Alle reden von Strategie - und keiner vom Bedarf

11.03.1988

Helmut Steeb

Geschäftsführer der Steeb-Unternehmensberatungs-Gruppe in Abstatt/Heilbronn

Problemlösungen sind heutzutage offenkundig kaum mehr allein mit gesundem Menschenverstand, fachlichem Know-how oder intuitivem Vorgehen zu erreichen. Wo immer Aufgaben bewältigt und Schwierigkeiten überwunden werden müssen, stellt sich die Frage, welche Strategie dafür in Frage kommt - wie man also die vorhandenen Kräfte und Möglichkeiten bestmöglich zur Zielerreichung ausschöpft.

Ob in der Politik oder im Verbandswesen, ob in Kommissionen oder am Stammtisch, ob im Betrieb oder Beruf: Alle reden von Strategie. Ein Begriff, der einst den Militärexperten und Kriegsplanern vorbehalten war, hat einen geradezu verblüffenden Einzug in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Alltag gehalten. Freilich: Dieser modisch gewordene Terminus wird beileibe nicht nur sinnvoll verwendet und umgesetzt, sondern auch - und gerade - gründlich mißverstanden und mißbraucht.

Nicht wenige Zeitgenossen assoziieren mit strategischem Vorgehen das bei Generalstäblern gängige Sieger-/Verlierer-Klischee. Egal, ob gerade eine Preisverhandlung, eine Personalkonferenz, ein Verkaufsgespräch, ein Dialog mit Mitarbeitern, eine Reklamationsabwicklung oder ein Kick-off-Meeting ansteht: Es geht offenbar hauptsächlich darum, Gegner oder Partner - das scheint gar keinen großen Unterschied zu machen - so zu manipulieren, daß sich die eigenen Vorteile maximieren. Man ist versucht zu glauben, es geistere ein verwandelter Schopenhauer durch die Lande, der seine oft zitierten Erkenntnisse über die Bedeutung des Wohlergehens zu einer neuen Einsicht umformuliert habe: "Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Eigennutz ist alles nichts."

Zunächst erscheint es verständlich, daß sich die strategischen Anstrengungen vieler Unternehmen und Karrieristen auf eine egozentrische Erfolgsvorstellung ausrichten. Es ist ja so viel schwerer geworden als noch etwa vor einem Jahrzehnt, zum großen Geld, zu viel Macht und zu hervorragendem Image zu gelangen. Alle stehen deshalb - der frischgebackene Volks- und Betriebswirt ebenso wie der Freiberufler im Mode-Metier oder der Marketing-Chef einer Maschinenbaufirma - vor der Frage, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen man am schnellsten reüssiert. Die Antwort darauf mag für viele Aufstiegs-Aspiranten lauten: "Fairplay als Pflichtübung akzeptiert - ansonsten aber abmelken, wo immer es möglich ist!"

Wer diese Geisteshaltung drauf hat, sollte einmal die Entscheidung der DV-Branche rekapitulieren und sich die Herausforderungen vor Augen halten, denen sie heute ausgesetzt ist. Jahrzehntelang wird sie von einer fast beispielslosen Prosperität verwöhnt, die sich vor allem auf die Tatsache zurückfallen läßt, daß die wirtschaftliche und technologische Entwicklung die Information als neuen Produktions- und Wettbewerbsfaktor je länger desto unentbehrlicher machte. Damit entstand für immer mehr Unternehmen ein unentrinnbarer Zwang zu Investitionen in informationstechnische Anlagen und Hilfsmittel. Die Anbieter - gleich, ob Hardwareproduzenten, Softwarehäuser oder DV-Dienstleister - profitierten unablässig von einem Boom, der sich ständig selbst zu nähren schien.

Seit einigen Jahren indes wird immer deutlicher, daß sich die Computerbranche praktisch seit ihrem Entstehen in einer Art von begünstigtem Ausnahmezustand befand. Man mußte erkennen, daß die Epoche der "Selfselling-products" vorbei war, und einsehen: Nun griffen auch in der Daten- und Informationsverarbeitung jene Spielregeln und Mechanismen, die seit jeher das Geschehen in der Marktwirtschaft prägen. Just zu diesem Zeitpunkt setzte auch in der DV-Landschaft die Strategie-Diskussion ein - mit Begleiterscheinungen, welche die Versäumnisse der Vergangenheit offenlegten.

