die bayerische landeshauptstadt als zentrum der hochtechnologie

Am Puls der Zeit

20.10.1999
München ist weltweit das Synonym für Bier, Oktoberfest und Gemütlichkeit. Mittlerweile hat sich das "Millionendorf" aber auch zu einem führenden Zentrum der Informations-, Telekommunikations- und Medienwirtschaft gemausert. Hochqualifizierte Fachleute sind rar. Die Gehälter liegen oft über dem Durchschnitt.

London - münchen - paris. Ein attraktiver Platz für die "heimliche Hauptstadt" Deutschlands zwischen der britischen und der französischen Metropole. Nicht um Shopping und Mode, Kunst und Glamour geht es: München ist der zweitwichtigste europäische IT-Standort, sagt McKinsey & Company. Rund 70 000 Beschäftigte verdienen nach Angaben des Beratungshauses in der bayerischen Landeshauptstadt ihren Lebensunterhalt in einem Unternehmen der Informations- und Kommunikationsindustrie. Nur der Raum London mit fast 100 000 Arbeitsplätzen und die beiden legendären US-amerikanischen IT-Zentren Silicon Valley mit 207 000 und Boston/Route 128 mit 118 000 Beschäftigten rangieren lautMcKinsey vor der süddeutschen Stadt an der Isar. Kein Wunder, daß alle gerne diese Zahlen übernehmen und von "Isar-Valley" schwärmen - die christsoziale bayerische Staatsregierung ebenso wie die rot-grüne Münchner Stadtspitze.

Die McKinsey-Studie folgt einer strengen Interpretation des Begriffs "IuK-Cluster" und nimmt nur Mikroelektronik-, Hardware- und Software-Unternehmen unter die Lupe. Die Produzenten digitalisierter Inhalte - also der gesamte Mediensektor - bleiben außen vor. Dabei sind die Wirtschaftsbereiche längst nicht mehr sauber zu trennen. Gut 100 000 Arbeitsplätze kommen in der Region München zu den 70 000 "harten" IT-Stellen dazu, wenn man Telekommunikation, Informationsstechnologie, Medienwirtschaft und Elektronik - den sogenannten Time-Sektor - als Einheit betrachtet.

805 IT-Firmen sind imRaum München

Immerhin gilt München nach New York als zweitgrößte Buchverlagsstadt der Welt. Im harten bundesdeutschen Wettbewerb um das Prädikat "Medienstandort Nummer eins" hat die Millionenstadt die Nase vorn. Wer die Wachstumsmöglichkeiten und die künftigen Beschäftigungschancen in der Region richtig einschätzen will, kommt an einer Gesamtschau, wie sie hinter der Cluster-Philosophie steckt, nicht vorbei. Und die heißt: Wirtschaftlich dynamische und technologisch innovative Zentren haben einen Fertigungs- und Dienstleistungskern, um den herum und mit dem vernetzt sich weitere Entwicklungs-, Herstellungs- und Vermarktungsunternehmen gruppieren. Eine gut ausgebaute Infrastruktur, qualifiziertes Personal, Forschungs- und Entwicklungskapazitäten sowie ein Ambiente, das hohe Lebensqualität ermöglicht, sind die Voraussetzungen der "Weltstadt mit Herz", sagen nicht nur Gutachter und Politiker.

"In einer Großstadt leben und trotzdem auf der Straße Freunde treffen, tagsüber im Job engagiert sein und abends im Biergarten entspannen, mal eben ins Deutsche Museum schauen oder mit dem Radl den Englischen Garten durchqueren - das ist München." Diese Zeilen hat nicht die Fremdenverkehrszentrale der Oktoberfest-Stadt entworfen. So wirbt das High-Tech-Unternehmen Rohde & Schwarz im Internet für ihren Stammsitz, den sie seit 66 Jahren hält. Der Großraum München sei ein "Elektronik- und IT-Mekka" mit ausgezeichneten Chancen für Stellensuchende, meint der Leiter der Unternehmenskommunika-tion Manfred Großmann. "Aus Unternehmenssicht ist es jedoch schwierig, den dringend benötigten Nachwuchs zu finden."

Konsequenz der Firma: Sie hat sich zusätzlich in Berlin niedergelassen und mit der Gesellschaft für Systeme der Informationstechnik (SIT) "eine abgesetzte Kompetenzinsel in Sachen IT-Sicherheit etabliert", wie Großmann sich ausdrückt. Wer wichtig ist in der globalisierten Welt der Daten und Netze, der steht im Branchenverzeichnis der Stadt München: Apple, Compaq, Compuserve, DaimlerChrysler Aerospace, Intel, Lotus, Microsoft, Netscape, Oracle, Ocè, Siemens, Texas Instruments, Sun Microsystems, Viag Intercom. Dazu kommen schnell wachsende und innovative Firmen der Branche.

