Venture-Capital ermöglicht Blitzangriff auf den europäischen Markt:

AICorp will KI aus dem Elfenbeinturm holen

19.05.1989

MÜNCHEN (qua) - Aus den Mißerfolgen anderer US-Anbieter gelernt hat die AICorp, Waltham/ Massachusetts: Für den Europa-Vertrieb des Retrievalsystems Intellect und der Expertensystem-Shell KBMS gründete sie vom Start weg eigene Niederlassungen. Das Kapital dafür stammt vom Londoner Venture-Capital-Spezialisten Schroder.

Ungeachtet des seit 14 Jahren bestehenden Firmennamens hält der seit November vergangenen Jahres amtierende Deutschland-Geschäftsführer Rolf Levenhagen den Begriff Artificial Intelligence für überholt. Lieber benutzt der ehemalige Cincom-Vertriebsleiter den Ausdruck "wissensbasierte Systeme", um damit zu dokumentieren, daß die sogenannte "Künstliche Intelligenz" dem Stadium der akademischen Experimente entwachsen sei.

Mit ihrem Knowledge Base Management System (KBMS) will die AICorp kommerzielle Anwender - vor allem im Finanz- und Versicherungsbereich - ansprechen. Das Produkt läuft derzeit auf IBM-Mainframes unter MVS/XA, MVS und VM mit TSO und CICS sowie auf PS/2-Rechnern unter OS/2. Datenbankschnittstellen zu den IBM-Systemen IMS, DB2, SQL/DS und VSAM, aber auch zu IDMS von Cullinet sowie Adabas von der Software AG sind vorhanden.

Die künftige Produktpolitik der AICorp erinnert an die Strategie der Oracle Corp.: Einerseits will der Hersteller das IBM-Konzept SAA unterstützen; andererseits nennt er als sein erklärtes Ziel, das in "C" implementierte KBMS über möglichst viele Hardware-Plattformen zu ziehen. Die VAX-Familie von Digital Equipment wurde bereits angepeilt; die Portierung auf Unix soll folgen.

Diese Entwicklungsarbeit braucht dank der Finanzspritze von Schroder Ventures nicht unter den Kosten der europäischen Expansion zu leiden. Sieben Millionen US-Dollar Startkapital bewilligte die Venture-Capital-Gruppe dem US-Softwarehaus; im Gegenzug erhielt sie eine Mehrheitsbeteiligung an der Holding-Gesellschaft AICorp Europe.

Als Präsident der Holding fungiert Dick Borghart, ein langjähriger Mitarbeiter der von CA akquirierten Applied Data Research (ADR). Der europäische Markt, so Borghart, sei reif für das Angebot wissensbasierter Systemtechnik - nicht zuletzt deswegen, weil die IBM durch ihre eigenen Expertensystem-Shells den Boden bereitet habe.

Die Kehrseite der Medaille: IBM könnte für die Anbieter von wissensbasierter Systemtechnik ein ernstzunehmender Konkurrent werden. Phyllis Swersky, Executive Vice President in der AICorp-Zentrale, bestreitet jedoch, daß es ihrem Unternehmen ergehen könnte wie derzeit vielen DBMS-Anbietern: "Bei den Expertensystem-Shells ist noch keine Entsprechung zu DB2 in Sicht."

Borghart verweist in diesem Zusammenhang auf den techischen Vorsprung, den die im AI-Bereich großgewordenen Unternehmen gegenüber der IBM hätten: "Bis ein Produkt wirklich ausgereift ist, vergehen erfahrungsgemäß fünf Jahre." Es kommt allerdings darauf an, diesen Vorsprung zu halten - und genau das hätten die meisten Datenbankhersteller versäumt. Ex-Cullinet-Managerin Swersky mit einem Seitenblick auf ihre ebenfalls DBMS-erfahrenen Kollegen: "Wir werden denselben Fehler nicht noch einmal begehen."

Dick Boghart: Der europäische Markt ist reif für KI

Phyllis Swersky: IBM-Konkurrenz ist nicht in Sicht