Prof. Dr. Dr. Radermacher

"Das offene Internet ist in Gefahr"

22.06.2009 von Heinrich Vaske
Für Franz-Josef Radermacher, Informatiker, weltweit geachteter Globalisierungsexperte und Mitglied des Club of Rome, entscheidet sich jetzt, ob es eine "Welt in Balance", einen Rückfall ins Mittelalter oder gar einen Kollaps geben wird. Das Internet könnte eine entscheidende Rolle spielen - wenn es nicht kontrolliert würde.

Beginnen wir mit der ITK-Branche: Sie scheint die gegenwärtige Wirtschaftskrise besser zu verdauen als beispielsweise der Maschinenbau. Woran liegt das?

Radermacher: Was Sie sagen, gilt insbesondere für den Teil der IT, mit dem sich Prozesse optimieren lassen. Die IT ist einer der Hebel, um in der Krise die Zahl der Mitarbeiter verringern zu können. Gleichzeitig wird die Produktion tendenziell billiger, je mehr Technik eingesetzt wird. Die IT-Branche ist Teil der Lösung und nicht des Problems.

Die IT-Branche hat immer bestritten, Arbeitsplätze zu vernichten…

Radermacher: Der gesamte technische Fortschritt besteht im Grunde genommen darin, dass wir die bisherigen Arbeiten mit weniger Personal leistungsfähiger erbringen. Am Anfang haben fast alle in der Landwirtschaft gearbeitet. Heute sind es nur noch drei Prozent, aber die produzieren viel mehr Nahrung als zuvor. Früher hat fast die Hälfte in der maschinellen Produktion gearbeitet, heute sind es nur noch 15 bis 20 Prozent. Und wir produzieren viel mehr Maschinen und Autos als je zuvor. Richtig ist, dass immer wieder auch neue Arbeitsplätze entstanden sind. Das wird nach der Krise auch wieder so sein.

Prof. Radermacher: "Die Demokratie könnte uns um die Ohren fliegen"

Wenn also durch Innovation in einem Sektor Personal abgebaut wird, dann geht es darum, an anderen Stellen ähnlich werthaltige neue Jobs zu schaffen. Gelingt das nicht, ließen sich auch staatlich alimentierte Möglichkeiten der Partizipation schaffen - etwa über ein Grundeinkommen, das an keine Bedingungen geknüpft ist. Schwierig wird’s, wenn weder das eine noch das andere geschieht. Dann erhöht das Ökonomische seine Effizienz, und immer mehr Menschen profitieren nicht davon.

Und das passiert gerade?

Radermacher: Ja, das ist der Prozess der beginnenden Prekarisierung. Wenn man ihn laufen lässt, endet er in der Brasilianisierung. Die Demokratie könnte uns dabei um die Ohren fliegen.

Prof. Dr. Dr. Franz-Josef Radermacher ist...

  • Professor für Informatik an der Universität Ulm und dort Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung/n (FAW/n);

  • promoviert in Mathematik (RWTH in Aachen, 1974) und in Wirtschaftswissenschaften (Uni Karlsruhe)

  • gefragter Experte für Globalisierungsgestaltung, Innovation, Technologiefolgen, umweltverträgliche Mobilität, nachhaltige Entwicklung und Überbevölkerung.

  • Mitglied im Club of Rome;

  • stark engagiert in der Global Marshall Plan Initiative, die sich seit 2003 für eine gerechtere Globalisierung, eine Welt in Balance, einsetzt (Newsletter bestellen?);

  • Autor des Musicals "The Globalization Saga - Balance or Destruction"

  • Mitautor des Grundlagenbuchs "Welt mit Zukunft" (zusammen mit Bert Beyers)

  • konzeptionell beteiligt am "Odysseum" in Köln - ein so genanntes Science Adventure, das sich selbst als "Mischung aus Science Center, Forschungszentrum und Freizeitpark mit wissenschaftlichem Anspruch" definiert und seit April 2009 für Besucher offen ist.

Weitere Informationen bei bwa-deutschland.de, globalmarshallplan.org, connectingyouth.net, dekade.org und gmp-deutschland.de.

Was verstehen Sie unter Brasilianisierung?

