Abbau von Hierarchien

Chef, nein danke

03.12.2012 von Constantin Gillies
Es gibt experimentierfreudige Unternehmen, die auf eine starke Selbstorganisation und unorthodoxe Führungsmethoden setzen, wie erste Beispiele zeigen.
Frank Roebers hat in seinem Unternehmen, Liquid Feedback eingeführt und setzt nun das um, was die Mehrheit seiner Mitarbeiter möchte.
Foto: privat

Der Plan des Chefs steht fest: Ab sofort werden alle Mitarbeiter über harte Kennzahlen bewertet, so kann jeder sofort sehen, wo er steht. Also sagt der Boss "Basta" und die Sache ist entschieden? Nicht bei der Synaxon AG. Denn beim westfälischen IT-Dienstleister läuft ein Experiment in Sachen elektronischer Mitbestimmung: Alle 150 Festangestellten können jederzeit im Intranet eigene Vorschläge machen, diskutieren und darüber abstimmen. Und vor allem: Chef Frank Roebers hat versprochen, alles, was die Mehrheit will, umzusetzen, solange es nicht dem Unternehmen schadet.

Heiß diskutiert wird aktuell die Mitarbeiterbewertung. Nicht alle wollen Kennzahlen, ein Mitarbeiter hat vorgeschlagen, stattdessen Feedback wie in der Grundschule einzuführen, also mit einem Text, der Stärken und Schwächen des Mitarbeiters beschreibt. "Momentan liegt aber der Vorschlag der Führungskräfte vorne", berichtet Roebers. Doch er würde auch den Grundschulmodus akzeptieren, wie er betont.

Eine Firma, in der der Chef auf die Belegschaft hört? Was für manche nach Schlaraffenland klingt, ist ein ernsthaftes Zukunftsmodell - das findet zumindest Gary Hamel. "Die Firma von morgen funktioniert ohne Bosse, Titel und Beförderungen", meint der amerikanische Managament-Guru, der weltweit selbst organisierte Firmen untersucht hat. Mit dieser Prognose ist Hamel nicht allein: Immer mehr Experten singen ein Loblieb auf das cheflose Unternehmen, und etliche Business-Bücher greifen das Thema auf - von "Erfolg ohne Chef" bis zu "The End of Leadership". Es weht also ein Hauch von Anarchie durch die Wirtschaftswelt. Doch ist das Unternehmen ohne Häuptlinge wirklich machbar - oder nur das Hirngespinst von Management-Gurus?

Mitbestimmung via Liquid Feedback

Synaxon-Chef Roebers macht die Probe aufs Exempel: Anfang des Jahres hat er in der Firma die Software Liquid Feedback eingeführt, um Vorschläge aus der Belegschaft einzusammeln (das gleiche Programm nutzt auch die Piratenpartei). Jeder Mitarbeiter kann anonym eine Initiative starten, über die nach einer Diskussionsphase abgestimmt wird. "Am Anfang ging es nur um Kleinigkeiten", berichtet Roebers. Die Mehrheit beschloss etwa, ein Betriebsfahrrad für Besorgungen in der Mittagspause anzuschaffen.

Doch mittlerweile geht es im Online-Plenum ans Eingemachte. Zuletzt kam aus der Mannschaft ein Vorschlag zu einer neuen Marketing-Strategie. Der scheiterte zwar an zu geringer Wahlbeteiligung, "doch den einen oder anderen Gedanken werden wir trotzdem aufgreifen", freut sich Roebers. Grenzenlos ist die Mitbestimmung natürlich nicht: Die Geschäftsführung hat ein Vetorecht - von dem sie bislang jedoch noch keinen Gebrauch gemacht hat.

Dass sich ein Unternehmen fast vollständig selbst steuern kann, zeigt die amerikanische Spielefirma Valve, bekannt durch Hits wie "Half-Life" oder "Left 4 Dead". Wer hier anheuert, bekommt am ersten Tag ein kleines Büchlein in die Hand gedrückt. Und was da drinsteht, überrascht viele Einsteiger - zum Beispiel, dass bei Valve niemand dem anderen Anweisungen geben kann. In der Firma gibt es nämlich weder Hierarchie noch zentrale Steuerung, stattdessen organisieren die Mitarbeiter alles selbst. Wer zum Beispiel eine Spielidee hat, kann sie intern präsentieren und Mitstreiter für sein Team anwerben. Dann stimmen die anderen mit den Füßen ab: Wer ein Projekt cool findet, tritt einfach in das Entwicklerteam ein und macht mit. Damit der Umzug auch technisch reibungslos funktioniert, hat man unter alle Schreibtische Rollen geschraubt.

