Abschied von klassischen Laufbahnen

Datev setzt auf agile Entwicklung

07.11.2017 von Peter Krug und Julia Bangerth
Wer den Schritt in die digitale Welt geht, muss ihn gut vorbereiten, um alle Beschäftigten mitzunehmen. Denn in der neuen Welt erwarten Chefs und Mitarbeiter neue Aufgaben und neue Rollen, wie das Beispiel Datev zeigt.

Das traditionelle Vorgehen in der Softwareentwicklung mit komplexen Gesamtlösungen und streng hierarchischen, kaskadierenden Projektplänen ist einer Welt, in der alles mit allem verbunden und in stetem Wandel begriffen ist, nicht mehr gewachsen. Entscheidend ist nicht die minutiöse Umsetzung eines Plans, sondern die Schnelligkeit und Flexibilität in der Anpassung an sich ändernde Rahmenbedingungen.

Der Datev IT-Campus 111 beherbergt alle Entwicklungsabteilungen mit insgesamt 1.800 Mitarbeitern.
Foto: Datev

Für ein traditionsreiches Unternehmen wie Datev bedeutet dies, mit alten Mustern zu brechen. Doch wie lässt sich ein solcher Bruch in einer Organisation bewerkstelligen, die über 50 Jahre hinweg gewachsen ist und allein in der Softwareentwicklung rund 2.000 Mitarbeiter beschäftigt? Der US-amerikanische Informatiker Melvin Conway hat festgehalten, dass sich der Aufbau einer Organisation in der Struktur ihrer Softwareprodukte widerspiegelt und umgekehrt. Das Denken in großen Gesamtlösungen hatte folgerichtig eine streng hierarchische Struktur hervorgerufen. Will man nun eine stärker modulare, kollaborative Lösungspalette entwickeln, braucht es eine Struktur, die ebenfalls auf Kommunikation, Zusammenarbeit und Flexibilität ausgerichtet ist: Das Stichwort lautet Agilität.

Abstimmungen waren räumlich aufwendig

Für die Datev begann diese Entwicklung um das Jahr 2010. Damals war der Entwicklungsbereich über mehrere Standorte verteilt. Neben den hierarchischen Barrieren der Organisation waren Abstimmungen unter Teams verschiedener Bereiche auch räumlich aufwendig. In dieser Situation ergab sich die Möglichkeit, in günstiger Lage einen geeigneten Bauplatz zu erwerben. Schnell war entschieden, dass ein gemeinsames Dach für alle die Basis bilden sollte, um die bestehenden Silos aufzubrechen und räumliche Barrieren abzubauen.

Geplant wurde ein Neubau, der eigens für die neuen Anforderungen der Softwareentwicklung konzipiert war: Er sollte im direkten Umfeld jedes Arbeitsplatzes vielfältige flexible Möglichkeiten bieten, um je nach Situation konzentriert, kreativ oder auch kommunikativ arbeiten zu können. So wurden Rückzugsräume, kleinere und mittlere Besprechungszentren sowie Kommunikationszonen geplant. Eine zentrale Verbindungs­achse mit Konferenz- und Verpflegungsbereichen sowie kreativ gestalteten Innenhöfen ist ein Ort, an dem man sich auch ungeplant begegnet.

Die technische Ausstattung wurde von einem abteilungsübergreifenden Team geplant. Es entwickelte eine Infrastruktur, mit der jeder Mitarbeiter an jedem Arbeitsplatz voll ­arbeitsfähig ist, so dass auch heterogen zusammengesetzte Projektteams optimale Arbeits­bedingungen haben. Getestet und weiterentwickelt wurde das Konzept in einem Pilotbüro mit rund 100 Arbeitsplätzen, aus dem ebenfalls zahlreiche Verbesserungsvorschläge kamen. Nach vierjähriger Planungs- und Bauzeit weihte Datev den IT-Campus 111 im Frühjahr 2015 ein. Seither ist er der Rahmen für agile Entwicklungsmethoden.