Radermacher: Es entsteht eine krasse Zwei-Klassen-Gesellschaft. Es gibt ein Oben und ein Unten. Das ist vergleichbar mit den Kolonialregimes, in denen es eine Elite gibt und eine Art "Sklavenbevölkerung", die unter sehr prekären Bedingungen Dienstleistungen für diese Elite erbringt.

Wie würde in seinem solchen Szenario die Gesellschaft aussehen?

Radermacher: Rein mathematisch betrachtet haben Sie in einem Land wie Brasilien die Situation, dass die 20 Prozent mit den höchsten Einkommen etwa 65 Prozent des Kuchens unter sich aufteilen, während die 80 Prozent mit den kleineren Einkommen den Rest bekommen. Eine viel bessere Relation bieten Länder wie Finnland, wo 20 Prozent rund ein Drittel und 80 Prozent zwei Drittel besitzen. Interessanterweise bringt die finnische Konstellation den größten Wohlstand für alle hervor. Hoher Wohlstand entsteht demnach nicht unter Brasilianisierungsbedingungen, sondern in einem Zustand der Balance.

Wie begründen Sie diesen Unterschied zwischen beiden Extremen?

Radermacher: Wieder rein mathematisch betrachtet lässt sich nachweisen, dass die höchste Wertschöpfung von gut ausgebildeten Menschen geschaffen wird. Der Kern des sozialen Ausgleichs ist also eine gute Ausbildung. Daraus entwickeln sich auch eine gute medizinische Versorgung und eine ebensolche Altersvorsorge. Begründung: Wenn Sie sehr viel Geld in die Ausbildung der Gehirne stecken, können Sie es ökonomisch nicht zulassen, dass jemand am Husten stirbt. Es gibt also klare mathematisch erklärbare Zusammenhänge, warum eine reiche Gesellschaft eine gut ausgebildete Bevölkerung hat, die einigermaßen gesund ist und relativ alt wird. Das ist genau das Gegenteil der brasilianisierten Struktur: keine vernünftige Ausbildung, kein breiter Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung, hohe Sterblichkeit. Vor allem die durchschnittliche Lebenserwartung des armen Bevölkerungsteils ist vergleichsweise niedrig.

Das Web erfindet die Demokratie neu

Schaut man sich im Internet die Bewegungen rund um Open Source und Web 2.0 an, so gewinnt man den Eindruck, das Internet hebe diese Grenzen auf. Es gibt nur eine weltweite digitale Gesellschaft, die - so meinen manche - grenzüberschreitend Wertschöpfung erzeugt. Brasilien ist dafür mit seiner sehr lebendigen Open-Source-Community übrigens ein gutes Beispiel. Gibt es eine solche digitale Gegenbewegung?

Radermacher: Ja, das hat ein Riesengewicht. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Bewegung potenziell die Dominanz der Medien aushebeln könnte durch eine Art Gegenöffentlichkeit. Dieses Thema wird sehr breit in dem neuesten Buch des früheren US-Vizepräsidenten Al Gore behandelt ("Angriff auf die Vernunft", Anm. d. Red.). Er sieht im Web 2.0 die einzige Chance zur Neuerfindung der Demokratie. Aber was Gore auch sagt: Die andere Seite ist längst dabei zu versuchen, die Kontrolle über das Internet zu übernehmen und den relativ chaotischen freien, offenen Teil durch Regulierung und so genannte Trusted-Strukturen auszuhebeln.

Wen meinen Sie mit der "anderen Seite"? Die IBMs und Microsofts dieser Welt?

Radermacher: Nein, die sind höchstens insofern von Interesse, als sie wiederum denen gehören, die über die größten Assets verfügen. Eigentumsfragen sind entscheidend, aber auch komplex. Nehmen Sie Bill Gates. Bill Gates wird nicht von anderen gesteuert, er steuert selber. Bill Gates tut mit seinem Geld allerdings Gutes. Wie er es vermehrt, ist ein anderes Thema. In diesem Prozess ist die entscheidende Frage die der Kontrolle. Natürlich hätte Microsoft ein großes Interesse daran, wenn es über eine - sagen wir einmal - oligopolistische Heirat zwischen Wirtschaft und Staat letztlich die Konkurrenz ausschalten könnte. Das ist oft das heimliche Ziel.

Irgendwann dürfen nur noch "Trusted Persons" ins Internet

Wie kommen Sie darauf, dass "die andere Seite" die Kontrolle übernehmen könnte? Ich sehe eher ein sehr offenes Web, jeder kann mit jedem kommunizieren.