Mitarbeiter beurteilen sich gegenseitig

Auch in Deutschland experimentiert die Videospielbranche mit Management "von unten". Die Frankfurter Kultfirma Crytek zum Beispiel hat schon vor einiger Zeit die Jahresgespräche abgeschafft. Peinliches Schweigen, krampfhaft ausgedachte Ziele, fragwürdige Bewertungen - all das gibt es bei den Machern von "Far Cry" nicht mehr. Stattdessen beurteilen sich die Mitarbeiter einfach gegenseitig. Jedes Quartal findet dazu eine Art von Online-Abstimmung statt: Dabei kann jeder Mitarbeiter an seine Kollegen aus einem Kontingent "Sterne" verteilen und das Feedback kommentieren.

Heiko Fischer, ehemaliger Personalchef bei Crytec, setzt auf Kollegenbewertung und Selbstorganisation.
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Bewertet werden soll, wie viel der jeweilige Kollege zum Erfolg des Teams oder Unternehmens beigetragen hat. Am Ende des Jahres wird dann abgerechnet und der vorhandene Bonustopf transparent aufgeteilt: Je mehr Sterne desto größer der Zuschlag. "So kann niemand mehr sagen ‚mein Chef sieht nicht, was ich wirklich leiste’", sagt Heiko Fischer, ehemals Personalchef bei Crytek und Miterfinder des Systems. Der 35-jährige Berliner führt heute sein eigenes Unternehmen und hilft anderen Firmen dabei, ebenfalls auf Kollegenbewertung und Selbstorganisation umzusteigen. Um seine Vision vom Unternehmen der Zukunft zu beschreiben, greift er gerne zum Bild vom Raumschiff, das von einer eingeschworenen Mannschaft gemeinschaftlich gelenkt wird: "Aus jedem willigen Betrieb kann man eine Art von Enterprise machen."

Innovativ mit "Wirtschaftsdemokratie"

Wie es ist, ohne Captain auf der Brücke zu fliegen, weiß auch Gernot Pflüger gut. In seiner Eventagentur CPP Studios herrscht "Wirtschaftsdemokratie", wie er es nennt. Das heißt: Die Belegschaft stimmt über alles gemeinschaftlich ab. Jeder darf mitreden, wenn es um Investitionen, das Einheitsgehalt oder Neueinstellungen geht. "Produktivität und Innovationskraft profitieren davon enorm", begeistert sich Pflüger, der seine Erfahrungen in dem Buch "Erfolg ohne Chef" aufgeschrieben hat.

Produktivität und Innovationskraft profitieren enorm von Mitarbeiterbestimmung.
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Seit gut 20 Jahren ist er nicht mehr der Herr im eigenen Betrieb - und langsam auch so eine Art Evangelist: Immer häufiger rufen ihn andere Chefs an und fragen nach Tipps, wie sie mehr Demokratie wagen können. Was Pflüger ihnen dann rät, ist im Prinzip ganz simpel: Lass die Leute ihre Zeit frei einteilen, setze auf Resultate statt auf Anwesenheit, schaffe autonome Teams mit nicht mehr als 150 Leuten. "Entscheidend ist, dass jeder in der Gruppe noch die Kausalitäten erkennt", erklärt Pflüger. Das heißt, jeder Angestellt kann sehen, was vorher nur der Manager wusste: Wie entstehen Kosten für ein Produkt? Was beeinflusst den Absatz?

"Vor allem muss jeder ohne Angst seine Meinung sagen können", predigt der experimentierfreudige Unternehmer. Dass das nicht immer angenehm ist, weiß er aus eigener Anschauung. Unlängst zum Beispiel hatte er für einen Kunden eine Werbekampagne mit sozialen Medien entwickelt. Als er sie auf der Mitarbeitersitzung vorstellte, trat ausgerechnet das jüngste Glied der Mannschaft vor und zerriss die Pläne in der Luft. "Nach einiger Zeit habe ich gemerkt, dass er recht hat", lacht Pflüger.

Ganz so weit ist man bei Synaxon noch nicht. "Wir sind hier keine Demokratie", räumt Vorstandschef Roebers ein. Dennoch wird sein Experiment von vielen Firmen aufmerksam verfolgt - unter anderem von einem Arbeitgeber, bei dem traditionell Befehl und Gehorsam an erster Stelle stehen. "Die Führungsakademie der Bundeswehr hat mich zu Vorträgen eingeladen", sagt Roebers, selbst übrigens Offizier der Reserve.

Constantin Gillies ist freier Journalist in Bonn.

Wenn jeder ein Manager ist

Auszug aus dem Mitarbeiter-Handbuch der US-Spielefirma Valve:

Das vollständige Handbuch gibt es als Scan unter: http://tinyurl.com/valve-handbuch