Marktüberblick ERP-Software

Das Rückgrat des Unternehmens

16.03.2004 von Karsten Sontow
Ob Vertriebsunterstützung, Fertigungssteuerung oder E-Business - ohne leistungsfähige ERP-Software im Backend sind durchgängige IT-gestützte Prozesse im Unternehmen nicht denkbar. Hinsichtlich Integriertheit und Prozessunterstützung weisen die Systeme jedoch beträchtliche Unterschiede auf.

D I E  Z E I T E N , da geschäftliche Anwendungen in Unternehmen hauptsächlich in der Finanzbuchhaltung gefragt waren, sind auch im Mittelstand endgültig vorbei. Immer mehr Anwender legen heute großen Wert auf eine möglichst weitreichende Prozessunterstützung in sämtlichen Unternehmensbereichen.
So etwa Christian Otte, Projektleiter und Leiter Controlling beim Lebensmittelhersteller Hilcona AG in Schaan im Fürstentum Liechtenstein: „Damit unsere Salate und Sandwiches tagesfrisch in der gewünschten Menge und Qualität beim Kunden ankommen, müssen sowohl der Bestellprozess als auch die gesamte Lieferkette von der Rohwarenanlieferung bis zur Auslieferung beim Kunden reibungslos funktionieren. Jede ankommende Bestellung löst unmittelbar Reaktionen in der Fertigung aus - das lässt sich nur mit durchgängiger IT-Unterstützung realisieren.“ Das gilt umso mehr, als ab 2005 die Rückverfolgbarkeit jeder Warenbewegung gewährleistet sein muss. Funktional war für Otte deshalb vor allem die Unterstützung der Fertigungsplanung wichtig bei der Auswahl des ERP-Systems. Sie gab den Ausschlag zugunsten von Peoplesofts „Enterprise One“, mit dem heute rund 200 der 1000 Hilcona-Mitarbeiter arbeiten.
Wer eine durchgängige effiziente Unterstützung seiner Geschäftsprozesse durch ein ERP-System fordert, dem ist mit umfangreicher Funktionalität allein nicht gedient. Mindestens ebenso wichtig ist die Integration der zahlreichen verschiedenen Funktionen aus unterschiedlichen Modulen der Software. Dazu gehört neben der Verknüpfung der benötigten Funktionen unter einer Benutzeroberfläche auch die integrierte Datenhaltung. Sie ermöglicht den Zugriff auf aktuelle Daten, die nach einem durchgängigen Datenmodell strukturiert sind. Ist sie nicht gegeben, greift derAnwender für geschäftliche Auswertungen oft lieber auf das bewährte Excel zurück und umgeht damit das ERP-System. Die Durchgängigkeit der ERP-Lösung ist deshalb auch für Franz Böhm, Geschäftsführer der Auwa-Chemie GmbH in Augsburg, ein wichtiges Auswahlkriterium: „Die Software muss sämtliche integrierten Module für die Abbildung der Kernprozesse beinhalten und einen schnellen Zugriff auf alle wichtigen Daten des Unternehmens in den verschiedensten Sichten bieten“, fordert Böhm.

Partnerlösungen weniger integriert

Nach zehnjähriger Arbeit mit einer DOS-basierten Lösung setzt sein 140 Mitarbeiter starkes Unternehmen künftig auf „Myfactory“. Die Software des gleichnamigen Herstellers ist zwar noch relativ jung und deckt (noch) nicht alle Funktionsbereiche ab, doch die vorhandenen Module sind auf Basis der .Net- Technologie durchgängig integriert.
Nahezu alle „Integrierten ERP-Systeme“ bieten heute eine weitgehend durchgängige, recht umfassende Funktionalität in den administrativen Bereichen „Rechnungswesen“ und „Lohnund Gehaltsabrechnung“ sowie den eher operativen Bereichen „Logistik/Warenwirtschaft“ und „Produktionsplanung und -steuerung“. Unterschiede gibt es jedoch in der Art der Integration, insbesondere des Rechnungswesens und des Personalwesens. Gerade mittelständische Anbieter greifen oft auf Partnerlösungen zurück, die an die eigenen Systeme angebunden werden. Das geht meist zu Lasten der Durchgängigkeit.

