40 Stunden sind in der IT längst Realität

15.07.2004 von iweidner 
Verschiedene Verbände und Wirtschaftsinstitute überbieten sich in ihren Forderungen nach längeren Arbeitszeiten. Angemahnt werden verkürzter Urlaub oder 40 Arbeitsstunden pro Woche. Die meisten Vollzeitbeschäftigten in der IT-Branche können über diese Forderungen nur schmunzeln. Sie arbeiten schon jetzt länger.

Die tarifliche Arbeitszeit in Deutschland liegt im Durchschnitt bei 37,7 Stunden. Die tatsächliche Arbeitszeit der Vollbeschäftigten hierzulande beträgt nach einer Erhebung der Europäischen Union aber 39,9 Stunden und liegt damit nur knapp unter der europäischen 40-Stunden-Marke. Doch längere Arbeitszeiten bedeuten keineswegs eine höhere Arbeitsproduktivität.

Nach einer Umfrage der COMPUTERWOCHE arbeiten rund 80 Prozent der knapp 1800 befragten IT-Mitarbeiter mehr als 40 Studnen in der Woche. (Foto: Photodisc)

Während Beschäftigte in Großbritannien wöchentlich rund 43,3 Stunden am Arbeitsplatz verbringen, beträgt ihre Arbeitsproduktivität je geleistete Arbeitsstunde nur 85,5 Euro. Dagegen erwirtschaften deutsche Arbeitskräfte 106,8 Euro, so die Berechnungen von Eurostat, dem Statistikamt der Europäischen Union.

Steffen Lehndorff, Forschungsdirektor am Institut Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen, hat dafür eine Erklärung: "Kurze Arbeitszeiten wirken als Produktivitätspeitsche, weil sie die Phantasie anregen, wie in knapper Zeit besser gearbeitet werden kann.

Lange Arbeitszeiten dagegen führen eher dazu, dass Manager zu Denkfaulheit verleitet werden und zu der trügerischen Illusion, sie könnten ihre Marktposition durch eine Lohnkostenkonkurrenz mit Niedriglohnländern sichern".

Der Wissenschaftler vermutet, dass längere Arbeitszeiten als Umweg genutzt werden sollen, um die Einkommen zu senken. "Bezeichnenderweise ist 'zurück' das gegenwärtig am häufigsten verwendete Wort. Ein Land, das vom Wissen seiner Beschäftigten abhängt und einen wachsenden Bedarf an qualifizierten Dienstleistungen hat, sollte besser nach vorne blicken und eine Vorauswirtschaft betreiben", empfiehlt Lehndorff. Auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger warnt vor den volkswirtschaftlichen Gefahren von unbezahlter Mehrarbeit. Dadurch gehe die Kaufkraft zurück, eine Deflation könne die Folge sein.

Entwickler wünschen sich flexible Arbeitszeiten

In den Regionalbüros der Gewerkschaften Verdi oder der IG Metall gibt es kaum Anfragen von tarifgebundenen IT-Unternehmen, die vereinbarten Arbeitszeiten nach oben zu korrigieren. "Die Beschäftigten in der IT-Branche arbeiten sowieso schon länger", bestätigt Wolfgang Müller von der IG Metall in München. Auch Stephan Pfisterer vom Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (Bitkom) weiß, dass "40 Stunden plus" eher die Regel als eine Ausnahme darstellen.

Die SAP AG, die weder tarifgebunden ist noch einen Betriebsrat hat, vereinbart für ihre Vollzeitbeschäftigten Verträge, in denen die 40-Stunden-Woche Standard ist. Überstunden sind über das Gehalt abgegolten. Sind Projekte einmal zeitintensiver, können Mitarbeiter im Rahmen der Vertrauensarbeitszeit nach Projektabschluss einen Freizeitausgleich nehmen. Aber auch tarifgebundene Unternehmen wie Audi haben Lösungen gefunden, mit denen sie sich eine größere Flexibilität geschaffen haben. Konzernweit kann der Autobauer für 13 Prozent seiner Mitarbeiter die Wochenarbeitszeit von 35 auf 40 Stunden erhöhen. "Bisher haben wir nur für acht Prozent unserer Beschäftigten von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht", erläutert eine Unternehmenssprecherin. Zeitkonten bieten eine weitere flexible Lösung. Um Entlassungen zu vermeiden, senkte die Deutsche Telekom im Frühjahr sogar die wöchentliche Arbeitszeit von 38 auf 34

Stunden.