Hierarchiefreie Vernetzung gewünscht

Parallel zum Neubau entstanden als Graswurzelbewegung sogenannte Communities of Practice, die als wichtige Kristallisationspunkte für die Verbreitung von agilen Methoden und Ideen in der Belegschaft fungieren. Sie bilden den Rahmen für eine hierarchiefreie Vernetzung der Mitarbeiter untereinander. Waren es zunächst kleine Netzwerke Gleichgesinnter, die neue Methoden oder Formate ausprobieren und Erfahrungen austauschen wollten, sind sie heute Organisationen in verantwortlicher Rolle, beispielsweise, wenn Mitarbeiter in einem offenen demokratischen Prozess verbindliche Qualitätsstandards für Clean Code entwickeln oder Coding Dojos, Code Retreats und Weiterbildungen organisieren. Auch für spezifische Rollen wie Scrum-Master entstanden eigene Communities.

Mittlerweile gibt es mit der jährlichen #goAHEAD2025 eine Führungskräfteveranstaltung, die komplett von Mitarbeitern vorbereitet und moderiert wird. Weitgehend ohne Frontalvorträge bearbeiten die Beschäftigten unterschiedlichste Themen in Arbeitsgruppen nach agilen Methoden. Ziel ist es, gemeinsam voneinander zu lernen und agile Vorgehensweisen auch in der Führungsmannschaft zu erleben und zu verankern.

Hohe Veränderungsbereitschaft notwendig

Die beschriebene Transformation erfordert eine hohe Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit sowohl der Strukturen und Abläufe als auch jedes einzelnen Mitarbeiters. Appelle allein reichen nicht aus und verpuffen meist wirkungslos. Letztlich geht es um einen tiefgreifenden Wandel in der Organisationskultur, also im kollektiven Gedächtnis der Organisa­tion - den Erfahrungen und Brüchen, die im Untergrund wirken. Kulturarbeit erfordert tiefer gehende und wirkende Interventionen, damit sich etwas Neues bilden kann. Für HR besteht damit die Herausforderung, die Transformation organisatorisch zu gestalten.

Dabei spielt der Wandel der Führungsrolle eine wesentliche Rolle. Gibt es eine Unterscheidung zwischen agilen und nicht agilen Führungskräften? Für uns lautet die Antwort darauf: Es gibt nur eine Definition von Führungskraft, aber in unterschied­lichen Ausprägungen. Je nach Situation und Kontext spielen verschiedene Faktoren in unterschiedlicher Gewichtung in das Thema Führung hinein: fachliche Führung, menschenorientierte Führung, strategische Ausrichtung und Prozesssteuerung. Neben der klassischen Linienführung werden daher weitere gleichwertige fachliche und prozessuale Führungsrollen etabliert - mit dem Ziel, die ­Fokussierung zu fördern und die Passgenauigkeit zwi­schen Mitarbeiter und Stellenanforderung zu erhöhen.

Ein weiterer Aktionsbedarf ergibt sich aus den gewachsenen Anforderungen nach neuen Rollen und mehr Flexibilität: weg von starren Laufbahnen hin zu flexiblen, individuellen und lebensphasenorientierten Werdegängen. Wo früher klare Trennlinien zwischen den Hierarchien sowie zwischen Fach- und Führungslaufbahnen bestanden, verwischen diese Muster mit voranschreitender Agilität. Die Organisation muss hier flexible Karrieremodelle aufzeigen, neue Jobrollen schaffen und die Veränderung auch vorleben.

Arbeitgeber muss Lerninitiativen fördern

Wenn Rollen und Anforderungen flexibler werden, wirkt sich das auch auf die Kompetenzen aus, die der Einzelne benötigt. Für Unternehmen entsteht daraus eine Verantwortung, den Mitarbeitern den Erwerb notwendiger Kompetenzen bedarfsgerecht zu ermöglichen. Durch die zunehmende Vielfalt an Rollen, die ein Mitarbeiter im Lauf seines Berufslebens ausfüllt, wird dieses Thema in Zukunft noch viel wichtiger werden. Eine firmeneigene Lerninitiative verfolgt daher das Ziel, individuellere und selbstgesteuerte Lernmöglichkeiten zu schaffen. Es geht um das Zusammenspiel von digi­talen und analogen Methoden ebenso wie um die Bereitstellung von flexibel ausgestalteten Lernräumen.

Die Transformation der Arbeit ist eng verflochten mit einer organisatorischen Transformation. Agiles Vorgehen in der Softwareentwicklung braucht einen Rahmen, der Flexibilität ermöglicht. Genauso bedarf es dafür Menschen, die kompetent in ihren vielfältigen Rollen agieren können. So wie die Menschen die Organisation formen, die sie für ihre Arbeit benötigen, macht die Organisation den Rahmen aus, in dem die Menschen sich entfalten. (hk)