Radermacher: Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Denken Sie einmal an das Rauchverbot in Lokalen und öffentlichen Einrichtungen, das in unseren Ländern zwischenzeitlich durchgesetzt wurde. Der Hebel war das Thema Passivrauchen. Ohne das wäre es nicht gelungen, Rauchen zu sanktionieren, denn in einer freien Gesellschaft darf jeder sich durch Rauchen selber gefährden, so wie er das im Sport auch darf. Gelingt es aber überzeugend zu argumentieren, dass Unschuldige betroffen sind, dann haben Sie den Hebel, den Sie brauchen.

Global betrachtet ist das Aufbauschen von Sicherheitsproblemen ein vergleichbares Phänomen. Besonders absurd sind die Kontrollen von mitgenommenen Flüssigkeiten an Flughäfen. Dies ist primär eine Methode zur Erzeugung von Paranoia. In den Gehirnen der Menschen wird verankert, dass wir durch Terrorismus gefährdet sind. Das ist die Voraussetzung dafür, Dinge zu kontrollieren. Das funktioniert auch mit dem Internet: Hier sind Kinderpornografie, intellektuelle Eigentumsrechte und Terror die Hebelthemen. Die Menschen werden auf den Krieg gegen den Terror konditioniert. Im Krieg sind dann Notstandsmaßnahmen erlaubt, das leuchtet jedem ein. Sie könnten zukünftig von der Art sein, dass wir Terroristen oder "Dieben" oder Betrachtern von Kinderpornografie keinen Zugang zum Netz erlauben. Zu diesem Zweck könnte man dann registriert sein und bestimmte Qualitäten haben müssen, um ins Netz zu gelangen - Trusted Access ist das Thema. Zum Schluss darf nur noch derjenige ins Netz, der sich in einem bestimmten Korsett bewegt, das mit Eigentumsrechten zu tun hat. Der Normalbürger, selbst wenn er als Trusted Person Zugang erhält, darf letzten Endes den Computer nicht mehr als universell programmierbare Maschine nutzen, sondern nur noch auf der Ebene bestimmter Interfaces Bausteine zusammenbauen.

Um das Entstehen einer Oligarchie in "brasilianisierten Verhältnissen" zu vermeiden, fordern Sie in Ihren Aufsätzen und Reden ein engeres Zusammenrücken der G20-Staaten.

Radermacher: Ja, ich bin für eine weltweite ökosoziale Partnerschaft aller Länder, und zwar im Rahmen einer Governance-Struktur, die in einer langfristigen Orientierung demokratisch ist. Wenn wir eine solche weltweite Struktur hätten, könnten wir über eine Art Weltparlament festlegen, dass bestimmte Dinge nicht erlaubt sind. Und wir könnten dieses Verhalten weltweit exekutieren. Dahin kommen wir aber nur, wenn wir als Ausgangssituation eine supranationale Governance-Struktur schaffen, die, wie in der EU, zumindest Elemente von Demokratie umfasst und in der Lage ist, die Einhaltung von Regeln sicherzustellen.

Manche Akteure möchten kein offenes Internet

Fürchten Sie nicht, dass die individuelle Freiheit der Menschen zu stark eingeschränkt würde?

Radermacher: Nein, ganz im Gegenteil! Vernünftige Regeln für alle fördern die Freiheit. Einschränkungen von Freiheit sind vor allem unter Bedingungen der Brasilianisierung zu erwarten. 95 Prozent der Menschen und mehr wären arm, nur wenige bildeten eine Elite. Es gibt einflussreiche Akteure, die auf eine solche extrem asymmetrische Gesellschaft hinsteuern und die Umverteilung nach oben zugunsten der fünf Prozent vorantreiben. Diese Akteure mögen kein offenes Internet. Das brauchen Sie hingegen, wenn Sie eine reiche Welt für möglichst viele Menschen anstreben. In einer solchen Welt wären die Menschen gut ausgebildet, verbesserten ständig die Ökoeffizienz und würden das Netz unter anderem dazu nutzen, die Transaktionskosten in Wirtschaftsprozessen zu senken.

