Automatisieren ohne Prozessoptimierung

Automation First!

08.08.2018 von Andreas Lüth
Wer sich aus den Zwängen des Business Process Reengineering befreit, baut seine digitale Belegschaft schneller auf.

Wir Deutschen neigen zur Gründlichkeit. Einen Geschäftsprozess zu automatisieren, ohne dessen Logik von Grund auf zu verbessern, kommt uns nur schwer in den Sinn. Doch immer häufiger ist genau das der Weg, um das Digitalisierungstempo des Wettbewerbs überhaupt noch mitgehen zu können. Getreu dem Motto: Erst automatisieren, dann transformieren.

Robotergesteuerte Prozessautomatisierung (RPA) bietet Unternehmen die Option, einen bereits bestehenden Prozess so zu automatisieren, wie er ist.
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Hierzulande ist dies fast schon eine kleine Revolution. Steht ein solches Ad-hoc-Vorgehen doch weitgehend konträr zu unserer Gewohnheit, zunächst einmal eher auf alle Risiken zu schauen, um sie nach Möglichkeit vorab auszuräumen. Und so steht die Notwendigkeit eines Business Process Reengineering (BPR) vielerorts außer Frage. Ein reiches Maß an Negativerfahrungen hat diese Vorsicht über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte genährt. Vor allem die zeitlichen und monetären Zusatzkosten vergangener Software-Implementierungen und Systemintegrationen haben entscheidend dazu beigetragen, dass die Verantwortlichen jede weitere Veränderung einer implementierten Prozesslösung mit großer Vorsicht betrachten.

Insbesondere die robotergesteuerten Prozessautomatisierung (RPA) bricht jedoch mit dieser Skepsis. Sie bietet Unternehmen eine ebenso praktikable wie kosteneffiziente Option, einen bereits bestehenden Prozess so zu automatisieren, wie er ist (As Is) - oder mit maximal kleinen Änderungen. Dank RPA stehen jetzt erstmals Technologien zur Verfügung, mit denen sich Geschäftsabläufe automatisieren lassen, ohne die Prozesslogik umstellen oder IT-Systeme anpassen zu müssen. Den Unterschied machen Software-Roboter, die aus einer rein virtuellen Ebene heraus Daten in die Benutzeroberflächen der am Prozess beteiligten Systeme eingeben. Somit eignet sich RPA vor allem für das Automatisieren transaktions­starker Abläufe, deren IT-Lösungen nicht ausreichend vernetzt sind. Ein Szenario, das an erstaunlich vielen Stellen unserer Wertschöpfung auch heute noch Gang und Gebe ist.

Somit kann nun eine Vielzahl von Aufgaben automatisiert und gewartet werden, ohne dass man die damit verbundenen Prozesse und Systeme antasten muss. Gerade auch aus Sicht des Business ergeben sich daraus ganz neue Optionen, um mit vergleichsweise einfachen Mitteln die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Dies gilt gerade auch für den Fall, dass ein bestehender Prozess in Teilen unvollkommen ist. Denn all seinen Schwächen zum Trotz, trägt er berechenbar zur Wertschöpfung bei. Zudem hat er sich bereits als stabil erwiesen. Zwei zentrale Eigenschaften, die ein reengineerter Ablauf, so gut sein Design in der Modellierung dann auch erscheinen mag, im Tagesgeschäft dann erst noch unter Beweis zu stellen hat.

Die Unwägbarkeiten des Status quo

Um sich den möglichen Nutzen einer As-Is-Automatisierung klar zu machen, lohnt ein genauerer Blick auf das gewohnte Vorgehen. Denn Prozesse zu optimieren und die hierzu erforderlichen Änderungen in der Geschäftssoftware nachzuziehen, stellt sich in der Praxis fast immer als extrem aufwändiges Verfahren dar. Nicht eben selten begibt man sich dabei auf eine Reise mit unbestimmtem Ausgang. Insbesondere in Großunternehmen führt das Business Process Reengineering dann immer wieder zu Mehraufwänden, welche die anfängliche Begeisterung der Transformations-Teams recht bald in Stress und Frustration um­schlagen lässt. Dabei beschränken sich die Kostensteigerungen keineswegs nur auf die monetäre Ebene, sondern zeigen sich gerade auch in zeitlicher Hinsicht.

Und selbst, wenn alles nach Plan läuft, so addieren sich die Zeiten der unterschiedlichen Phasen eines BPR-Projekts recht schnell auf ein Jahr und mehr. Eine besonders hohe Klippe gilt es beispielsweise gleich zu Beginn zu nehmen, wenn es eine funktionierende Governance-Struktur aufzubauen gilt, die von sämtlichen Stakeholdern akzeptiert wird. In Abhängigkeit von der Unternehmensstruktur und der Tragweite des zu ändernden Prozesses erwächst daraus eine beliebig komplexe Aufgabe, die mindestens einen Monat, oft sogar noch einmal deutlich mehr Zeit erfordert.

