ALG-II-Pannensoftware vor der Ablösung

03.10.2008
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Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Nach jahrelangen Querelen rund um die Hartz-IV-Software "A2LL" plant die Bundesagentur für Arbeit (BA) offenbar eine Neuentwicklung. Der Schaden geht in die Millionen.

Die Software A2LL ist nicht so anpassungsfähig und flexibel programmierbar, wie wir es brauchen", kritisiert Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, die von T-Systems entwickelte Anwendung. Deshalb gibt es Überlegungen, eine komplett neue Software zu entwickeln. Diese könnte frühestens in fünf Jahren eingesetzt werden.

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Chronik des A2LL-Debakels

August 2003: Die Bundesregierung beschließt im Rahmen der Reform-Agenda 2010 die Einführung des Arbeitslosengelds II (ALG II).

Oktober 2004: Die Entwicklung der Software verzögert sich, obwohl der Zeitplan eng wird. Ab 1. Januar 2005 tritt das Sozialgesetzbuch II (SGB II) in Kraft.

November 2004: Technische Probleme behindern die Datenerfassung.

Januar 2005: Wegen eines Softwarefehlers müssen Hunderttausende von Empfängern auf ihr Geld warten.

April 2005: Das Softwarehaus Prosoz, das als Subunternehmer von T-Systems die A2LL-Software entwickelt hat, steht angeblich vor der Pleite.

Mai 2005: Die Bundesagentur für Arbeit fordert fünf Millionen Euro Schadensersatz von T-Systems.

August 2005: Durch einen Softwarefehler kommt es zu einer falschen Berechnung der Krankenkassenbeiträge.

April 2006: Kommunalverbände fordern, dezentrale Alternativsysteme für ALG II zuzulasen.

Juni 2006: Die Bundesregierung räumt einen Schaden von 28 Millionen Euro ein.

September 2006: Der schleswig-holsteinische Landkreistag schätzt den Schaden auf über 500 Millionen Euro.

November 2007: Ein fehlgeschlagenes Update legt das A2LL-System tagelang lahm.

Januar 2008: Die A2LL-Software wird offiziell abgenommen.

Die Verantwortlichen in der Arbeitsagentur wollen angesichts der fortgesetzten Probleme einen Schlussstrich ziehen. Die Software ist nicht zukunftsfähig, verlautet aus der Nürnberger Behörde. Es sei vor allem schwierig, gesetzliche Änderungen in dem System zügig abzubilden. Daher gebe es bereits seit längerer Zeit Überlegungen, A2LL abzulösen.

Die Software dient dazu, die Daten der bundesweit rund sieben Millionen Hartz-IV-Empfänger zu erfassen und die entsprechenden Leistungen zu buchen. Allerdings gab es seit Einführung der Software Anfang 2005 Probleme. Jeder Mitarbeiter, der mit A2LL arbeitet, verliere etwa eine Stunde am Tag, weil die Software nicht rund laufe, hieß es Ende 2005. Prozesse, die eigentlich automatisiert ablaufen sollten, müssten händisch abgewickelt werden. Außerdem fiel das System immer wieder aus. Zuletzt hatte im vergangenen November eine fehlerhafte Programmaktualisierung die Software für mehrere Tage lahm gelegt.

Dazu kam, dass die Mitte 2005 gesenkten Krankenkassenbeiträge der ALG-II-Bezieher nicht in das System eingepflegt werden konnten. In der Folge überwies die Behörde monatlich rund 25 Millionen Euro zu viel an die Kassen. Der Fehlbetrag summierte sich im Endeffekt auf 364 Millionen Euro. Für den Mehraufwand, die Folgen des Fehlers zu beseitigen, behielten die Krankenkassen 75,6 Millionen Euro ein.

Schäden im dreistelligen Millionenbereich?

Vor allem die Kosten für Umgehungslösungen und Upgrade-Prüfungen machen der Arbeitsagentur zu schaffen. Außerdem, so klagen die Verantwortlichen in Nürnberg, seien immer noch nicht alle notwendigen Funktionen verfügbar, obwohl die Software Ende Januar 2008 nach jahrelangen Verzögerungen offiziell abgenommen wurde. Welcher Schaden den öffentlichen Haushalten durch die langwierigen Probleme entstanden ist, lässt sich derzeit nicht exakt beziffern.

Die Zeche zahlen die Steuerzahler - und sie dürfte sich mittlerweile auf einen dreistelligen Millionenbetrag belaufen. 2006 taxierte der Landkreistag in Schleswig-Holstein die durch die fehlerhafte Software verursachten jährlichen Zusatzkosten zwischen 230 und 380 Millionen Euro. Grundlage war die Kalkulation, dass die Mitarbeiter in den Agenturen rund 15 bis 25 Prozent mehr Arbeitszeit benötigten. Inklusive der Aufwände aus dem Jahr 2005 und der Ausgleichszahlungen für die Krankenkassen dürfte sich der Schaden bis Ende 2006 auf deutlich über 500 Millionen Euro summiert haben - die Zusatzkosten aus dem vergangenen Jahr sind hier noch nicht eingerechnet.

Softwarekrücken mit Umgebungslösungen

Die Bundesregierung räumte Probleme mit A2LL ein. Zwischenzeitlich hätten sich die Anwender mit 146 Umgehungslösungen und Bedienhinweisen behelfen müssen, um die Software überhaupt nutzen zu können, hieß es im Mai 2006 in einer Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Dies führe zu einem zeitlichen Mehraufwand. Zudem würden gesetzliche Neuregelungen, die in das System eingearbeitet werden müssten, die funktionale Fertigstellung weiter verzögern. Den finanziellen Schaden konnte oder wollte die Regierung zu diesem Zeitpunkt nicht beziffern.

Offenbar beabsichtigen die politisch Verantwortlichen nicht, die finanziellen Folgen des IT-Debakels aufzudecken. Auf eine weitere Anfrage der Linken hin hieß es im Herbst vergangenen Jahres: "Es werden keine weiteren Berechnungen zur Ermittlung der durch A2LL verursachten Schadenshöhe durchgeführt."

T-Systems will sich zu den aktuellen Querelen rund um das Softwareprojekt nicht äußern. Die Kritik an der Software sei jedoch überzogen, klang auf Seiten des Dienstleisters durch. Immerhin sei die Anwendung abgenommen und laufe. Außerdem müsse die Software auch noch einige Zeit funktionieren, wenn sich die Behörde für die Neuentwicklung fünf Jahre Zeit nehmen wolle. Dann könne die Software so schlecht nicht sein.

Allerdings räumen die T-Systems-Verantwortlichen Probleme in den zurückliegenden Jahren ein. Das habe jedoch auch an den unglücklichen Startbedingungen gelegen. Immerhin habe man angesichts der knappen politischen Zeitvorgaben innerhalb weniger Monate eine Softwarelösung auf die Beine stellen müssen. In der Folge habe man immer "am lebenden Objekt" arbeiten müssen, so der Dienstleister. Eine Alternative habe es nicht gegeben - Hartz IV hätte sonst nicht an den Start gehen können. (ba)