"Das Ende des Hypes war erst der Anfang"

25.08.2004 von Christian Zillich
In der Vergangenheit haben E-Business-Projekte häufig die Erwartungen nicht erfüllt. Bei Nestlé müssen entsprechende Initiativen nicht nur bei der Kosten-Nutzen-Rechnung bestehen, sondern eine ganze Reihe weiterer Erfolgsfaktoren erfüllen.

Bei Nestlé ist E-Business schon seit einigen Jahren fester Bestandteil der Unternehmenskultur. Dabei hat sich der Lebensmittelkonzern eigentlich nicht von der anfangs weit verbreiteten E-Hysterie anstecken lassen. "Selbstverständlich gab es auch bei Nestlé - wie bei allen anderen auch - das eine oder andere E-Business-Projekt, das nicht so erfolgreich war", räumt Markus Irmscher, Leiter E-Business bei der Nestlé Deutschland GmbH, ein. "Wir haben jedoch keine Millionengräber zu beklagen und konnten aus den gemachten Erfahrungen unsere Lehren ziehen."

Klares Bewertungsschema

Mittlerweile müssen E-Business-Initiativen bei dem Nahrungsmittelkonzern eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen, bevor sie umgesetzt werden können, berichtet Irmscher. So gelte es, Risiken und Chancen genau abzuwägen und die einzelnen Aktivitäten entsprechend zu priorisieren. Nestlé nutzt hierfür ein klares Projektbewertungsschema, mit dem der Business-Nutzen dokumentiert wird. Die Entscheidungen werden jedoch immer in enger Absprache mit den beteiligten Fachabteilungen getroffen.

Neben den Return-on-Investment-(RoI-) Berechnungen hat Irmscher für die erfolgreiche "Web-basierende Digitalisierung von Geschäftsprozessen" - so seine Definition von E-Business - eine Reihe weiterer Erfolgsfaktoren ausgemacht. Zuallererst nennt der E-Business-Manager die Offenheit des Unternehmens gegenüber neuen Technologien. Diese als E-Readyness bezeichnete Unternehmenskultur verlange eine integrative Sicht auf die IT- und Geschäftsprozesse. "Es kommt auf die Veränderungsbereitschaft der Organisation und die Fähigkeit zur konsequenten Prozessanpassung an", erläutert Irmscher. "Was nützt die neueste Technologie, wenn man sie über alte Prozesse und Datenstrukturen stülpt und keine Nutzerakzeptanz hat?"

Voraussetzung für den Erfolg sind eine offene Informationskultur und nutzenstiftende Inhalte. Dabei ist es dem E-Business-Verantwortlichen wichtig, ein weit verbreitetes Vorurteil auszuräumen: Es gehe nicht darum, sämtlichen Partnern und Mitarbeitern alle Informationen elektronisch zur Verfügung zu stellen. Jedoch sollte die Bereitschaft bestehen, Mitarbeiter oder externe Partner mit zweckgerichteten Inhalten zu versorgen. Verfolge ein Unternehmen dagegen eine restriktive Informationskultur, komme es zu hohen Kontrollkosten und Regelungsaufwänden, wodurch sich viele E-Business-Anwendungen nicht mehr rechneten.

Auch für die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit spielt die E-Readyness eine tragende Rolle. In vielen Fällen profitieren Firmen, wenn sie eng mit Lieferanten und Kunden kooperieren, weil diese für bestimmte Teilprozesse die besseren Kernkompetenzen mitbringen. Diese Collaboration erfordert - wie die Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens auch - Offenheit, Vertrauen und Bereitschaft, die notwendigen Informationen bereitzustellen sowie einzelne Kernprozesse an vor- oder nachgelagerte Partner abzugeben. Als Beispiel nennt Irmscher das auch von Nestlé praktizierte Verfahren Vendor Managed Inventory (VMI). Dabei verwaltet der Hersteller seine Warenbestände beim Kunden selbst.