Für die eigentliche Konzeptionsarbeit - das Modellieren, Abstimmen und Beschließen des neuen Prozesses - gehen locker zwei bis drei weitere Monate ins Land. Vor allem dann, wenn Prozessdifferenzierungen nach Marken, Länderregionen und Kundensegmenten gewünscht sind. Weitere ein bis zwei Monate gilt es für das Programmieren der Lösung zu veranschlagen. Und während das Pilotieren des neuen Prozesses pro Land und Business Unit gut einen Monat dauert, verschlingt der üblicherweise in Wellenbewegungen verlaufende Rollout weitere drei bis fünf Monate. Gerne auch mehr. Summa summarum führt die Kopplung von BPR und Automatisierung zu Projektzeiten von einem Jahr und länger. Und wie sich der neue Prozess dann am Ende des Tages schlagen wird, das steht, wie bereits gesagt, dann noch einmal auf einem ganz anderen Papier.

Einsparungen erzielen und reinvestieren

Mit dem Boom der RPA-Technologien erhält das BPR-Vorgehen nun einen mächtigen Gegenspieler. Schließlich haben bereits zahlreiche RPA-Projekte eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass selbst komplexere Geschäftsprozesse innerhalb von zwei bis drei Monaten automatisierbar sind. Hinzu kommt: Die Unterbrechungen, die mit der Automatisierung bereits bestehender Prozesse einhergehen können, sind wesentlich kürzer als in den deutlich komplexeren Transformations­projekten.

Vor diesem Hintergrund muss die Frage erlaubt sein, inwiefern eine parallel zur Automatisierung erfolgende Transformation denn tatsächlich gerade jetzt erforderlich ist. Rechtfertigen die erhofften Nutzengewinne den Aufwand und die Risiken des BPR? Für den einen oder anderen mag dies ketzerisch klingen, doch jeder im Team sollte sich genau überlegen, warum der Prozess denn bislang noch nicht verbessert wurde und warum dies nun im Zuge seiner Automatisierung geschehen soll.

Berührt der zu automatisierende Prozess die Kernkompetenzen eines Unternehmens und entscheidet er unter Umständen sogar über seine weiteren Marktchancen, so wird die Antwort durchaus ein klares "Ja" sein. Automatisierung und Transformation sollten dann sehr wohl Hand in Hand gehen. Doch sind gerade solche Prozessveränderungen kom­plex und kostspielig. Um sich ausreichend Luft für ein solches Kernvorhaben zu verschaffen, lohnt es sich für das Unternehmen umso mehr, möglichst viele sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten für seine RPA-Werkzeuge zu identifizieren und diese konsequent auszunutzen. Denn innerhalb vergleichsweise kurzer, gut kalkulierbarer Zeiträume lassen sich damit Einsparungen erwirtschaften, die sich zur Gegen­finanzierung strategischer BPR-Projekte einsetzen lassen.

Die Erfahrungen der RPA-Vorreiter zeigen eindrucksvoll, welche Res­sourcen sich in diesem Zusammenhang umschichten lassen. Im Schnitt kann ein typischer Software-Bot die Arbeit von drei bis fünf Mitarbeitern übernehmen. In der Regel decken die daraus resultierenden Einsparun­gen die Kosten für die Prozessautomatisierung bereits im ersten Betriebsjahr ab. Von da an sind die zuvor noch gebundenen Mittel frei zur Allokation in echte Zukunftsprojekte.

Zu gegebener Zeit mag ein solches Zukunftsprojekt durchaus auch darin bestehen, einen zunächst nur automatisierten Ablauf dann schließlich auch inhaltlich anzufassen. Wertvolle Anhaltspunkte dafür, inwiefern sich nachgeschaltete Prozessoptimierungen lohnen, liefern die Statis­tiken der zuvor ins Feld geführten Software-Bots. Hierdurch entsteht ein detailliertes Wissen über die Performance von Abläufen, das es in dieser Form vielfach noch gar nicht gegeben hat.

Auf starke Governance achten

Last but not least: Da die Automatisierung eines bestehenden Prozes­ses weniger komplex ist und die Vorteile der Automatisierung schneller sichtbar werden, kann das erforderliche Change-Management in den Mittelpunkt des Projektes rücken. Denn wie jede andere Technologie benötigt auch RPA ein angemessenes Management der Konfiguration und des gesamten Lebenszyklus. Auch RPA-Investitionen brauchen eine starke Governance-Struktur. Nur dann lässt sich der Mehrwert der As-Is-Automatisierung absichern und ein wie auch immer gearteter Wildwuchs wirksam vermeiden.

Nicht zuletzt kommt dieses systematische Vorgehen dann auch wieder unserem deutschen Ordnungssinn entgegen. Und schlägt gleichzeitig eine tragfähige Brücke zum eher angelsächsischen Sinn für Pragmatik. Einem Sinn, der im Zeitalter der Digitalisierung mehr denn je zu einem der wichtigsten Wettbewerbsfaktoren wird. "Der kürzeste Weg, um vieles zu erledigen, ist immer nur eine Sache zu machen", brachte es bereits der schottische Reformer Samuel Smiles im 19. Jahrhundert auf den Punkt. Planvoll gesteuerte As-Is-Automatisierungen verleihen dieser zunächst vielleicht etwas hemdsärmelig klingenden Einstellung in bestechender Weise neue Relevanz. (mb)