Komplexitätsfalle ERP

CIOs müssen die IT aufräumen

12.01.2012 von Martin Bayer
Durch Internationalisierung, Fusionen und ein oft rasantes Veränderungstempo sind die IT-Systeme vieler Unternehmen zur Komplexitätsfalle geworden. Um die steigenden Anforderungen aus dem Business erfüllen zu können, müssen die CIOs deshalb aufräumen.
CIOs müssen die IT aufräumen.
Foto: Fortolia, Yuri Arcurs

Früher seien die ERP-Zeiten einfacher gewesen, meint Winfried Bachmann, CIO der Kern-Liebers-Gruppe, ein Zulieferer der Auto- und Maschinenbauindustrie. "Buchungskreise und Kontenpläne einzurichten war kein Thema - aber heute wird es eins." Vor allem die verschiedenen rechtlichen und finanzregulatorischen Vorschriften in den weltweit verteilten Standorten machten die Sache teilweise recht knifflig, sagt der CIO. Beispielsweise müssten Firmen in China sehr genau auf ihre Materialflüsse achten. Je nachdem, ob man mit dem importierten Material Produkte für den chinesischen Markt fertigt oder diese wieder ausführt, muss man Zoll zahlen oder auch nicht. "Man hat also zweimal das völlig identische Material, es ist aber kaufmännisch alles andere als identisch." Firmen müssen lückenlos nachweisen können, was mit den verzollten und den nicht verzollten Waren geschehen ist.

CW-Marktstudien - besser informiert

Mit den kompakten Marktstudien der COMPUTERWOCHE erhalten IT-Entscheider Orientierung und Überblick zu aktuellen Marktentwicklungen und -trends. Im CW-Shop finden Sie:

  • COMPUTERWOCHE-Marktstudie ERP im Jahr 2010: Fast ein Drittel der eingesetzten ERP-Systeme ist älter als zehn Jahre. Zwar sind die meisten Anwender grundsätzlich zufrieden, dennoch steht bei vielen eine Modernisierung auf der Agenda. In welche Richtung sich der Markt bewegt und welche Pläne Anwender in Sachen Business-Software verfolgen, lesen Sie in der ERP-Marktstudie. (Preis: 149,90 Euro)

    Jetzt bestellen!

  • COMPUTERWOCHE-Marktstudie Datenqualität: Eine gute Datenqualität ist die Basis für ein fundiertes Reporting. Deshalb beschäftigen sich Unternehmen verstärkt mit diesem Thema und beginnen entsprechende Projekte. Was Anwender für eine bessere Datenqualität tun und wie die Projekte aussehen, lesen Sie in der Marktstudie Datenqualität. (Preis: 149,90 Euro)

    Jetzt bestellen!

Je internationaler, desto komplexer

Dabei sollten keine Fehler passieren, warnt Bachmann. "Man muss sehr genau darauf achten, sich an die Regeln zu halten. Die Steuerbehörden kennen keinen Spaß." Das gelte nicht nur für China. Der Aufwand, das SAP-System an länderspezifische Buchungskreise und Kontenpläne anzupassen, steige mit der weiter ausgreifenden Internationalisierung, so Bachmanns Fazit.

Lesen Sie mehr zu SAP-Systemen und Komplexität:

Die Probleme, mit denen sich IT-Chefs heute konfrontiert sehen, seien oft über Jahre hinweg aus der Firmenhistorie gewachsen, berichtet Jan-Henning Krumme, Leiter des SAP-Geschäfts bei Accenture. Umstrukturierungen, Merger und die Globalisierung hätten viele Systemlandschaften aus dem Ruder laufen lassen. Vor allem im Rahmen von Akquisitionen und Firmenzusammenschlüssen seien die Systeme oft nur rudimentär integriert worden. Häufig habe schlichtweg eine IT-Governance gefehlt. In der Folge sei es zu einem regelrechten Wildwuchs gekommen. Teilweise hätten die Unternehmen weit über 50 verschiedene SAP-Systeme im Einsatz. "Das ist nicht mehr zu handhaben", sagt Krumme, "diese Unternehmen sind zu unbeweglich geworden."

