SAP in der Kritik

Anwender kritisieren zu komplexe Systeme

01.03.2010 von Martin Bayer
Kaum ist die Wartungsdebatte vorbei, stellen SAP-Kunden neue Forderungen an ihren Softwarelieferanten. Die Systeme sollen weniger komplex und die Qualität der Produkte besser werden.

Großer Beratungsbedarf, wenig flexibel bei Änderungen, hoher Wartungsaufwand und Softwareentwicklungen, die teilweise an den Bedürfnissen der Benutzer vorbeigehen - so beschreibt Marco Lenck, Vorstandsmitglied der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG), auf Basis einer aktuellen Umfrage die Situation vieler SAP-Landschaften in deutschen Anwenderunternehmen. Die Systeme seien zu komplex und die Produktqualität sei auch schon einmal besser gewesen. Die einst innige Beziehung zwischen dem größten hiesigen Softwarehaus und seinen Kunden scheint Risse bekommen zu haben. Ursache dafür ist nicht allein der über Monate hinweg in aller Öffentlichkeit ausgetragene Streit um die Erhöhung der Wartungsgebühren. Auch mit der Technik sind die Anwender längst nicht mehr so zufrieden wie noch zu guten alten R/2- und R/3-Zeiten.

DSAG-Roundtable 2009
SAP-Anwender, vertreten durch die DSAG, diskutierten mit der COMPUTERWOCHE unter anderem, wie es in Sachen Enterprise Support weitergeht.
DSAG-Roundtable 2009
Nach Ansicht der Anwendervertreter bemüht sich SAP, wieder stärker auf die Kunden zuzugehen.
DSAG-Roundtable 2009
Etwa 50 Prozent der Kunden nutzen nach Angaben der DSAG bereits ERP 6.0, meist vollziehen sie dabei technische Release-Wechsel, erläutert Karl Liebstückel, Vorstandsvorsitzender der DSAG.
DSAG-Roundtable 2009
Vielen SAP-Nutzern sind die neuen Funktionen und Vorteile von ERP 6.0 nicht bekannt. Tools wie der Solution Browser, den SAP auf Drängen der Anwender eingeführt hat, sollen hier mehr Klarheit schaffen, erklärt Andreas Oczko, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der DSAG.
DSAG-Roundtable 2009
Noch immer ist den Softwarenutzern die Business Suite zu komplex, unter anderem wegen redundanter Funktionen und Datenhaltung. Unlängst begonnene Gespräche mit SAP über eine Verbesserung bewertet Waldemar Metz, als DSAG-Vorstandsmitglied für das Ressort Prozesse verantwortlich, positiv.
DSAG-Roundtable 2009
Firmen wollen heute genau wissen, was ein IT-Projekt bringt. Selbst für harmlose SAP-Release-Wechsel müssen IT-Verantwortliche heute einen Business-Case vorlegen, so Otto Schell, Mitglied des DSAG-Vorstands, Ressort Branchen.
DSAG-Roundtable 2009
Die DSAG hat sich eigenen Angaben zufolge komplett neu aufgestellt, um bei SAP mehr Gehör zu finden. Mittlerweile gibt es Vorstandsvertreter für Service und Support, Technologie, Branchen und die Business Suite, so Mario Günter, Geschäftsführer der DSAG.
DSAG-Roundtable 2009
Zwar wissen die Kunden, wie es mit den Produkten von SAP und Business Objects weitergeht, doch die Zusammenführung beider Firmen ist aus Sicht der Anwender noch nicht abgeschlossen.

Geringere Komplexität und höhere Qualität rangieren auf der Wunschliste der Anwender nach Verbesserungen mit deutlichem Abstand ganz oben. Die sonst üblichen Forderungen nach mehr Funktionen und einer besseren Bedienbarkeit der Software stehen auf der acht Punkte umfassenden Prioritätenskala dagegen am Ende.