Differenzierte Anforderungen

Auch für die Bereiche Vertrieb/CRM und Supply-Chain-Management bieten die meisten dieser Systeme eine durchgängige Anbindung von Lösungen. Hier unterscheiden sich die Systeme jedoch teilweise erheblich im Leistungsumfang. So beschränken sich viele CRM-Module auf ein grundlegendes „Kundenkontakt-Management“.
Darüber hinaus variiert die Funktionalität der Systeme im Detail oft erheblich, und zwar insbesondere dort, wo die operativen, wertschöpfenden Prozesse eines Unternehmens betroffen sind, also vor allem bei Warenwirtschaft und PPS. So besteht im Anlagenbau (Einzel-/Projektfertiger) die Notwendigkeit, im Nachgang zu einem Kundenauftrag sowohl die Projektplanung und -steuerung als auch die Produktstrukturen mit der Software in integrierter Form abzubilden.
Ganz andere Herausforderungen stellt die Prozessfertigung in der Chemie-, Pharma- und Nahrungsmittelbranche: Dort werden nach Rezepturen Ansätze verarbeitet, deren Größe von Liefer- und Lagereinheiten (etwa Kesselvolumina) abhängen. Auch die Verwaltung von verschiedenen Produktqualitäten, Kuppelprodukten und von unterschiedlichsten Gebinden unterscheidet die Prozessfertigung von der Stückfertigung. Schließlich erfordern gesetzliche Vorgaben beispielsweise eine lückenlose Verfolgbarkeit der Produktchargen und eine Gefahrstoffverwaltung mit entsprechender Dokumentation. In diesen Bereichen müssen die meisten integrierten ERP-Systeme passen. Die Anbieter verweisen dort auf Lösungen von Spezialisten, so dass die Durchgängigkeit aus der Sicht des Anwenders zum Teil erheblich leidet. Ähnliche Unterschiede lassen sich im Bereich der verschiedenen Handels- und Dienstleistungssegmente feststellen. Es verwundert daher nicht, wenn Unternehmen aus verschiedenen Branchen die Durchgängigkeit einer einzelnen Softwarelösung sehr unterschiedlich bewerten.

Bewertung größenabhängig

Die Übersichtstabelle auf Seite 26 zeigt denn auch, dass nur wenige Anbieter integrierter Softwarepakete den Anspruch erheben, für alle Wirtschaftsbereiche durchgängige Lösungen anzubieten. Insbesondere die Prozessfertigung, den Einzelhandel, Dienstleistungen für Endverbraucher und die Verwaltung meiden viele Softwareanbieter. Im Einzelhandel und bei den Dienstleistungen für Endverbraucher ist auch die oft geringe Unternehmensgröße ein Grund für ihre Zurückhaltung. Tatsächlich bewerten Unternehmen den Aspekt „Integrierte Funktionalität“ je nach Betriebsgröße oft unterschiedlich. So wirkt etwa der Funktionsumfang einer Mysap-Business-Suite aus der Sicht einer kleinen Firma fast erschlagend, während ein großes Unternehmen trotz des erheblichen Funktionsumfangs die eine oder andere Funktionalität möglicherweise vermisst.
Die integrierten Softwarepakete für kleinere Unternehmen zeichnen sich daher meist durch eine wesentliche höhere Standardisierung bei gleichzeitiger Beschränkung auf das Notwendigste aus. Vor diesem Hintergrund ist der Anspruch auf „Omnipräsenz“, den viele Anbieter integrierter ERP-Lösungen erheben, mit Vorsicht zu genießen.
Unternehmen, die nach einer geeigneten Softwarelösung suchen, sollten sich in jedem Fall an den Referenzkunden eines Anbieters orientieren und sich bei der Suche nach solider Branchenkompetenz nicht mit „handverlesenen“ Einzelreferenzen begnügen. Funktional durchgängige Lösungen für Querschnittsfunktionen wie das Dokumenten-Management, Analysen im Sinne von Business Intelligence oder eigene Module für die Integration von Fremdsystemen (Enterprise Application Integration) bieten die wenigsten Systeme. Auch die betriebswirtschaftlichen Aspekte der im Mittelstand häufig praktizierten Zusammenarbeit mehrerer rechtlich eigenständiger Betriebe einer Unternehmensgruppe lassen sich mit vielen Produkten nicht durchgängig betriebswirtschaflich abbilden.
Schließlich strecken nahezu alle ERP-Systeme die Waffen, wenn es um Funktionalität auf einer sehr operativen Ebene geht. So verzichten viele Anbieter auf eigener Lösungen für Personalzeiterfassung (PZE), Maschinendaten-/Betriebsdatenerfassung (MDE/BDE) und die daran ansetzenden Bereiche wie das Computer-Aided-Quality (CAQ)-Management oder die Fertigungsfeinplanung/-steuerung im Sinne eines Manufacturing- Execution-Systems (MES).
Entsprechend zeigt ein Blick „hinter die Kulissen“, dass es mit der integrierten Datenhaltung im Sinne einer durchgängigen ERPInfrastruktur in weiten Bereichen nicht immer so weit her ist, wie es auf den ersten Blick scheint: Fast alle Anbieter integrieren für einzelne Aufgabenbereiche Produkte von Partnern. Gleichwohl versehen