Wie alt ist Ihr ERP-System?
Was sind in Ihrem Unternehmen die drei Hauptziele der Investition in neue ERP-Systeme?
Sehen Sie Bedarf, Ihr ERP-System zu modernisieren?
Auf welchem Weg erwirbt Ihr Unternehmen seine ERP-Lösung, beziehungsweise hat es sie erworben?
Welche Priorität genießt das Thema ERP im Rahmen Ihrer IT-Strategie?
Wie wird bei Ihnen im Unternehmen die ERP-Lösung betrieben?
Unterstützen die Softwareanbieter ihre Kunden ausreichend bei der Modernisierung der ERP-Systeme?
Könnten Sie sich vorstellen, beim Kauf Ihres nächsten ERP-Systems den Anbieter zuwechseln?

Die so entstandenen Probleme lassen sich nicht länger ignorieren, bestätigt Phil Murphy, Principal Analyst von Forrester Research. Der jahrelange Wildwuchs habe seine Spuren in den IT-Infrastrukturen hinterlassen. Viel zu wenig hätten sich manche IT-Verantwortliche um das Management ihrer Applikationslandschaften gekümmert, so der Analyst. Das hat Folgen:

  1. Unternehmen müssen einen hohen Aufwand treiben, um ihre Anwendungen am Laufen zu halten. Forrester zufolge fließen rund zwei Drittel der Softwarebudgets in Betrieb und Wartung der Applikationen.

  2. Für neue Projekte und Innovation bleibt damit etwa ein Drittel des Softwarebudgets übrig. Das ist aus Sicht der Analysten zu wenig, um die gestiegenen Anforderungen der Business-Seite erfüllen zu können.

  3. Das belastet das Verhältnis zwischen IT und Geschäftsabteilung. Aus Sicht der Business-Seite versickert der Großteil des Budgets unsichtbar im Betrieb der Anwendungen, während nur wenige neue Projekte initiiert werden. In der Wahrnehmung des Managements verschwendet die unproduktive IT damit Geld, und das Business erhält nur wenig Gegenwert.

Hohe Anforderungen, wenig Geld

Die Zeit drängt, mahnen die Analysten: Um vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren zu können, müssen Unternehmen ihre Geschäftsprozesse agil auf die sich rasch verändernden Bedingungen umstellen können. Das ist jedoch alles andere als trivial. Denn nach wie vor herrscht in den Unternehmen ein hoher Kostendruck. Das bekommen auch die IT-Abteilungen zu spüren. Der CIO muss seinen Beitrag zu einer verbesserten Kosteneffizienz leisten, sagt Hans-Christian Schwieger, Partner Advisory bei KPMG. Er fordert eine effektive, aber auch günstige Prozessunterstützung. Die Tatsache, dass die beteiligten Systeme mittlerweile stark integriert sind, macht die Sache jedoch komplex. Hohe Business-Anforderungen mit weniger Geld und bei hohen Integrationsanforderungen zu erfüllen ist dem Experten zufolge ein Dilemma, in dem heute viele CIOs stecken. Um dem zu entkommen, gilt es, die Softwarelandschaften zu standardisieren und zu harmonisieren. "Konsolidierungsprojekte schießen derzeit wie Pilze aus dem Boden", berichtet der KPMG-Experte.

Es braucht allerdings viel Zeit und eine Menge Ressourcen - beides ist in den meisten IT-Abteilungen Mangelware-, um die Komplexität aufzulösen. Unternehmen, die sich dazu entschlossen haben, ihre Applikations- und Prozesslandschaft zu harmonisieren, sollten deshalb die Vorhaben sorgfältig planen. Was sich erst einmal als Binsenweisheit anhört, ist deshalb aber nicht zu unterschätzen. Der Grund: Harmonisierungsprojekte lassen sich nicht neben dem Tagesgeschäft quasi im Vorbeigehen über die Bühne bringen, sondern dauern in aller Regel länger. Außerdem müssen viele Beteiligte aus den IT- und Fachabteilungen unter einen Hut gebracht werden, und damit kann die ganze Sache komplex werden. Experten empfehlen einen Stufenplan:

  1. Als Erstes sollten die Anwender im Rahmen eines Assessments oder Workshops eine Bestandsaufnahme ihrer System- und Prozesslandschaft machen. Diese Analyse lässt sich zumindest teilweise Tool-gestützt abwickeln, beispielsweise um festzustellen, wie viele Modifikationen sich in einem SAP-System verbergen.