So wurde hauptsächlich deutlich, welche festgefahrenen Spuren und eindimensionalen Denkschemata das informationstechnische Dauerwunder bei zahlreichen Fach- und Führungskräften der Branche hinterlassen hatte. Es zeigte sich in vielen Fällen, wie wenig man auf veränderte Markt- und Absatzbedingungen oder gar auf Krisenmanagement vorbereitet war. Zudem ließ sich beobachten, daß nicht wenige vom Rekordwachstum und -gewinn verwöhnten Spitzenkräfte in DV-Unternehmen ein durchaus realitäts- und anwenderfernes Weltbild entwickelt hatten. Da und dort mochte wohl auch die Illusion bestehen: Erfolg kommt von ungefähr - man muß ihn nur annehmen.

Auf solchen Mentalitätsmustern gedieh - um es auf den Punkt zu bringen - weithin ein ignorantes, vor allem aber egozentrisches Verhalten im Umgang mit Nutzern der Informationstechnik. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang all jene Versäumnisse in der Innovations-, Produkt-, Absetz- und Servicepolitik, die den DV-Kunden von heute so sehr zu schaffen machen. Das Spektrum reicht vom Software-Schlamassel über den System-Wirrwarr und das Standardisierungs-Tauziehen bis hin zur unkontrollierten Innovations-Explosion und zum erdrückenden DV-Manpower-Manko. Dafür revanchieren sich nun die Anwender mit harter Angebotsselektion, unerwartetem Herstellerwechsel oder sogar mit Investitionsverzögerungen.

Die zwangsläufige Umstellung vieler DV-Anbieter von dem Motto "Wir verkaufen, was wir produzieren" auf das Gebot der Stunde "Wir offerieren, was gebraucht wird" dürfte die Strategiediskussion in der Branche wesentlich bereichern. Sicherlich wird überall die Erkenntnis wachsen, unter welchen Voraussetzungen normalerweise überhaupt Erfolgsprinzipien funktionieren. Man mag dem Sozialforscher Wolfgang Mewes, der durch großkalibrige Anzeigen in führenden Medien seit vielen Jahren strategische Anleitungen anpreist ("Verbessern Sie Ihre Strategie!"), gegenüberstehen, wie man will - soviel steht fest: Er war einer der ersten Verfechter des Strategieprimats in der Bundesrepublik, dessen Überlegungen und Anstöße nicht nur von Praktikern aufgenommen, sondern auch von renommierten Wissenschaftlern respektiert werden.

Die mewesianische Maxime: Je konsequenter man seine Kräfte auf einen vorherrschenden Engpaß oder ein brennendes Problem einer eng umrissenen Zielgruppe konzentriert, desto größer wird der gestiftete Nutzen- und damit die eigene Anziehungskraft gegenüber Markt oder Betrieb. Also gilt es, sich nicht primär am eigenen Vorteil oder finanziellen Gewinn, sondern am größtmöglichen Nutzen für die Zielgruppe zu orientieren. Je besser dies gelingt, um so eindrucksvoller wird das Erfolgs-Feedback: höhere Umsätze, geringere Kosten, größeres Engagement der Mitarbeiter, erweiterter Handlungsspielraum, verstärkte Kundenbeziehung, mehr Zukunftssicherheit etc.

Diese Erfolgskybernetik läßt sich auch als Binsenweisheit deklarieren - trotzdem ist sie für viele Wettbewerber in der Computerbranche wohl so fremd wie die Sprache von Außerirdischen.

Der strategische Nachholbedarf - das illustriert der momentane Stand der Diskussion - ist in der DV-Welt noch beträchtlich: Viele Unternehmen stehen erst am Anfang eines bedarfs-und problemorientierten Umgangs mit ihren Marktpartnern, also den Anwendern. Es kann durchaus als Bemühen in die richtige Richtung gewertet werden, wenn renommierte Beratungsgesellschaften die Manager aus Nutzerfirmen auf Symposien "von der operativen Effizienz zur strategischen Fitneß" beim Einsatz des Computers führen wollen.

Um jedoch die strategischen Defizite in der informationstechnischen Branche selbst zu überwinden, reichen Seminarveranstaltungen sicherlich nicht aus. Vielmehr ist ein Bewußtseinswandel vonnöten, mit dem der Abschied vom einstmals überhitzten und damit ungesunden DV-Treibhaus vollzogen wird.