sie diese häufig mit dem Namen des eigenen Produkts. Bei mittelständischen ERP-Anbietern findet man beispielsweise sehr oft die Lösung von Varial im Bereich des rechtlich stark regulierten Rechnungswesens (etwa bei Infor AG, Psipenta GmbH oder AP AG). In diesem Fall erfolgt die Anbindung von Varial, das auf einer eigenen Datenbank betrieben werden muss, über eine „systeminterne“ Schnittstelle. Diese Schnittstelle bringt es mit sich, dass Daten doppelt gehalten und in zeitlichen Abständen abgeglichen werden müssen. Ist eine hohe Datenaktualität erforderlich, müssen die Synchronisationsläufe in kurzen Zeitabständen erfolgen. Das stellt hohe Anforderungen an die Infrastruktur und führt nicht selten zu langen Zugriffszeiten für die Benutzer.

Stimmt die Roadmap?

Ähnlich sieht es mit Modulen aus, die im Zuge der Übernahme eines Anbieters gekauft und nun durch den ERP-Anbieter weiterentwickelt werden. ^
Werden Fremdprodukte in das ERP-System eines Anbieters integriert, gestaltet sich die Weiterentwicklung im Sinne einer „Integrierten Entwicklungsplanung“ oft problematischer, als wenn sämtliche Module aus einem Haus stammen. Ursache hierfür sind die vielfältigen gegenseitigen Abhängigkeiten der einzelnen Module. So setzt die Bewertung von Umlaufbeständen im Rahmen einer Inventur voraus, dass die Stückkosten von Kaufteilen oder Rohmaterial aus dem Rechnungswesen oder der Materialwirtschaft mit Informationen über Arbeitskosten und den Arbeitszeiten aus dem PPSSystem verknüpft werden.
Wird das ERP-System beziehungsweise das Partnerprodukt weiterentwickelt, dann sind davon oft auch die Schnittstellen zwischen den Systemen betroffen. Sollen diese auch künftig problemlos funktionieren, ist eine enge Abstimmung zwischen den beteiligten Softwareanbietern erforderlich. Dass diese Abstimmung eine immense Herausforderung darstellt, wenn Lösungen von Spezialisten wie der Varial Software AG von mehr als 70 anderen Anbietern integriert werden, ist klar. Aber selbst innerhalb eines Unternehmens gestaltet sich die integrierte Weiterentwicklung von ERP-Systemen nicht einfach. Anwender sollten potenzielle Softwarelieferanten deshalb vor dem Kauf nach ihrer Roadmap für die Entwicklung der Module befragen, die sie nutzen wollen.
Alle untersuchten Softwarelösungen verfügen bei grober Betrachtung über eine breite Funktionalität, da der Schwerpunkt der Analyse auf „Integrierten ERPSystemen“ liegt. Im Detail offenbaren sich jedoch erhebliche Unterschiede. Dies gilt vor allem für die operativen Bereiche Warenwirtschaft und PPS sowie bei Qualitäts- Management, Betriebsdatenund Personalzeiterfassung.
Dem Anspruch einer alles umfassenden und gleichzeitig integrierten ERP-Lösung werden am ehesten die Lösungen der großen Softwareanbieter gerecht. Dabei hat IFS, was die technische Integration betrifft, die Nase vorn vor den Softwaregiganten SAP und Oracle. SAP kann sämtliche Funktionsbereiche mit eigenen Softwaremodulen abdecken, betreibt diese jedoch zum Teil auf getrennten Datenbanken (beispielsweise Mysap CRM, BW). Oracle greift in operativen Bereichen wie der Betriebsdatenerfassung und dem Qualitäts-Management aber auch in der Lohn- und Gehaltsabrechnung auf Partnerprodukte zurück.