  2. Auf dieser Basis lässt sich dann das Harmonisierungspotenzial ermitteln, das in den Applikationen und Prozessen steckt. Es sollte Punkt für Punkt möglichst detailliert beschrieben und dokumentiert werden.

  3. Im nächsten Schritt gilt es, dieses Potenzial zu bewerten. Die Anwender müssen herausarbeiten, welche konkreten Vorteile für Business und IT herausspringen. Damit erhalten die Verantwortlichen eine Aufstellung darüber, an welchen Stellen eine Harmonisierung von Prozessen und Systemen sinnvoll ist.

  4. Steht fest, an welchen Harmonisierungsschrauben gedreht werden soll, muss eine Roadmap erarbeitet werden. Hierin legen die Verantwortlichen fest, welche Ziele in welchen Schritten mit welcher Priorität in welcher Zeit erreicht werden sollen.

  5. Steht die Roadmap, geht es daran, sie umzusetzen. Da Harmonisierungsvorhaben meist länger als ein Jahr dauern und viele Beteiligte aus den IT- und Fachabteilungen an einem Strang ziehen müssen, empfehlen Experten den Anwenderunternehmen, auf ein gutes Projekt- und Change-Management zu achten.

  6. Sind Prozesse und Systeme harmonisiert, müssen die Verantwortlichen dafür Sorge tragen, dass die Landschaft in Zukunft nicht mehr in Unordnung gerät. Dazu muss eine IT-Governance aufgestellt werden, die Verantwortlichkeiten festlegt und regelt, wie sich Prozesse und IT-Systeme weiterentwickeln sollen. Ein Application-Management hilft, den Überblick über die Business-Anwendungen zu behalten.

Anwender scheuen den Aufwand

Was sich in der Theorie gar nicht so kompliziert anhört, bringt in der Praxis jedoch so manche Tücke mit sich, wissen die Experten aus ihrer Erfahrung zu berichten. "Viele Anwender sehen die Probleme in ihren Landschaften, haben aber Angst davor, sie anzugehen", berichtet Accenture-Manager Krumme. Der Grund: Sie schätzen den damit verbundenen Aufwand als sehr hoch ein. Das führt letztendlich auch dazu, dass die Unternehmen ihre Harmonisierungsprojekte mitunter nur halbherzig angehen.

Nachdem technische Infrastrukturen wie Rechenzentren in den meisten Unternehmen bereits weitgehend konsolidiert sind, muss es in Sachen Harmonisierung auf Applikations- und Prozessebene weitergehen. Dabei dürfe jedoch keiner der beiden Aspekte vernachlässigt oder gar ganz außer Acht gelassen werden, mahnt Krumme. Am besten funktioniere die Harmonisierung, wenn Anwender die Projekte für Technik und Prozesse miteinander verzahnten.

Technik allein reicht nicht

Doch dabei stoßen die Anwender oft auf Widerstände, gerade wenn es um die Standardisierung von Abläufen geht. Nur zu oft scheuten die Fachabteilungen davor zurück, sich von ihren gewohnten Prozessen zu verabschieden - auch in der Meinung, sie würden die zur Diskussion stehenden Abläufe selbst am besten kennen. Um dem Kampf mit dem Business aus dem Weg zu gehen, fokussieren sich viele SAP-Anwender auf eine rein technische Harmonisierung, berichtet Krumme. "Sie verschenken damit letzten Endes beträchtliche Potenziale für Kosteneinsparungen und mehr Effizienz."