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SAP hat den Kundenanschluss verloren

Den SAP-Verantwortlichen ist es in den zurückliegenden Jahren offensichtlich nicht gelungen, die Anwender von ihrer Roadmap zu überzeugen. Laut der DSAG-Umfrage nutzen zwar mittlerweile 80 Prozent der Kunden das aktuelle Release ERP 6.0. Dies dürfte allerdings hauptsächlich dem Auslaufen des Standardsupports und Lockrabatten geschuldet sein. Außerdem liege der Anteil in Bezug auf alle Installationen erfahrungsgemäß deutlich niedriger, sagt DSAG-Vorstand Karl Liebstückel. Die Adaptionsrate sei bei den DSAG-Mitgliedern höher, weil sie über die SAP-Produkte besser informiert seien. Den SOA-Visionen aus Walldorf folgt dagegen nur ein geringer Teil der SAP-Klientel. Drei Viertel der von der DSAG befragten Unternehmen plant keine SOA-Projekte. Der Umstieg auf SAPs neue Produktwelt bleibt damit meist rein technischer Natur. "Die Adaption von SOA ist schleppend", zieht Lenck Bilanz.

Auch sonst vermochten die SAP-Verantwortlichen ihre Kunden nur teilweise für ihre Strategien zu begeistern, wie die Umfrageergebnisse zeigen:

Nicht dazu gehört Thorsten Sommer, Leiter Business Information Technologies der Volkswagen AG. "Wir spielen keine aktuellen Kernel-Patches ein, sondern nur stabile", stichelte der IT-Manager unter dem Beifall seiner Kollegen.

SAP habe in den vergangenen Jahren viele Produkte entwickelt und auf den Markt gebracht, sagt Lenck auf der Suche nach einer Erklärung. Gerade rund um das ERP-System mit seiner nach wie vor sehr guten Qualität seien viele Technologien entstanden, die teilweise zu Problemen geführt hätten. "Es gab eine Zeit bei der SAP, da wurde die Geschwindigkeit der Produktentwicklung höhergestellt als die Sicherstellung, dass sich die neuen Produkte zu 100 Prozent in die bestehenden Systeme einfügen lassen", kritisiert der DSAG-Vorstand. Mehr Produkte und mehr Einsatzszenarien hätten zudem dafür gesorgt, dass die Software nicht mehr so gründlich getestet werden konnte wie früher. "Diese Faktoren haben zu einer gefühlten schlechteren Qualität geführt."

Nicht mit Kritik spart auch Volkswagen-Manager Sommer. In Wolfsburg sehe man SAP zwar als starken Partner, aber längst nicht erhaben über Kritik. Beispielsweise sei das technische Zusammenspiel der Produkte in Teilen verbesserungswürdig. Den fachlichen Mehrwert durch SAP müssten sich die Unternehmen durch steigenden finanziellen und technischen Aufwand erkaufen. Der Aufwand für Upgrades sei unverhältnismäßig hoch. SAP solle an Fachfunktionen arbeiten und die Komplexität seiner Produkte senken, rät Sommer seinem Softwarelieferanten. Teilweise gebe es im Portfolio unnötige technische Abhängigkeiten. Darüber hinaus wünscht sich der Manager stärker modularisierte und standardisierte Softwareteile sowie technische Enhancement Packages, die es Anwendern auch erlauben, einzelne Funktionen auszuschalten.

Ob seine Wünsche in absehbarer Zeit in Erfüllung gehen, scheint Sommer aber zu bezweifeln. SAP sei wohl derzeit an vielen Stellen mit sich selbst beschäftigt. Aber immerhin habe der seit kurzem amtierende Co-Vorstandssprecher Jim Hagemann Snabe im vergangenen Jahr mit seinem Bekenntnis zu verbessertem System-Management und mehr Modularität zwei von Sommers obersten Prioritäten getroffen. Software as a Service und hauptspeicherbasierende Datenbanken, die der SAP-Chef ebenfalls anführte, zählt Sommer nicht dazu.

