Wenn Mitarbeiter geringwertige Sachen klauen

Bagatelldelikte als Entlassungsgrund?

17.01.2011 von Renate Oettinger
Dr. Christian Salzbrunn zeigt auf, wie Arbeitsgerichte bei fristlosen Kündigungen infolge von Bagatelldiebstählen entscheiden.

Kaum ein arbeitsrechtliches Thema hat die öffentliche Diskussion in den letzten Monaten so geprägt wie die Debatte um die fristlosen Kündigungen aufgrund von Diebstählen geringwertiger Sachen. Vorreiter in dieser Diskussion war der so genannte Fall "Emmely", der nun vom Bundesarbeitsgericht am 10.06.2010 in letzter Instanz entschieden worden ist. Über diesen Fall hinaus wurden folgende, weitere "Bagatellkündigungen" in der Öffentlichkeit zum Teil sehr politisch und auch sehr kontrovers diskutiert:

Nur Mundraub?
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Bislang orientierte sich die Rechtsprechung der Instanzgerichte bei der Frage der Rechtmäßigkeit von solchen Bagatellkündigungen am sogenannten "Bienenstichfall" des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1984 (BAG, Urteil vom 17.05.1984, Az.: 2 AZR 3/83). In diesem Verfahren bestätigte das BAG seinerzeit die fristlose Kündigung einer Bäckereiverkäuferin, die ohne vorherige Erlaubnis und ohne Bezahlung ein Stück Bienenstich verzehrt hat. Das BAG betonte in dem "Bienenstichfall", dass der Diebstahl oder die Unterschlagung geringwertiger Sachen geeignet sei, eine fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen. Denn nicht der materielle Wert des entwendeten Guts sei entscheidend, sondern der mit der Tat verbundene Vertrauensbruch.

Eindeutige Linie aufgegeben

Nun hat das Bundesarbeitsgericht in dem Fall "Emmely" seine bisher verfolgte eindeutige Linie, dass der Geringwertigkeit der gestohlenen bzw. der unterschlagenen Sache oder der geringen Höhe eines Vermögensschadens letztendlich keine entscheidende Bedeutung zukommt, aufgegeben.

Dem zu beurteilenden Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: die Klägerin, eine 50-jährige Mutter von drei Kindern, war seit April 1977 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerinnen als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigt. Am 12.01.2008 übergab der Filialleiter der Klägerin zwei Leergutbons im Wert von 0,48 Euro und von 0,82 Euro, die ein Kunde zuvor verloren hatte, zur Aufbewahrung im Kassenbüro, sofern sich der Kunde doch noch melden sollte. Die Kassiererin folgte dieser Anweisung nicht und löste diese beiden Bons zehn Tage später bei einem privaten Einkauf für sich ein.

Als die Beklagte hiervon erfuhr, kündigte sie ungeachtet des Widerspruchs durch den Betriebsrat das Arbeitsverhältnis fristlos, wogegen die Kassiererin eine Kündigungsschutzklage erhob. In dem Prozess bestritt die Kassiererin, die Pfandbons an sich genommen zu haben, und machte zur Erklärung, wie diese Bons letztlich in ihr Portemonnaie gelangt seien, mehrere in sich widersprüchliche Aussagen. Sie versuchte dabei auch, andere Mitarbeiter zu belasten. Allerdings erwiesen sich ihre Erklärungen letztlich als unzutreffend.

Das Arbeitsgericht Berlin wies ihre Klage ab. Auch die hiergegen eingelegte Berufung vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hatte keinen Erfolg. Denn auch das LAG hielt die gegen die Kassiererin erhobenen Vorwürfe für erwiesen und bezog auch die widersprüchlichen Aussagen zum Tathergang in seine für die Kassiererin negative Entscheidung mit ein. Eine Revision zum BAG ließ das LAG nicht zu.

Die von der Kassiererin erhobene Nichtzulassungsbeschwerde war wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Angelegenheit (nämlich der Frage, ob sich das spätere prozessuale Verhalten eines gekündigten Arbeitnehmers bei der Entscheidungsfindung nachteilhaft auswirken kann) erfolgreich. Im Rahmen des eingeleiteten Revisionsverfahrens hatte das BAG auch die Möglichkeit, zur Frage der Rechtmäßigkeit von Bagatellkündigungen erneut Stellung zu nehmen.

Rechtmäßigkeit in zwei Schritten prüfen

Hierbei wiesen die Richter des BAG in ihrer Urteilsbegründung ausdrücklich darauf hin, dass die Rechtsmäßigkeitsprüfung von Bagatellkündigungen - wie bei jeder fristlosen Kündigung - in zwei Schritten zu erfolgen habe. Zunächst müsse in einem ersten Schritt geprüft werden, ob ein "an sich" geeigneter Grund für eine außerordentliche Kündigung vorliegt. Entsprechend der bisherigen Rechtsprechung bejahten die Richter dies zwar auch für den vorliegenden Fall. Sie betonten insoweit, dass eine fristlose Kündigung weiterhin bei einem vorsätzlichen Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Vertragspflichten gerechtfertigt sein kann, auch wenn der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden für den Arbeitgeber gering sei.