Das ist ein Modell, in dem Sie relativ preiswert Ressourcen aktivieren können. Das gibt vor allem Sinn, wenn Sie zehn Milliarden reiche Menschen auf dem Globus haben wollen. Wenn das aber gar nicht Ihr Ziel ist, haben Sie eine andere Ökonomie im Sinn: klare Trennung von oben und unten, unterschiedliche Rechte auf verschiedenen Ebenen und permanente Kontrolle.

Das hört sich fast an wie eine Verschwörungstheorie, als wenn ein Kern von Menschen sich global zusammengetan hätte, um den Rest der Menschheit auszubeuten.

Radermacher: Es gibt Menschen, die genau das wollen. Und es gibt Think Tanks, die dafür bezahlt werden, sich zu überlegen, wie man dahin kommt.

Was treibt denn solche Menschen?

Radermacher: In einer globalen Gesellschaft, die sich von ökosozialen Maximen leiten lässt, werden sich die Durchschnittseinkommen immer mehr angleichen. Weltweite soziale Balance hat dann zur Folge, dass Indien und China irgendwann die größte Ökonomie sein werden und zum Beispiel nicht mehr die USA mit ihren vergleichsweise wenigen Einwohnern. Da aber die größte Ökonomie auch das größte Militär hervorbringt, werden die USA mit ihrem relativ kleinen Anteil an der Weltbevölkerung auf Dauer nicht mehr das Weltgeschehen kontrollieren können, wie sie das heute tun. Wenn Sie mit einem geringen Prozentsatz der Weltbevölkerung die weltweiten Prozesse kontrollieren wollen, müssen Sie dafür sorgen, dass etwa 80 bis 90 Prozent der Menschen auf diesem Globus vergleichsweise arm bleiben.

Radermacher: "Die Eliten sitzen in Dubai zusammen, machen Geschäfte und spielen Golf"

Unter den heutigen Globalisierungsbedingungen zieht dies dann aber auch Verarmungsprozesse in den heute reichen Ländern nach sich. Das ist die Brasilianisierung. Sie beinhaltet, dass auf Dauer auch die meisten Amerikaner und Europäer auf diesem Globus vergleichsweise arm sein werden. Das finden Teile der globalen Elite aber in Ordnung. Diese Eliten schließen sich weltweit zusammen und bauen eine supranationale Struktur so auf, dass sie ihren Zielen dient. Es ist eben nicht mehr so wie zu Zeiten früherer Nationalstaaten, als die Eliten ihre Machtbasis national hatten. Die einen hatten ihre Machtbasis im Ruhrgebiet, die anderen in Frankreich und die Dritten in England. In der Globalisierung sitzen Eliten von überall her beispielsweise in Dubai zusammen und machen Geschäfte fast im rechtsfreien Raum. Die fahren an die schönsten Stellen der Erde und sorgen dafür, dass es dort sichere Zonen gibt. Dort ist es wunderbar. Sie haben ihren Golfplatz, ihr Fünf-Sterne-Hotel, ihr Kongresszentrum und ihre Mall, ihren Flughafen, ihre Prachtstraßen etc.

Das hört sich an wie eine Rückkehr ins Mittelalter…

Radermacher: Darum sprechen wir auch von einer Refeudalisierung.

Was Ihren Ausführungen widerspricht, ist die Tatsache, dass China und Indien echte Boomregionen sind, in denen selbst in der Wirtschaftskrise die Märkte florieren.

Radermacher: Die Aufwärtsbewegung ist eine Folge des so genannten Leap-frogging-Effekts. Die ärmeren Staaten werden mit Technologien ausgestattet, die es in den entwickelten Staaten schon gibt, und gewinnen unter Umständen sogar die Reichen dazu, das alles zu bezahlen. Über die bessere Kapitalausstattung, die bessere Infrastruktur und das bessere Wissen produzieren diese Länder Wachstumsraten von zehn Prozent und mehr. Man muss allerdings dazu sagen, dass sich dieses jährliche Wachstum auf bescheidenem Niveau vollzieht. Absolut pro Kopf gerechnet bewirkt ein zehnprozentiges Wachstum in China weniger Zuwachs als ein Prozent Wachstum bei uns.

