Neue Netzpolitik gefordert

Bundesministerin von der Leyen rückt von Internet-Sperrung ab

30.11.2009 von Jan-Bernd Meyer
Die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hat sich von der Sperrung von Internet-Seiten verabschiedet - vorläufig. Zumindest für ein Jahr soll gelten: "Löschen vor Sperren".

Vor der Presse hatte sich von der Leyen anlässlich einer Eröffnungsveranstaltung der Messe AG in Hannover geäußert. Die Veranstalter stellten erstmals ihr Messekonzept für die kommende CeBIT (vom 2. bis 6. März 2010) vor, das unter dem Thema "Connected Worlds" summiert wird. Die Ministerin ließ sich dazu aus, wie das Thema Kinderpornographie im Web zu behandeln ist.

Hierbei bezog sie sich auf die mit dem Regierungspartner FDP ausgehandelte Koalitionsvereinbarung. Darin habe man beschlossen, die ursprünglich geplante Sperrung von Kinderpornographieseiten für ein Jahr auszusetzen. Stattdessen wolle man entsprechend inkriminierte Seite durch Vertreter der Polizeiorgane zu löschen versuchen. Nach einem Jahr werde man dann Bilanz ziehen. Man werde resümieren, wie sich beispielsweise die Zahl der ins Internet gestellten Fotos von Kindern, die Opfer von pornographischen Verbrechen geworden sind, entwickelt haben.

Von der Leyen Bundesministerin für Arbeit und Soziales

Manchmal überschlagen sich die Ereignisse: Zum Zeitpunkt ihrer Aussagen in Sachen Kinderpornographie war Ursula von der Leyen noch Bundesfamilienministerin. Mittlerweile ist Franz Josef Jung als Bundesminister für Arbeit und Soziales zurückgetreten. Er stürzte über die undurchsichtige Berichtslage im Zusammenhang mit den Bundeswehrangriffen auf zwei Tanklastzüge in Afghanistan. An seine Stelle tritt nun von der Leyen. Ihren Posten als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jungend - wie das Amt offiziell heißt - übernimmt die hessische Bundestagsabgeordnete Kristina Köhler.

Die Ministerin hatte mit dieser Eröffnung auf die anhaltende Kritik reagiert, die sich seit dem Sommer 2009 aufgebaut hatte. Unter ihrer Ägide war ein Gesetz auf den Weg gebracht worden, dass dem Bundeskriminalamt weitgehende Befugnisse gibt, Sperrlisten aufzustellen - und dies ohne Richtervorbehalt. Da in der Folge der Initiative der Ministerin weitere Politiker aus der damaligen Großen Koalition sowohl von der SPD als auch von der CDU gefordert hatten, solcherlei Sperrlisten etwa auch für Killerspiele oder Filesharing-Seiten einzuführen; nachdem die CDU-SPD-Regierung auch wegen der Online-Durchsuchungs-Rechtsprechung erheblich in die öffentliche Kritik geraten war, hatte eine im Internet lancierte Petition gegen Internet-Sperren innerhalb kürzester Zeit knapp 135.000 Unterzeichner gefunden.

Kein Clash of the Cultures

Von der Leyen sprach insbesondere diese sehr öffentlichkeitswirksame Internet-Bewegung an und bemühte sich darzulegen, dass es zwischen "engagierten Bürgern" im Netz und "engagierten Politikern" ja wesentlich weniger divergierende Meinungen gäbe als es den Anschein hatte: "Den Clash of the Cultures gibt es nicht", sagte von der Leyen. Die Fronten seien bei weitem nicht so klar, wie manche das darstellten. So seien natürlich auch die Gegner von Internet-Sperren eindeutig gegen Kinderpornographie. Diese an sich banale Feststellung ist insofern bedeutsam, als sich die Ministerin damit klar gegen diejenigen Meinungsträger stellte, die in der Vergangenheit versuchten, den Petitionsbetreibern eine laxe Haltung zu diesem kriminellen Delikt unterzuschieben.

Beschwichtigungsversuche

Deutlich war von der Leyen anzumerken, dass sie nicht weiter Öl aufs Feuer in der Diskussion kippen wollte, sondern "dass sie gelernt hatte", wie wichtig die Diskussion unterschiedlichster Gruppen in der Gesellschaft ist. Sie machte Anleihen bei der Entdeckung Amerikas. Auch damals habe es in der Folge ein Gegenüber von alter und neuer Welt gegeben. "Heute brechen die Digital Natives in eine neue Internet-Welt auf und sie sind sehr kompetent in dieser Welt." Das habe sich auch an den "unzähligen Blogs und Foren" gezeigt, in denen über die Internet-Sperren diskutiert worden sei.