Unternehmen mitSchornsteinen ohne Rauch

In ihrer jüngsten Studie hat die bayerische Staatsregierung 805 IT-Unternehmen in der Region gezählt. Ein Drittel der 25 größten deutschen Datenverarbeitungs-, Beratungs- und Softwareunternehmen hat demnach seinen Sitz in und um München. Jeder zehnte Beschäftigte der deutschen DV- und Elektronikindustrie arbeitet in diesem Wirtschaftsraum. Allein 24 000 sozialversicherungspflichtige Software-Experten sind hier tätig, hat die Stadt errechnet. Hinzu kommt eine große Zahl freier Entwickler, Berater und Serviceanbieter.

Ein besonders beliebter Standort für die Global Player und solche, die es werden wollen, ist der sogenannte "Speckgürtel" um die Stadt. Den bilden zum Teil selbständige Gemeinden, deren Infrastruktur aufs engste mit der Münchens verflochten ist und in deren Einzugsgebiet es noch genug Freiflächen für Firmenansiedlungen gibt: Unterföhring, Grünwald, Ottobrunn, Poing, Planegg, Martinsried, Ismaning.

"Die Stadt München freut sich am meisten über solche Unternehmungen, deren Schornsteine rauchen, ohne daß man Rauch und Schornstein sieht." Mit diesem Satz skizzierte bereits vor gut 30 Jahren der damalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel das Szenario für den High-Tech-Standort München. Da kann er sich heutzutage durchaus freuen über den "sauberen" Cluster, der sich aus dem Industriekern seiner Amtszeit - Elektrotechnik, Feinmechanik und Optik - entwickelt hat.

Personaler spürenNachteile der Region

Wesentlichen Anteil daran hat die Firma Siemens, die nach dem Zweiten Weltkrieg an die Isar zog. Der Konzern beschäftigt in der bayerischen Landeshauptstadt derzeit rund 30 000 Mitarbeiter. Ein guter Standort, sagt Anton Schmöller, Leiter des Personalwesens im Siemens-Bereich Information and Communication Networks: "Ohne Frage ist München eine der attraktivsten Städte Deutschlands, was Infrastruktur und Freizeitangebot angeht. Solche Orte entwickeln eine Eigendynamik: Hersteller ziehen Zulieferer und Kunden ziehen Anbieter nach sich."

Schmöller kennt aus der alltäglichen Arbeit auch die Schattenseiten, die diese Entwicklung aus der Sicht eines Personalverantwortlichen hat: "Der Arbeitsmarkt für hochqualifizierte Mitarbeiter ist sehr angespannt und die Personalkosten liegen spürbar über denen in weniger attraktiven Regionen."

Des einen Leid, des anderen Freud: Wer einen aussichtsreichen Job im IT-Sektor sucht, hat beste Chancen. Ein Blick auf die Stellenanzeigen an einem Wochenende im Sommer 1999 zeigt, wo für Bewerber der Clou des Clusters liegt. Längst nicht mehr nur die Firmen, die den Kern der Informations-, Telekommunikations- und Medienwirtschaft bilden,suchen qualifizierte Fachkräfte für Software-Entwicklung, Datenbank- und Netzwerkprojekte, Programmierung und Anwenderberatung. Im ersten Ring um den Kern finden sich beispielsweise Druckereien, die ihr Angebot von der Banknotenherstellung auf die Chipkartentechnologie ausweiten und dafür Entwickler und Systemmanager einstellen. Banken suchen Spezialisten für Geldautomatensysteme. Versicherungen benötigen Netzwerkmanager.

Zudem haben sich weltweit agierende Hersteller von Spezialsoftware in der Stadt angesiedelt - in der Nähe ihrer Kundschaft aus der Autoindustrie und dem Handel. Software-Ingenieure und IT-Berater werden von Management- und Unternehmensberatungen eingestellt, die ihren Auftraggebern in Großunternehmen oder in mittelständischen Betrieben technische, organisatorische und betriebswirtschaftliche DV-Gesamtlösungen anbieten. Schließlich kommt keine Marketing- oder Online-Agen- tur ohne informationstechnisches Fachpersonal aus, das die Funktionstüchtigkeit der firmeneigenen Netze garantiert und die Kunden qualifiziert berät und schult.

Eine der aufstrebenden Firmen, die "vom standortnahen Abnehmerkreis und der einzigartigen Community" profitieren, ist laut Vorstandssprecher Eberhard Färber die Ixos Software AG. Das Unternehmen hat sich "wegen der Gewerbesteuer" im Speckgürtel Münchens angesiedelt, "in einem flexiblen, ausbaufähigen und rundum angenehmen Umfeld", wie Färber den Technopark in Grasbrunn beschreibt.

Regierung spricht von"größtem Talentpool"

In der McKinsey-Studie werden die "funktionierende High-Tech-Community" Münchens, das dichte Service-Angebot und die Konzentration von IuK-relevanten Studien- und Forschungsmöglichkeiten in der Stadt gelobt. Die bayerische Staatskanzlei spricht gar vom bundesweit "größten Talentpool in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern". An den drei Hochschulen studieren hochgerechnet knapp 30 000 junge Männer und Frauen Ingenieurwissenschaft, Mathematik oder Naturwissenschaften.