Aus Sicht von eingesetztem Eigenkapital ist es aber trotzdem viel attraktiver, von zehn Prozent Wachstum zu profitieren als nur von einem Prozent. Also wird jetzt viel Eigenkapital der reichen Welt in diesen Ländern eingesetzt. Das befeuert einen Prozess, der eine Wachstumsrate von zehn Prozent generiert. Das hat aus Sicht der Chinesen Sinn, denn sie wollen auf einen Wachstumspfad kommen, der sie, wenn sie ihn 50 Jahre durchhalten, auf US-Niveau bringt. Insofern ist das, was momentan in der Krise passiert, völlig konsequent. Nehmen Sie das Beispiel der Generika: Sie können die Lebenserwartung der Menschen für ganz wenig Geld dramatisch steigern, weil es die billigen Medikamente gibt. Die Forschungsaufwendungen dafür sind längst bezahlt. So können Sie den Status quo preiswert über die Welt verbreiten und dadurch erhebliche Wachstumseffekte erzeugen.

Brasilianisierung heißt Verarmung, Bürgerkrieg, Zerstörung

Als Mitglied des Club of Rome stecken Sie mitten in den Diskussionen um den Klimawandel. Wie müssten die ökonomischen Strukturen aussehen, damit die Umwelt eine Chance hat?

Radermacher: Die beste Lösung ist die Balance beziehungsweise der ökosoziale Ausgleich. Wenn wir alles richtig machen, bringt das binnen 70 Jahren eine zehnmal so hohe Ökoeffizienz. Wir können enorm viel Energie einsparen, wenn wir einen langfristigen Wachstums- und Innovationspfad für eine bessere Nutzung der Energie realisieren, der allerdings internationale Abkommen und die Internalisierung der externen Kosten voraussetzt. Die Brasilianisierung löst die Probleme auch, aber nur über Verarmung und potenziell um den Preis von Bürgerkrieg und Zerstörung. Das könnte in jeder Hinsicht sehr teuer für alle Beteiligten werden. Dieser Weg ist also zumindest von der sozialen Seite der Nachhaltigkeit her nicht akzeptabel. Marktwirtschaft plus nachhaltige Entwicklung - das ist der richtige Weg, den der Club of Rome auch als weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft bezeichnet.

Welche Aufgaben hätte die von ihnen befürwortete zentrale Regulierung durch eine weltweite Governance-Struktur?

Radermacher: Sie kümmert sich um das Ökologische, Soziale, die Balance zwischen den Kulturen, den ökonomischen Prozess selbst. Letzteres betrifft beispielsweise die Mittelstandspolitik oder auch Kartellbehörden, die in der Lage sind, Kartelle, diesmal auf globaler Ebene, wirkungsvoll zu verhindern. Man braucht also eine vernünftige Regulierung des Sozial-Kulturellen, der Umwelt und der Ökonomie - dann entwickelt sich größter Wohlstand unter der Bedingung einer Balance zwischen den Menschen und mit der Natur.

Stünde am Anfang des von ihnen skizzierten gesellschaftlichen Wandels ein Umverteilungsprozess?

Radermacher: Typischerweise nicht. Kapitalkonzentration ergibt sich fast von alleine und ist im Kern nicht das Problem. Die Frage ist, wie Gewinne eingesetzt und vor allem auch besteuert werden. Wäre Kapital hier zentral das Hauptproblem, wären die Aussichten auf Besserung noch viel schlechter, als sie es jetzt ohnehin schon sind. Wenn Sie es unter den gegebenen Bedingungen richtig machen, induzieren Sie einen mit Nachhaltigkeit kompatiblen Wachstumsprozess, bei dem wir im Norden zirka ein bis zwei Prozent durchschnittliches Wachstum über lange Zeit hinbekommen können, der Süden käme auf fünf bis sechs Prozent. Die Weltwirtschaft würde jährlich im Durchschnitt um drei bis vier Prozent wachsen. Und die Verbesserung der Ökoeffizienz, die man pro Jahr zusätzlich hinbekäme, läge in derselben Größenordnung.

"Die Kapitalkonzentration ist nicht das Problem"

Der entscheidende Punkt ist, dass die Möglichkeiten des technischen Fortschritts konsequent genutzt werden. Aber das hilft nur unter der Bedingung einer adäquaten ökologischen Regulierung und bei einer angemessenen Querfinanzierung der heute ärmeren Länder. Das gelingt nur, wenn die reichen Länder dafür zu zahlen bereit sind. Die "Kröte", die wir schlucken müssen, ist die Finanzierung von Elementen eines weltweiten sozialen Ausgleichs, aufgrund dessen die ärmere Welt der konsequenten weltweiten Regulierung in Umweltfragen überhaupt erst zuzustimmen bereit ist. Das ist übrigens etwas, was in jedem Nationalstaat selbstverständlich ist und auch in der EU bei jeder Erweiterung immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt wird (zum Beispiel über Strukturfonds).