Nach wie vor stellen Standards für E-Business-Anwendungen eine besondere Herausforderung dar. Dies gilt insbesondere für die Vereinheitlichung der eigenen Stammdaten, Systeme und Prozesse. Nestlé hat 2002 das Großprojekt "Global Business Excellence" - kurz "Globe" - gestartet. In dessen Rahmen vereinheitlicht der Konzern unter anderem seine weltweiten Produkt-, Mitarbeiter- und Kundenstammdaten. "Dabei geht es nicht nur um die eigenen Systeme und Daten.

Projekte brauchen kritische Masse

"Die Standards orientieren sich natürlich auch an den branchenspezifischen Anforderungen der Partner, da andernfalls die Effizienz der gesamten Wertschöpfungskette leidet", so Irmscher. Dies habe Nestlé unter anderem bei seiner Bilddatenbank beispielhaft umgesetzt. Sie ermöglicht den Austausch von Bild- und Produktstammdaten nach dem Industriestandard des Sinfos-Datenpools. Partner wie Handelsunternehmen oder Marketing-Agenturen können sich via Internet in das passwortgeschützte Extranet einloggen, um Informationen und Bilder für Anzeigen oder als Produktstammdaten in ihren Warenwirtschaftssystemen zu verwenden.

Mit der hohen Nutzerzahl erfüllt die Bilddatenbank eine weitere Voraussetzung für erfolgreiche E-Business-Initiativen. Denn viele Projekte scheitern daran, dass sie nicht schnell genug einen ausreichend hohen Prozentsatz von Nutzern - seien es Mitarbeiter, Kunden oder Zulieferer - erreichen. E-Business brauche eine kritische Masse, so Irmscher. Der Zugang müsse für die Anwender deshalb möglichst schnell und einfach sein.

Diese Voraussetzung trifft auch auf das weltweit einheitliche Nestlé-Intranet zu, auf das rund 100.000 Mitarbeiter zugreifen. "MyNestlé Net" löste 2002 eine Vorgängerversion ab, die zunächst als Informations-Tool innerhalb der IT genutzt wurde. Immer mehr Unternehmensbereiche hatten begonnen, die anfangs stark technikgetriebene Lösung einzusetzen. Die Nutzerakzeptanz sei jedoch trotz wachsenden Funk- tionsumfangs kaum gestiegen. Eine Umfrage brachte die Unzufriedenheit der Mitarbeiter ans Licht: Sie kritisierten Design, Navigation sowie Aktualität und Qualität der Inhalte. Auf ihrer Wunschliste standen außerdem Single-Sign-on, Personalisierbarkeit sowie die vollständige Integration von Geschäftsprozessen und Applikationen.

2002 wurde dann das neue, mit Microsoft-Komponenten realisierte MyNestléNet gestartet. Mit der Verbesserung der Inhalte, einem unternehmensweit einheitlichen Design und der Integration von einfachen Geschäftsprozessen gelang es, die User-Zahlen um 400 Prozent zu steigern. Die Lösung bietet heute Informationen des Managements, Daten zu Wettbewerbern und Marktsituation, Telefon- und Wörterbücher, einen Reiseservice sowie wichtige Dokumente und Vorlagen. Auf Single-Sign-on, Personalisierbarkeit und die Integration von Anwendungen müssen die Mitarbeiter allerdings noch warten, bis der Konzern eine geeignete Portallösung eingeführt hat. Die Planung ist laut Irmscher bereits auf den Weg gebracht: Nestlé, das weltweit Business-Software von SAP einsetzt, wird auch in diesem Bereich auf das Angebot der Walldorfer

zurückgreifen.

Auch wenn E-Business mehr als drei Jahre nach dem Platzen der Internet-Blase in manchen Kreisen noch immer einen schlechten Ruf hat, sieht Irmscher dazu keine Alternativen. Mit der zunehmenden Verbreitung von Business-Case-getriebenen Implementierungen werde vielmehr ein zweiter Internet-Schub entstehen, so sein Credo: "Das Ende des Hypes war nur der Anfang einer neuen Epoche."