Der Blogger, das unbekannte Wesen

29.08.2006
Ein Anker mit dem Slogan "I live by the River", dazu hippe T-Shirts und Tassen mit Logo: Auf den ersten Blick sieht das Kellerbüro von "Spreeblick" in Kreuzberg aus wie einer der vielen kleinen Modedesignerläden in Berlin.

Ganz falsch: "Spreeblick.com" ist einer der beliebtesten deutschen Blogs, wie die interaktiven elektronischen Journale (Weblogs) heißen, und wurde wie "Riesenmaschine.de" 2006 mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet. Täglich hat "Spreeblick" nach eigenen Angaben etwa so viele Leser wie eine Lokalzeitung. Die T-Shirts und Tassen gehören zum Shop des Verlags.

Noch wissen viele Deutsche nicht, was sich hinter den Blogs verbirgt. Die Zahlen zur Szene jedoch sind beeindruckend: Jede Sekunde entsteht angeblich weltweit ein neues virtuelles Tagebuch, und das kalifornische Unternehmen Technorati erwartet, dass sich die Anzahl der Blogs alle fünfeinhalb Monate verdoppelt, weltweit sollen es bereits mehr als 50 Millionen sein. Für Deutschland wird die Zahl der Blogs auf zwischen 400.000 und 500.000 geschätzt. Nico Lumma von "Blogg.de" bei dem Internetnutzer sich ein solches Journal anlegen können, hält die Zahlen allerdings nicht für sehr aussagekräftig, weil ähnlich wie bei E-Mail-Adressen nicht jede angemeldete Seite genutzt wird. "Die Blogosphäre wächst langsam, aber stetig", sagt er.

Ob das von Internetnutzern erstellte Universallexikon "Wikipedia", die Videobörse "YouTube.com" oder die Kontaktbörse "MySpace.com": Das Interesse am World Wide Web ist fast wieder so groß wie zu Zeiten des ersten Internetbooms. Vorher ging es um das schnelle Geld, jetzt soll es um den einzelnen Nutzer und die Macht des elektronischen Kollektivs gehen. Ob Bilder von Hundehaufen oder banaler Tagebucheintrag, ob Reisebericht, fundierte politische Analyse oder Medienkritik: Jeder sagt, zeigt und schreibt so ziemlich, was er will, und das bei potenziell weltweiten Reaktionen.

Besonders bei Kriegen und Naturkatastrophen haben etablierte Medien den Wert der Internet-Tagebücher zu schätzen gelernt. Der "Spiegel" widmete der neuen Internetgeneration ("Web 2.0") und dem "bunten, chaotischen Mitmach-Marktplatz" kürzlich eine – unter Insidern vernichtend geschmähte - Titelgeschichte. Auch bei der Medienwoche Berlin-Brandenburg geht es an diesem Donnerstag um die "digitale Avantgarde".

Johnny Haeusler von "Spreeblick" kann dem Hype um "Web 2.0" nicht viel abgewinnen. "Es ist nicht die Revolution, aber es haben sich im Web Dinge geändert", sagt er. Den Partner übers Internet zu finden, sei heutzutage zum Beispiel eine selbstverständliche Möglichkeit geworden. Die Themen bei "Spreeblick" reichen von der Werbekampagne "Du bist Deutschland" über die Praktiken des Klingeltonanbieters Jamba bis zu Kolumnen von der Computerspiele-Messe in Leipzig. Die Spannbreite erstreckt sich von der popkulturellen Analyse bis zum ironischen Zwischenruf. Ein "Spreeblick"-Beitrag von Bloggerin Tanja lautet: "Die Auslegware (!) im Klassenzimmer meines Sohnes ist 27 Jahre alt... musste ich gerade mal loswerden. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!" Dafür erhielt sie immerhin 55 Kommentare.

Haeusler (42), der früher auch erfolgreicher Musiker und Radiomoderator war und sich schon seit 1990 mit dem Internet befasst, liest zu Hochzeiten am Tag 300 Kommentare seiner Leser. Und er antwortet ihnen, auch von unterwegs mit dem Handy. Alle paar Minuten ertönt aus seinem Laptop ein leiser Gong: Wieder hat sich ein "Spreeblick"-Leser zu Wort gemeldet. Besonders hitzig werden die Reaktionen beim Thema Religion oder beim Libanon-Konflikt. Es gab auch schon Zeiten, da hatte Haeusler tagelang daran zu knapsen, dass ihn seine Leser persönlich angegriffen hatten.

"Man muss schon ein Stück weit eine Rampensau sein", sagt Nico Lumma über das Wesen der Blogger. Über die Qualität der Einträge kann man streiten: Als "Klowände des Internet" hat ein prominenter Werber die Blogs bezeichnet, die "Süddeutsche Zeitung" sah sich im "Ozean der Banalitäten" (ließ ihre Online-Redakteure aber später selbst bloggen, was dann grandios floppte). Haeusler vergleicht Blogs mit Graffiti, die Kritzelei oder Kunst sein können.

Und wo geht die virtuelle Reise hin? Wird Bloggen einmal so selbstverständlich wie Fernsehen? Der Kommunikationswissenschaftler Jan Schmidt von der Universität Bamberg glaubt nicht daran. "Blogs werden die klassischen Massenmedien nie ersetzen, allenfalls ergänzen." In einer Umfrage haben die Forscher die wichtigsten Motive der deutschen Blogger herausgefunden: Spaß, Lust am Schreiben und Freude am Festhalten von Erlebnissen für sich selbst und andere.

Übrigens: Auch Firmen interessieren sich ja aus unterschiedlichen Gründen inzwischen für Blogs und Blogger. "Don Alphonso", der legendäre Totengräber der New Economy, hat gerade eine – wie immer subjektive – Liste derjenigen Berater veröffentlicht, die seiner Ansicht nach zum Thema kompetent Auskunft und Hilfestellung geben können. (dpa/tc)