Unter Verzicht auf einige Softwaremodule wie etwa MES/Fertigungsfeinplanung und -steuerung weisen „EnterpriseOne“ von Peoplesoft (früher J.D. Edwards) und „So:Business“ von der Godesys AG ebenfalls eine sehr weitreichende technische Integration auf.
Spürbare Abstriche in Bezug auf die Breite des Funktionsspektrums sind zurzeit noch bei den Newcomern wie „Business One“, „Semiramis“ oder auch bei „e.bootis“ festzustellen. Bei Business One verweist SAP in diesem Zusammenhang gern auf „diverse Partnerlösungen“, bei denen sich die technische Umsetzung der Integration bis dato einer Bewertung entzieht.
Schließlich zeigen Systeme wie „b2industry“ (Bäurer GmbH), „Baan“ (SSA GT GmbH) und „Soft M Suite“ (Soft M AG) Lücken in der technischen Integration der eingesetzten Module. So integriert beispielsweise Bäurer rund um den eigenen Kern des b2industry, der vorwiegend Aufgabenbereiche der Fertigung und Logistik abdeckt, eine relativ große Zahl von Partnerlösungen, die überwiegend auf getrennten Datenbanken und zum Teil unter eigenen Oberflächen betrieben werden.
Die Analyse zeigt, dass integrierte ERP-Systeme durchaus als Rückgrat des Unternehmens fungieren können - im Grunde gibt es dazu kaum eine Alternative. Gleichzeitig zeigt sich aber auch: Ganz so durchgängig, wie es die meisten Softwareanbieter gerne darstellen, sind die Lösungen bei weitem nicht. Für den Anwender gilt es daher, die jeweilige Software eingehend zu prüfen.
Dabei sollten Unternehmen auch abwägen, wie wichtig die Durchgängigkeit im Vergleich zu Kriterien wie dem Budgetrahmen oder der Einführung einer schnellen Softwarelösung ist. Häufig ist es sinnvoll, in einem Teilbereich zu beginnen. Schließlich erfordert der Einsatz integrierter ERP-Systeme einheitliche, reglementierte Abläufe, die immer auch einen Verlust von Flexibilität bedeuten.

So viel Integrität wie nötig

Berater Christian Riethmüller, Geschäftsführer der Cerpos GmbH, empfiehlt daher: „So viel Integrität wie nötig statt so viel Integrität wie möglich!“
Nach diesem Motto verfuhr Kai Scholl, Kaufmännischer Leiter der Euchner GmbH & Co. KG in Leinfelden-Echterdingen. „Um unsere zehn Vertriebsgesellschaften im Ausland anzubinden, suchten wir ein System, mit dem sich die Auftrags- und Bestellprozesse durchgängig abbilden und von der Zentrale aus IT-technisch unterstützen lassen.“ Dabei war die Prozessunterstützung neben der Zukunftssicherheit und dem Preis der Software ein zentrales Auswahlkriterium. Die funktionalen Anforderungen betrafen hauptsächlich Auftragsabwicklung, Lagerhaltung und Warenwirtschaft, aber auch eine CRM-Komponente für die Steuerung des Außendienstes war gefragt. In dem Produkt „Semiramis“ der C.I.S. AG fand Scholl die passende Software für den Schaltgerätehersteller mit rund 350 Mitarbeitern. Allerdings beschränkt sich die Prozessunterstützung bislang auf den Vertriebsbereich. Die Ausweitung des Systems auf die Produktion ist zwar vorgesehen, aber noch nicht konkret geplant. (uk)