Nur eine 35-prozentige Chance auf eine "Welt in Balance"

Wie groß muss der Leidensdruck Ihrer Meinung nach werden, damit dieser Prozess überhaupt in Gang kommt? Es gibt ja verschiedene Institutionen auf der Welt, die sich zu bestimmten Themen zusammensetzen, aber dann in der Umsetzung große Probleme haben. Weil es immer auf Kompromisse hinauslaufen muss - und wenn jemand ein Veto-recht einbringt, liegt der Prozess auf Eis.

Radermacher: Deshalb ist die Möglichkeit des Scheiterns durchaus realistisch. Es gibt aus meiner Sicht drei Möglichkeiten für die Zukunft: die der Brasilianisierung, der ich eine 50-prozentige Chance gebe, die des öko-sozialen Ausgleichs, die Chance liegt bei etwa 35 Prozent, und die des ökologischen Kollaps mit schwer absehbaren Folgen. Wahrscheinlichkeit: etwa 15 Prozent.

Können Sie das Szenario des ökologischen Kollaps beschreiben?

Radermacher: Er würde den Zusammenbruch der ökologischen Systeme bedeuten, etwa im Rahmen einer Klimakatastrophe mit der Folge schwerster Verwerfungen, was die Wirtschaft, den Frieden und die Umwelt angeht. Der Kollaps würde weltweit Milliarden Todesopfer fordern, weil die Ernährung nicht mehr gesichert wäre und der Kampf um Ressourcen weitere Opfer fordern würde.

Für Veränderungen wäre es nötig, dass auch die Eliten Leidensdruck verspüren. Das ist aber momentan nicht der Fall.

Radermacher: Das sehe ich nicht so. In der Folge der Weltfinanzkrise haben viele Vertreter der Eliten massiven Leidensdruck gespürt. Das Problem war, dass dieselben Regularien, die einen "Goldrausch" über Geldmengenausweitung wie nie zuvor ermöglicht haben - dazu gehört übrigens Basel II in Kopplung mit internationalen Bilanzierungsrichtlinien, der "Industrialisierung" von Verbriefungsprozessen und dem massiven Einsatz von "Credit Default Swaps" - im Zuge der Finanzkrise wie ein Brandbeschleuniger gewirkt haben. Sie haben die Firmen in die Insolvenz getrieben - durch den Verbrauch des Eigenkapitals. Das ist aber der Moment, in dem Unternehmer beziehungsweise Manager mit einem Bein im Gefängnis stehen. Nämlich wegen Konkursverschleppung, wenn sie nicht bestimmte Meldungen vornehmen oder Eigenkapital beschaffen. Teile der Bankelite standen in einer dynamischen Abwärtsbewegung vor gewaltigen Handlungszwängen, die bei Unkorrektheit strafrechtliche Dimensionen beinhaltet hätten. Das ist der Moment, in dem sofort reagiert wird - und das ist der Grund, warum in den letzten paar Wochen so viel passiert ist. Der GAU ist da, und das ist noch nicht das Ende.

Denn hinter der jetzigen Finanzkrise wartet schon die noch größere, und zwar als Folge der exorbitanten Verschuldung der Staaten, die in Teilen wiederum aus der Bewältigung der aktuellen Krise resultiert. Wir haben in dieser Hinsicht keine zehn Jahre mehr Zeit. Uns droht als nächstes der Finanzkollaps der Staaten. Wenn wir jetzt nicht relativ schnell das Problem der Steuerparadiese, der Besteuerung der globalen Finanztransaktionen und der Einhegung der grenzüberschreitenden Steueroptimierung lösen, werden wir einen Zusammenbruch der bisherigen Strukturen nicht vermeiden können. Die Möglichkeit, dass wir einen Währungsschnitt mit allen Konsequenzen für die Eigentumsverhältnisse bekommen, ist durchaus gegeben!

Frau Merkel weiß Bescheid, Herr Steinbrück auch!

Sind sich die Politiker weltweit dessen bewusst?