Lesen Sie mehr zu den Plänen der SAP:

Auch Schwieger empfiehlt den Unternehmen, Prozesse und IT-Systeme synchron zu konsolidieren. Sich nur auf einen der beiden Aspekte zu konzentrieren sei definitiv nicht anzuraten. Darüber hinaus sollten die Firmen darauf achten, neu designte Prozesse nicht auf Basis alter Software abzubilden, sondern alle Möglichkeiten neuer Software zur Standardisierung auszuloten.

Standard um jeden Preis?

Das erweist sich in vielen Fällen jedoch als schwieriger denn gedacht. Denn während sich beispielsweise Abläufe rund um die Finanz- und Personalabteilungen relativ einfach standardisiert in Software abbilden lassen, sieht es etwa im Vertrieb ganz anders aus, erläutert der KPMG-Mann. Viele Unternehmen haben sich nach der weltweiten Finanzkrise auf die Fahnen geschrieben, mehr auf ihre Kunden und deren Bedürfnisse zu achten. In diesem Zusammenhang haben die Verantwortlichen in ihre Sales-Abteilungen investiert und sie auch umgebaut. Die Kehrseite der Medaille: Wenn sich die Firmen neue Prozesse für ihre Vertriebsabteilungen ausdenken, passen diese Abläufe meist nicht in das Korsett von Standardsoftware. Erschwerend kommt hinzu, dass der Handel oft auch regional ganz unterschiedlich aufgestellt ist. Schwiegers Fazit: In diesem Fall kann die IT die Anforderungen aus dem Business nicht befriedigend umsetzen. Der KPMG-Experte empfiehlt den Anwendern in solchen Situationen eine möglichst pragmatische Lösung, ohne alles zwanghaft zu standardisieren.

Lesen Sie mehr zum Thema Application Management:

Kein SAP ohne Modifikation

Letzten Endes musste auch Kern-Liebers-CIO Bachmann sein SAP-System an der einen oder anderen Stelle modifizieren. Steuerrechtliche Besonderheiten in verschiedenen Ländern hätten dies erforderlich gemacht. Allerdings habe man sich bemüht, solche Eingriffe so weit wie möglich zu vermeiden. "Je mehr Modifikationen, desto schwerer tut man sich bei Release-Wechseln", lautet seine Bilanz. Deshalb müssten sich Unternehmen genau überlegen, wie stark sie in die Systeme eingriffen. "Behauptet jemand, er hätte ein SAP-System ganz ohne Modifikationen, bin ich skeptisch", sagt Bachmann. "Vielleicht weiß er nur nichts von ihnen."

Aufgeräumte Systeme sichern die Zukunft

Viele Anforderungen, die in den nächsten Jahren auf IT-Verantwortliche zukommen, lassen sich nur mit einer bereinigten Anwendungsinfrastruktur erfüllen.

  • Die User von morgen erwarten einheitliche, einfach und intuitiv bedienbare User Interfaces, die sich individuell an bestimmte Rollen und Profile anpassen lassen. Je größer der Wildwuchs, desto aufwendiger ist es, Funktionen und Daten bereitzustellen.

  • Die Analyse von Geschäftsdaten wird für die Steuerung der Unternehmen immer wichtiger. Sind die zugrunde liegenden Systeme aufgeräumt, lassen sich mehr belastbare Informationen sammeln, was zu einem stabileren Fundament für Entscheidungen führt.

  • Mit Smartphones und Tablets droht den IT-Abteilungen noch mehr Komplexität, wenn es darum geht, diese Geräte an Business-Applikationen anzubinden. Sind diese standardisiert, fällt auch die Integration mobiler Endgeräte leichter. Einheitliche Verknüpfungspunkte erhöhen außerdem die Sicherheit.

  • Web-2.0-Tools beispielsweise für Collaboration und Projekt-Management werden in Zukunft die Funktionspalette von Business-Applikationen erweitern. Ein weitflächiger und damit effizienter Einsatz dieser Werkzeuge ist jedoch nur innerhalb einer konsolidierten Anwendungslandschaft sinnvoll. Sonst droht ein Schnittstellen-Chaos.