SAP-Projekte oft komplexer als erwartet

Dazu kommt die steigende Komplexität der SAP-Systeme, mit der sich die Anwender nach eigenen Angaben zunehmend herumplagen müssen. Der DSAG-Umfrage zufolge entwickeln sich 64 Prozent der SAP-Projekte komplexer als ursprünglich erwartet. Grund dafür ist unter anderem die große Zahl von SAP-Systemen, die viele Unternehmen betreiben. Laut der Umfrage sind in jeder Anwenderfirma durchschnittlich 17 SAP-Systeme im Einsatz, davon nur fünf produktiv. Die übrigen dienen der Qualitätssicherung und der Entwicklung beziehungsweise sind Altsysteme oder fungieren als Sandbox zum Experimentieren.

Am Problem der wachsenden Komplexität müssten allerdings Anbieter und Anwender gemeinsam arbeiten, ermahnt Lenck beide Seiten: "Es ist zu kurz gegriffen, die Fehler nur auf Herstellerseite zu suchen." Häufig würden Unternehmen die SAP-Systeme nicht so einsetzen, wie es ursprünglich gedacht war. "Viele Entwickler bei der SAP waren im Nachhinein überrascht, was die Anwender mit der von ihnen entwickelten Software machen", berichtet der DSAG-Vorstand. "Mit dieser Haltung muss Schluss sein."

Lenck fordert klare Regeln, wie Entwickler Software erstellen und Anwender diese einsetzen sollten. Dieses Leitbild, eine System Landscape Governance, mache allen Beteiligten klar, in welchem Rahmen sie sich bewegen könnten. Dafür müsse der Hersteller allerdings für Transparenz sorgen und gut informieren. "Derzeit ist für die Anwender in aller Regel nicht nachvollziehbar, welche Folgen Veränderungen an der Software nach sich ziehen", kritisiert der DSAG-Vorstand. Verletzungen des Standards könne man in Kauf nehmen, solange es nicht zu viele seien und klar sei, welche Auswirkungen sie hätten. Das war in der Vergangenheit jedoch offenbar nicht der Fall. "Viele schlechte Installationen passierten unbewusst, weil die Anwender falsch beraten waren oder über zu wenige Informationen verfügten."

Doch es wird dauern, bis sich das ändert. Zwar wächst Lenck zufolge die Bereitschaft der Anwender, sich angesichts des Leidensdrucks stärker an Standards und Regeln zu halten. Allerdings bleibe die Frage, wie motiviert die Unternehmen sind, laufende Systeme anzupacken, nur um ein mögliches Supportproblem der Zukunft aus dem Weg zu räumen. Der Leitfaden werde dann greifen, wenn es um Neuinstallationen oder Änderungen gehe, glaubt Lenck. "Es wird aber nicht so sein, dass jeder Anwender sofort anfangen wird, seine SAP-Systeme umzubauen."

SAP-Spitze muss Vertrauen zurückgewinnen

Hätte DSAG-Vorstand Marco Lenck drei Wünsche an die SAP frei, würde er sich neben fehlerfreier Software und weniger Komplexität die Wiederherstellung der guten Kundenbeziehungen aus der Vergangenheit wünschen. Er ist aber optimistisch, dass sich SAP mit der neuen Doppelspitze aus Jim Hagemann Snabe und Bill McDermott wieder stärker auf die Bedürfnisse der Anwender konzentrieren wird. Auch die Impulse von SAP-Gründer Hasso Plattner, der offenbar im Hintergrund wieder fester die Fäden in der Hand hält, sieht der Anwendervertreter positiv. Es sei zwar nicht so, dass jeder nur auf In-Memory-Datenbanken warte, sagt Lenck. Zunächst benötigten die Anwender fehlerfreie Software und eine solide SAP-Basis, erst dann könne man von technischen Visionen träumen. Plattner könne jedoch im neuen SAP-Gleichgewicht eine sinnvolle Ergänzung bilden. "Wir brauchen eine innovative SAP, aber nicht um jeden Preis."