Die IT-Branche nimmt mit zahlreichen flexiblen Arbeitszeitmodellen und individuell ausgehandelten Arbeitsverträgen schon heute eine Vorreiterrolle ein. Aber auch, was die langen Wochenarbeitszeiten betrifft, führt sie die Rangliste an. Nach einer Umfrage der COMPUTERWOCHE arbeiten die meisten IT-Mitarbeiter weit mehr als 40 Stunden. 31,7 Prozent gaben an, bis zu 45 Wochenarbeitsstunden abzuleisten, 25,7 Prozent verbringen rund 50 Stunden pro Woche am Arbeitsplatz, und immerhin 23,7 Prozent der 1762 Befragten arbeiten mehr als 50 Stunden.

Andreas Boes, Arbeitswissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München, befragte von Ende 2003 bis Anfang 2004 IT-Mitarbeiter nach ihren wöchentlichen Überstunden. Führungskräfte gaben an, pro Woche knapp elf Stunden mehr als vertraglich vereinbart zu arbeiten, Berater rund sieben und Entwickler durchschnittlich drei Stunden. Mehrarbeit gehört in der IT-Branche also schon längst zum Alltag, eine weitere Erhöhung will kaum jemand. Die Beschäftigten wünschen sich vielmehr eine Beschränkung der Arbeitszeit.

"Erfahrene IT-Entwickler sagten mir in der Befragung, dass es auf Dauer nicht sinnvoll sei, täglich mehr als acht bis neun Stunden kreativ zu arbeiten. Gerade gute Leute sind nicht bereit, dieses Limit über längere Zeiträume zu überschreiten", so Boes. Außerdem gibt der Arbeitswissenschaftler zu bedenken, kämen mit längeren Arbeitszeiten oft Probleme im familiären Umfeld hinzu.

Druck auf Manager und Mitarbeiter steigt

Boes sieht das Dilemma, in dem sich viele Unternehmen befinden, wenn die Kunden den Preis drücken wollen und billigere Offshore-Angebote locken. Deshalb dächten Arbeitgeber daran, aus Kostengründen die Arbeitszeit zu erhöhen. "Dieser Weg ist gerade in der IT-Industrie wenig erfolgversprechend, denn der Produktivität und vor allem der Mitarbeiterzufriedenheit ist das sicher nicht zuträglich", gibt er zu bedenken. Wenn Unternehmen daran gelegen ist, gute Mitarbeiter an sich zu binden, kann sich eine rigide Arbeitszeitpolitik schnell rächen, denn soziale Belastungen wirken sich nachteilig auf die Arbeitsleistung aus.

Der IG-Metall-Mann Müller kann einer generellen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden für die IT-Branche durchaus etwas Positives abgewinnen: "Viele IT-Mitarbeiter würden sich über eine 40-Stunden-Woche freuen, wenn sie nämlich nicht mehr länger arbeiten müssten und die 40 Stunden das obere Limit wären."

 

Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich

Pro

+ Durch Arbeitszeitverlängerung und -flexibilisierung lassen sich Lohnstückkosten senken und Arbeitsplätze sichern (BDI).

+ Der Produktivitätsvorsprung gegenüber anderen Ländern ist nicht so groß, dass kürzere Arbeitszeiten gerechtfertigt wären; Schweizer arbeiten 220 Arbeitsstunden im Jahr, Deutsche 175 (CDU).

+ Wird jetzt die Wochenarbeitszeit verlängert, müssen die Lebensarbeitszeit und das Renteneintrittsalter nicht so stark angehoben werden (FDP).

Kontra

- Eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit um fünf Stunden würde die Arbeitslosenzahlen in kurzer Zeit über die Sechs-Millionen-Marke heben (Jürgen Peters, IG Metall).

- Wenn die Stundenlöhne zurückgehen, wird die Binnennachfrage geschwächt und die Deflation begünstigt - ähnlich wie in Japan(Peter Bofinger, Wirtschaftsweiser).

- Gebraucht werden unternehmensbezogene Konzepte statt allgemein verbindlicher Regelungen. Abweichungen nach oben und unten müssen möglich sein (Bert Rürup).