Allerdings müsse bei den außerordentlichen Kündigungen gem. § 626 Abs. 1 BGB in einem zweiten Schritt überprüft werden, ob dieser Grund "unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter der Abwägung aller Interessen beider Vertragsteile" eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen kann. Im Rahmen dieser Einzelfallbeurteilung seien das Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung bereits erworbene "Vertrauenskapital" und die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes gegeneinander abzuwägen.

Insgesamt müsse sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als eine angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Dies sei nach Ansicht der Richter dann nicht der Fall, wenn eine Abmahnung als milderes Mittel angemessen und ausreichend sei, um künftig einen störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken und das Vertrauen in die Redlichkeit des Arbeitsnehmers wieder herzustellen.

Im Rahmen der hiernach vorzunehmenden Interessenabwägung nahmen die Richter eine grundsätzlich neue Bewertung vor und befanden die fristlose Kündigung der Kassiererin für nicht gerechtfertigt. Zugunsten des Arbeitgebers werteten die Richter zwar, dass das Fehlverhalten der Arbeitnehmerin den Kernbereich ihrer Arbeitsaufgaben als Kassiererin betraf und damit zu einem erheblichen Vertrauensverlust führte. Ferner berücksichtigten die BAG-Richter auch, dass die Beklagte als Einzelhandelsunternehmen besonders anfällig dafür sei, in der Summe hohe Einbußen durch viele kleinere Schädigungen zu erleiden.

Zugunsten der Kassiererin werteten die Richter dagegen, dass diese seit mehr als 30 Jahren beanstandungslos für das Unternehmen tätig gewesen sei und sich damit ein hohes Maß an Vertrauen verdient habe. Dieses "Vertrauenskapital" sei durch das einmalige Fehlverhalten und den in vieler Hinsicht atypischen Kündigungssachverhalt nicht völlig zerstört worden. Zudem stellten die Richter darauf ab, dass die Beklagte vergleichsweise eine nur sehr geringfügige wirtschaftliche Schädigung erlitten habe, wohingegen der Kassiererin mit der außerordentlichen Kündigung sehr schwerwiegende Einbußen gedroht hätten.

Nicht automatisch vollständiger Vertrauensverlust

Damit brachen die BAG-Richter im Rahmen ihrer Abwägung mit der langjährigen Linie, wonach der Geringwertigkeit der gestohlenen bzw. unterschlagenen Sache und der beanstandungslosen langjährigen Beschäftigung für die Bewertung der Rechtmäßigkeit einer fristlosen Kündigung keine entscheidende Bedeutung zukommt. Denn sie befanden, dass bei einem geringen wirtschaftlichen Schaden nicht automatisch von einem vollständigen Vertrauensverlust gesprochen werden könne und dass die Geringfügigkeit des eingetretenen Schadens nun zumindest im Rahmen der Interessenabwägung zugunsten eines Arbeitnehmers Berücksichtigung finden müsse.

Überdies stellte das BAG auch noch fest, dass das widersprüchliche Prozessverhalten der Kassiererin keine Rückschlüsse auf ihre Unzuverlässigkeit als Arbeitnehmerin zulasse. Dies erschöpfe sich allenfalls in einer sehr ungeschickten Verteidigung, könne aber nicht in der Interessenabwägung zur Begründung der Rechtmäßigkeit der Kündigung berücksichtigt werden. Nach alledem überwogen für die BAG-Richter letztlich die zugunsten der Kassiererin sprechenden Gesichtspunkte, so dass nach ihrer Ansicht die Ahndung der Angelegenheit mittels einer Abmahnung ausreichend gewesen wäre (BAG, Urteil vom 10.06.2010, Az.: 2 AZR 541/09).

Die vorliegende Entscheidung des BAG wird es Arbeitgebern in der Zukunft nicht einfacher machen, Arbeitnehmern wegen eines Bagatelldelikts fristlos zu kündigen. Zwar sind solche Kündigungen nach wie vor nicht kategorisch ausgeschlossen. Allerdings muss vor dem Ausspruch einer fristlosen Kündigung im Rahmen der Interessenabwägung ein jahrelang unbeanstandetes Arbeitsverhältnis und ein geringer wirtschaftlicher Schaden des Arbeitgebers nun stärker zugunsten des Arbeitnehmers in Betracht gezogen werden, als es bisher der Fall war.

Solche Fallkonstellationen werden künftig bei der Erstbegehung tendenziell nur mittels einer Abmahnung zu ahnden sein. Erst im Wiederholungsfall wird dann eine fristlose Kündigung in Betracht kommen können. Die neue Rechtsprechung des BAG lädt jedenfalls nicht dazu sein, eine Bagatellkündigung zum Vorwand zu nehmen, um sich von einem ungeliebten Mitarbeiter, der auf einem anderen Wege kaum zu kündigen ist, vorschnell trennen zu wollen.

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Der Autor Dr. Christian Salzbrunn ist Rechtsanwalt in Düsseldorf. Tel.: 0211 1752089-0, E-Mail: info@ra-salzbrunn.de, Internet: www.ra-salzbrunn.de