Radermacher: Die Repräsentanten der G20-Staaten wissen nach meiner Einschätzung relativ gut Bescheid. Das gilt insbesondere auch für Frau Merkel und die deutsche Regierung. Frau Merkel hat sowohl anlässlich des letzten Weltwirtschaftsgipfels in Davos als auch des G20-Gipfels in London gezeigt, was zu tun ist. Ihr gemeinsames Auftreten mit Präsident Sarkozy in London war genau richtig. Als promovierte Physikerin hat sie die Probleme gut erkannt, ebenso wie der Finanzminister und seine Spitzenbeamten.

Am wichtigsten ist es jetzt, die heutigen internationalen Steueroptimierungsmechanismen auszuhebeln. Unternehmen, die beispielsweise eine große Tochter in Deutschland und eine kleine Mutter auf den Caymans haben, können derzeit im Wesentlichen die gesamte deutsche Besteuerung umgehen, indem sie die Tochter mit 100 Prozent Eigenkapital über den Kapitalmarkt versorgen, aber in Wirklichkeit im Hintergrund in einem Koppelgeschäft die Sicherheit für den Kredit an die Tochter über die Mutter bereitstellen. Für diese Bereitstellung von Sicherheit landet dann der größte Teil der Zinszahlungen zum Schluss in der eigenen Kasse, und das in einem Steuerparadies, wo es bei der Mutter verbleibt. Das führt dazu, dass Gewinn in Deutschland in Zinsleistungen umfunktioniert wird, weshalb in Deutschland keine Steuern bezahlt werden. Das kann nicht akzeptiert werden, ist unfair gegen unseren Mittelstand, die kleinen Unternehmen und die Arbeitnehmer und in der Summe höchst gefährlich für die Stabilität.

Das Wichtigste, wofür wir vor diesem Hintergrund zur Entschuldung der Staaten argumentieren, noch wichtiger als die Tobin-Abgabe (Steuer auf Devisengeschäfte, um die Spekulation auf Währungsgeschäfte einzudämmen, Anm. d. Red.), ist die "Money-Leverage-Tax". Der Premium-Akteur generiert für sich heute unter Basel II einen Kredit zu 3,5 Prozent Zinsen. Der Mittelständler zahlt acht Prozent und der Privatbürger, der sein Kontokorrent überzieht, zahlt sogar zwölf Prozent. Wir wollen den Premium-Kredit mit vier statt 3,5 Prozent Zinsen belasten. 0,5 Prozent der Kreditzinsen als Steuerleistung zur Finanzierung eines Systems, das dem Premium-Schuldner den preisgünstigen Zugriff auf Kredit ermöglicht. Wir zielen also auf eine Besteuerung der Möglichkeit eines maximalen Profitierens von den Potenzialen des Finanzsystems.

Dieser Punkt bringt viel mehr als die Tobin-Abgabe, die durchaus als zusätzliches Instrument Sinn macht. Wenn man die genannten Ansätze richtig miteinander verknüpft, also Tobin-Abgabe, Verhinderung grenzüberschreitender Steueroptimierung, Steuerparadiese einhegen und Money-Leverage-Tax, dann können je nach Ausgestaltung zwischen 800 und 2000 Milliarden Euro an zusätzlichen jährlichen Steuern generiert werden. Letzteres ist mehr als das Doppelte der Neuverschuldung der Staatenwelt in normalen Zeiten. Wenn Sie das mit einem Gesetz koppeln, dass die zusätzlichen Einnahmen zunächst zur Entschuldung der Staaten verwendet werden müssen und später dann zur Senkung der Steuern für den Mittelstand, dann ergibt das ein wunderbares Mittelstands- und Wachstumsprogramm.

Das würde aber voraussetzen, dass der Staat oder eine supranationale Einheit die völlige Kontrolle über die Finanzmärkte bekommt.

Radermacher: Diese Kontrolle ist ja nicht schwierig. Wir wären im Grunde genommen schon am Ziel, wenn es das System der Kontrollmitteilungen, das es in Deutschland durch das Finanzamt gibt, auch auf internationaler Ebene gäbe. Die Alternative ist Quellbesteuerung aller Renditeformen von mindestens 3,5 Prozent, wie sie in Teilen bereits Gegenstand von Vereinbarungen zwischen der EU und der Schweiz vor der Krise war. Hier sind viele Lösungen denkbar.