse zu einer besseren Planung, und mit Hilfe eines normierten Verfahrens läßt sich eine detaillierte Modellierung erreichen.

Weitgehende Integration

Die ganzheitliche Einbindung unterschiedlicher Organisationsformen und die Verflechtung diverser Strukturen innerhalb und außerhalb der DV verlangen allerdings Integrationskonzepte, die weit über das hinausgehen, was bisher auch für eine modern arbeitende Datenverarbeitung nötig war. Versteht man CASE als ein durchgängiges Instrumentarium zur Erreichung eines integrierten Software-Entwicklungsprozesses - eingebettet in eine einheitliche Software-Produktionsumgebung -, so ist eine umfassende strategische Informatikplanung unerläßlich. Sie wäre zwar auch ohne CASE-Tools äußerst wichtig; aber mit CASE wird sie zur Pflicht.

Auf der Grundlage eines Gesamtplans

Wie bei jedem anderen technischen Produkt, etwa einer Maschine oder einem Bauwerk, kann das Ganze nur gelingen, wenn die Fertigung der Einzelteile auf der Grundlage eines Gesamtplanes erfolgt. Nur so passen später alle Teile zusammen und bringen den gewünschten technischen Erfolg.

Die strategische Informatikplanung ist mit einem solchen Bauplan gleichzusetzen. Für die Detailplanung ist es unerläßlich, vorab ein Unternehmensmodell zu entwickeln, aus dem zumindest die Kommunikationsströme, alle Anwendungen und ihre Schnittstellen hervorgehen.

Eine solche Informatikplanung birgt aber auch weitere strategische Vorteile: Sie stellt die Weichen für die Softwareproduktion, indem sie beispielsweise klärt, wie die anfallenden Aufgaben gelöst werden sollen: als Eigenentwicklung auf dem Host, mit Hilfe von Mittlerer Datentechnik oder Client-Server-Architekturen, durch Erwerb von Standardsoftware oder in Kooperation mit einem Outsourcing-Anbieter.

Netzwerk statt Hierarchie-Ebenen

Ein aussagefähiges Unternehmensmodell bildet also die Basis dafür, spätere Inkonsistenzen und Redundanzen zu verringern oder gar zu vermeiden.

Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren beim Einsatz von CASE ist die Neuorganisation der Umfeldbedingungen. Dabei ist folgendes zu beachten: Die klassischen Hierachie-Ebenen eignen sich nicht für CASE-Projekte. Deshalb müssen Hierarchien im herkömmlichen Verständnis durch Aufgabenstellungen und Zuständigkeiten über alle Ebenen hinweg neu festgelegt werden. CASE-Projekte erfordern also ein netzwerkartiges Organisationsgeflecht.

Zu diesem Zweck sollte die Anwendungsentwicklung von der Anwendungsbetreuung getrennt werden. Die Anwendungsbetreuung bleibt den Fachabteilungen zugeordnet und sollte mit diesen zusammen die fertigen Programme abnehmen.

Die bisherige Bindung an den einzelnen Entwickler wird durch ingenieurmäßig erstellte Programme entschärft.

Die Anwendungsentwicklung vollzieht sich in abteilungsübergreifenden Projektteams, die die Programme wie ein externer Werkunternehmer entwickeln. Auf diesem Weg lassen sich die Kosten wesentlich transparenter gestalten und damit letztlich begrenzen, indem eine Konkurrenzsituation mit externen Anbietern geschaffen wird.

Innerhalb der Projektteams lassen sich, wie sich in der Praxis zeigt, neue Kommunikationsformen verwirklichen die von der Idee ringförmiger Strukturen getragen werden und zu einem intensiven, über die Grenzen der einzelnen Projektgruppen hinausgehenden Zusammenwirken aller Beteiligten führen können.

Ein neues Rollenverständnis

Im Zentrum steht der Lenkungsausschuß, dem die für

die Fachabtteilung, die DV und die Betriebsorganisation zuständigen Vorstandsmitglieder und Leitungsspitzen angehören. Dieser Ausschuß koordiniert die Gesamtaktivitäten im Team.

Auch hier ist es notwendig, das Top-Management erkennbar hinter dem Projekt steht und - wenn nötig - Projektmitarbeiter ohne Gesichtsverlust austauscht. Der Lenkungsausschuß muß einen qualifizierten Mitarbeiter zum Projektleiter bestimmen, ihn überwachen, aber auch in seiner Position nach außen stärken. Dieser Projektleiter sollte jedoch über eine hohe fachliche und menschliche Qualifikation verfügen.

Wie bereits angedeutet, tangiert die Entscheidung, für CASE nicht nur die DV-Welt. Durch intensive Beteiligung der Fachabteilung läßt sich zwar ein neues Rollenverständnis zwischen der DV- und der Fachabteilung herbeiführen; die starke Einbindung der Fachabteilung bringt aber auch erhebliche Probleme mit sich. Abgesehen von dem enormen Schulungsaufwand ergeben sich Konflikte mit dem Tagesgeschäft, die nur dann zu überwinden sind, wenn vor Beginn der CASE-Entwicklung mit der Fachabteilung klare Absprachen über die Anzahl der abzustellenden. Mitarbeiter und deren Qualifikation getroffen werden.

Klare Absprachen sind notwendig

Probleme könnte auch die Abgrenzung von DV und Betriebsorganisation bereiten, da beide Abteilungen mit Methode und Tool umgehen müssen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Rolle des Top-Managements, das die Organisationsformen schaffen muß, die ein netzwerkartiges kommunikatives Arbeiten in der Anwendungsentwicklung erst ermöglichen.

Hieraus ergeben sich Freiheitsgrade, die schließlich dann auch für den wirtschaftlichen Erfolg von CASE sorgen. Kurzfristige Erfolge darf man vom CASE-Einsatz nicht erhoffen; gerade bei den Anfangsprojekten ist ein Return on Investment kaum zu erwarten. Dafür ergeben sich jedoch mittelfristig erhebliche strategische Vorteile und eine deutliche Steigerung der Softwarequalität. CASE ist mehr als eine DV-Technologie, es ist eine unternehmerische Herausforderung.