Die Technische Universität allein verfügt über vier einschlägige Sonderforschungsbereiche: Informationsverarbeitung, Halbleiter, Parallele Rechnerarchitekturen und Simulation. Außerdem gibt es das Fraunhofer-Institut für Festkörpertechnologie sowie sechs hochkarätige Max-Planck-Institute - von Astro- bis Quantenphysik. Sowohl die Fraunhofer- als auch die Max-Planck-Gesellschaft steuern ihre deutschen Forschungsaktivitäten von Münchner Zentralen aus.

Das Referat für Arbeit und Wirtschaft hat eine Gesamtzahl von rund 6000 Beschäftigten in der außeruniversitären technologischen Forschung errechnet. Ein innovatives Feld, das Wechselwirkungen auslöst: "München ist ein führendes Zentrum für F&E-Aktivitäten der Privatwirtschaft", urteilen die städtischen Wirtschaftsförderer.

Viele Programme zurNachwuchsförderung

Bernhard Schicht zum Beispiel studiert Informatik und ist an zwei Firmen beteiligt. Zunächst gründete der 24jährige mit zwei Kommilitonen einen Computerservice. Rund um die Uhr und selbst am Wochenende rücken die Nothelfer aus, um bei Privatleuten und Firmen abgestürzte Rechner zu reparieren. "Ich gebe den Kunden auch Nachhilfe, damit der gleiche Fehler nicht noch mal passiert", sagt Schicht, der diesen Geschäftszweig inzwischen mit sechs freien Mitarbeitern betreibt und große Systemhäuser zu seinen Kunden zählt.

"Die Firmen sourcen immer mehr Funktionen aus - vom Systemservice bis zur Programmierung. Da steigen wir ein." Das zweite Unternehmen der drei Informatiker, "Stash Networks", erstellt vorallem plattformabhängige Java- Programme. "München ist ein interessanter High-Tech-Standort", sagt Noch-Student Schicht und hat nicht nur die geballte Präsenz potentieller Auftraggeber im Sinn. Sein Urteil schließt auch das offizielle Beratungs- und Unterstützungsangebot für Jungunternehmer sowie die kurzen Wege für informelle Netzwerke ein.

Schicht hat das ganze Instrumentarium zur Nachwuchsförderung kennen- und schätzengelernt: Teilnahme am Business-Plan-Wettbewerb, Crash-Kurs in Betriebswirtschaftslehre beim Büro für Existenzgründungen, Begleitung durch einen "active Senior". "Es mangelt nicht an Unterstützung," sagt der Jungunternehmer, "das Problem ist vielmehr, die Informationsvielfalt zielgerichtet zu filtern."

Kostenlose Beratung fürExistenzgründer

Das Münchner Technologiezentrum (MTZ) könnte sich zu einem Marktplatz für einschlägige Tips und Referenzen entwickeln. Dort siedeln sich Jungunternehmen aus dem Multimedia- und InternetSektor, aus Biotechnologie, Laser- und Medizintechnik und anderen High-Tech-Zweigen an. In Kooperation mit der Fraunhofer Management GmbH bietet das Arbeitsamt den Gründungswilligen kostenlose Fachberatung an.

Weitere Netzwerke und Transferstellen verfolgen das Ziel, das Know-how zu bündeln und aufzubereiten, das Jungunternehmer benötigen - vom Förderkreis Neue Technologien (FNT) über die GründerRegio M bis zum Technologie-Transfer-Verbund bei der IHK. Folgt man der Einschätzung des Referats für Arbeit und Wirtschaft, wonach München das "bundesdeutsche Venture-Capital-Zentrum mit vier der bedeutendsten privatwirtschaftlichen Wagniskapitalanbieter" ist, dürfte eigentlich keine clevere Geschäftsidee am Startkapital scheitern.

Dennoch: In der McKinsey-Studie wird beklagt, daß die Region um die bayerische Landeshauptstadt im Vergleich zu den IT-Standortkonkurrenten "nur über eine unbefriedigende Anzahl junger, schnell wachsender Unternehmen" verfügt. Das sieht der Stadtminister für Arbeit und Wirtschaft, Reinhard Wieczorek, ganz anders: "Für die Dynamik des Standorts stehen zahlreiche junge Unternehmen wie beispielsweise Articon, Brainforce Software, Ixos, Nemetschek, sd&m und Tria Software."

Wichtige Impulse gehen laut Wieczorek vom Business Plan Wettbewerb aus, der in diesem Jahr zum dritten Mal stattfand, unterstützt von der Software Offensive Bayern, von öffentlichen Förderprogrammen und Risikokapitalgebern sowie von den Business Angels. Wieczorek läßt auch den zweiten Kritikpunkt der Gutachter nicht gelten, wonach München im Bewußtsein "ausländischer Investoren weniger präsent und weniger attraktiv" ist als andere Regionen in Europa.

"Die Software- und IT-Firmen wissen die Rahmenbedingungen des Clusters zu schätzen", setzt der Münchner Stadtminister dagegen und verweist auf die "bundesweit niedrigsten Leerstandsrate auf dem Immobilienmarkt", den die Kommune verzeichnen kann.

*Helga Ballauf ist freie Journalistin in München.