Das Internet ist keine neue Welt

Von der Leyen beharrte allerdings darauf, dass es bei der ganzen Diskussion nicht um das Thema Technik gehen würde und auch nicht um ein Gegeneinander von alter und neuer Welt. Vielmehr müsse sich jeder fragen, was Freiheit im Internet bedeute. Auch sei zu fragen, in welchem Verhältnis diese Freiheit und die Meinungsfreiheit zur Menschenwürde steht. Auch wenn das Internet ein "geniales Werkzeug" sei, gehe es bei der Diskussion um Internet-Sperren vor allem um eine Metaebene. Und hier gelte es festzustellen: "Das Internet ist keine neue Welt. Es stellt die Werte des Menschen nicht auf den Kopf." Allerdings habe sie in den vergangenen Monaten gelernt, dass "Politik Menschen schneller in Prozesse einbinden muss".

Aber die Diskussion um Kinderpornographie und Internetsperren hätten in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für dieses Thema geschaffen. Denn prinzipiell sei die Problematik ja schon lange bekannt. Öffentlich heftig diskutiert sei sie aber erst jetzt worden.

Von der Leyen gab zwischen den Zeilen zu, dass die Internet-Petition die Politik überrascht habe, weil sie sehr schnell eine großflächige Aufmerksamkeit und Bewegung erzeugt habe. Diese Erfahrung will die Ministerin nun nutzen. Sie wird hierzu im Internet einen Dialog anfachen, der via Lifestream geführt werden soll. Hierbei sollen alle möglichen Seiten wie Elternverbände, Kinderschutzorganisationen, Unternehmen zu Wort kommen und über Lösungen diskutieren. Die Frage sei immer, wie - auch im Internet - die Achtung, die Würde des Menschen gewahrt bleibt.

Fünf-Punkte-Plan

Von der Leyen sagte, für sie seien fünf Punkte wichtig, um Lösungen für die offenkundige Problematik zu finden. Erstens bedürfe es einer breiten Diskussion um eine geeignete Netzpolitik. Zweitens gehöre zum Thema Transparenz auch eine Aufklärung. Man müsse über negative Auswüchse im Internet reden. Sie führte explizit an, dass im Web Menschengruppen gezielt ausgegrenzt würden. Dinge wie Cyber-Mobbing und Grooming fänden schon bei Jugendlichen und Kindern statt. Insbesondere Grooming, also die gezielte Verächtlichmachung von Individuen via Internet, münde sehr häufig in gewaltsame und auch sexuelle Übergriffe in der Realität. Dies würden Untersuchungen ganz klar zeigen. Hier müsse man Aufklärungsarbeit bei den Kindern und Jugendlichen leisten. "Wir müssen hier konkret werden. Ich habe allerdings auch keine Antworten", sagte von der Leyen.

Drittens forderte die Ministerin Regeln darüber, wie man sich im Internet verhalten muss, wie zu kommunizieren sei. Natürlich gebe es Netiketten und ähnliches. Aber die Gesellschaft müsse Wege finden, diese Verhaltenskodices weiter zu entwickeln. Eine Option sei, dass auch Jugendliche und Kinder in diesen Dialog eingebunden und auch Verantwortung übernehmen würden - etwa, wenn ihnen in Chatforen verdächtige Verhaltensweisen begegnen würden.

Viertens stellte von der Leyen die Frage, wie "Gesetze im Internet gelebt werden". Natürlich sei ihr bewusst, dass es nationale Grenzen gebe, das Web aber international ausgelegt sei. Aber es gäbe ja eben auch internationales Recht. Im Zuge dieser Forderung äußerte sie sich auch zur Zukunft der Internetsperrungen und formulierte das Motto "Löschen vor Sperren", das nun für ein Jahr gelten soll.

Schließlich forderte sie ein Netz für Kinder, das sicher sei. Sie betonte, dieses Netz solle explizit auf die Bedürfnisse von Kindern und schon nicht mehr auf Jugendliche ausgerichtet sein. Solcherlei Angebote gebe es heute noch viel zu wenig. "Wenn ich Ihnen die unterirdisch niedrige Zahl von Internet-Seiten nenne, die es heute für Kinder gibt, die sicher sind, werden sie die Problematik einsehen - es sind rund 100."