Alles wartet auf den ersten "richtigen" Mikro des Marktführers:IBM kurz vor Workstation-LAN-Ankündigung

27.07.1984

MÜNCHEN - Alle Anzeichen sprechen dafür, daß aus den "Popcorn"-Spekulationen um eine neue IBM-Workstation in allernächster Zeit ein Announcement wird. Dieses beinhaltet dann nach Meinung der Branche nicht nur den ersten "richtigen" Mikrocomputer von Big Blue, sondern auch ein breitbandiges lokales Netz auf der Basis von "LocalNet", einem Breitband-LAN der amerikanischen Sytek, Inc., Mountain View. Mit einer entsprechenden Ankündigung für den europäischen Markt wird im August/September gerechnet.

Einzelheiten der Workstation beschrieb John C. Dvorak in der letzten Ausgabe der

US-Fachzeitschrift Infoworld, einer Schwesterpublikation der COMPUTERWOCHE: Danach basiert IBMs jüngster Mikro auf einem 80286-Chip von Intel und enthält ein neuartiges Bussystem sowie einen eingebauten Festplattenspeicher (20 Megabyte) und zwei Floppylaufwerke. Zusätzlich werden zwei neue Steckeinschübe zur Verfügung gestellt. Die Tastatur ist ein Redesign des XT/370 mit horizontalen Funktionstasten. Über ein Breitband-LAN von Sytek ist der Mikro netzwerkfähig. Bei Microsoft werden laut Dvorak im Moment 23 Systeme unter DOS 2.1 getestet, geplant sei aber auch der Einsatz von Unix. Die Maschine, die unter so unterschiedlichen Codenamen wie "Popcorn", PC und "PC Il" durch die Branche geisterte, wird laut Infoworld in den USA als "PC III" vermarktet und soll unter 5000 Dollar kosten.

Bereits im vergangenen Sommer hatte ein Vertreter von IBM auf einer Veranstaltung der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in Birlinghoven angedeutet, daß sich hinter der Workstation mehr als ein Produkt verbirgt. Damals berichtete der Big-Blue-Mann über ein Kooperationsprojekt mit der Pittsburgher Carnegie-Mellon-Universität (CMU), das auf dem gesamten Campus-Gelände realisiert werden sollte.

Zielsetzung: die Entwicklung einer prototypischen Computer-Kommunikations-Infrastruktur. Jeder Student erhalte den direkten persönlichen Zugriff auf alle Informations- und Verarbeitungsressourcen der CMU. Über ein Backbone-Netz würden lokale Netzwerk-Cluster mit Cluster-File-Servern und 50 bis 100 Workstations miteinander und mit den Mainframes des Universitätsrechenzentrums mit einem einheitlichen Filesystem verbunden. Über Kabel-TV solle das Verbundsystem auch von außen erreichbar sein.

Während einer zweijährigen "Übergangsphase" - der Startschuß für das Projekt fiel im Herbst 1982 - wollte IBM auf dem Gebiet des "Local Area Networking" sowie an der Entwicklung einer "Advanced Workstation" arbeiten. Parallel dazu beschäftigte sich das Software Department der CMU mit der Entwicklung von Unix-fähiger Software (Editor,

Textverarbeitungssystem, Unterstützung von Fortran, Pascal und C).

Verwirrung durch Mai-Ankündigung

Seit Anfang dieses Jahres kursierten dann zunehmend Gerüchte, daß IBM noch in diesem Jahr eine Reihe von lokalen Netzwerken auf dem Markt ankündigen wolle, darunter auch eine Entwicklung des auf dem Breitband-LAN-Sektor führenden Anbieters Sytek, zu dessen Kunden Unternehmen wie Shell, Martin Marietta, das Pentagon und das Military Weapon Command zählen. Bekannt wurde weiterhin, daß bei Sytek eigens eine Entwicklergruppe gebildet wurde, die sich damit beschäftigt, auf der Basis der "Local-Net"- Lösung ein Vernetzungskonzept für Mikrocomputer auf die Beine zu stellen.

Das Kabel-Announcement vom Mai dieses Jahres trug dann allerdings eher zur Verwirrung und zum Unmut der IBM-Anwender bei. Angekündigt wurden nämlich nur vier Kabel: Typ 1 umfaßt zwei Twisted-Pair-Kabel für die Datenübertragung, Typ 2 ebenfalls zwei Twisted-Pair-Kabel für die Datenübertragung und vier Twisted-Pair-Kabel für die Sprachübertragung, Typ 5 zwei Glasfaserkabel für die Datenübertragung und Typ 6 zwei Twisted-Pair-Kabel für die Datenübertragung. Seither rätselt die Konkurrenz, ob es die Typen 3 und 4 ebenfalls noch geben soll und, gesetzt diesen Fall, ob diese dann die Kabel sind, die auch Sytek verwendet, nämlich herkömmliche CATV-Kabel.

Für die Liaison mit dem Breitbandspezialisten sprechen aus der Sicht des Marktführers mehrere Gründe. Zum einen könnte IBM mit einer kombinierten Workstation- und LAN-Ankündigung zum jetzigen Zeitpunkt die Verärgerung der Kunden über das. "Non-Announcement" im Mai auffangen, ohne sich selbst schon jetzt auf einen Netzwerkkurs festlegen zu müssen.

Über eine breitbandige Lösung können die heute bestehenden Anforderungen, nämlich normale Terminals bis zu 19,2 KBit pro Sekunde an normale Rechner anzuschließen, realisiert werden. Darüber hinaus ist es aber auch noch möglich, über die reichlich vorhandene freie Kapazität neue Protokolle oder höhere Geschwindigkeiten sowie Sprache und Videosignale zu fahren, ohne die vorhandene Kabelinstallation zu verändern. Außerdem besteht theoretisch die Möglichkeit, sowohl ein Ethernet- als auch ein Token-Ring-Konzept zu verwirkliche, da die Breitbandsystems ein logischer Ring ist: Auf dem Rückweg über eine andere Empfangsfrequenz bekommt man sein eigenes Signal wie in einem Ring wieder zurück.

Weiterhin spräche für ein Breitband-LAN a la Sytek die Tatsache, daß dort seit geraumer Zeit ein Produkt in der Pipeline ist, das es erlaubt, IBM-Steuereinheiten und -Bildschirme direkt an das Netz zu bringen. Dieses "Sunflower" getaufte Produkt wird derzeit bei Shell in Houston getestet und soll im Frühjahr nächsten Jahres verfügbar sein.

Nicht zuletzt braucht der Marktführer aber auch ein Vernetzungskonzept für seine derzeit verfügbaren und alle weiteren geplanten Mikrocomputer der PC-Reihe. Hier könnte die zu erwartende Workstation in Verbindung mit einem breitbandigen lokalen Netz den Auftakt bilden.