Entwicklungs-Services mit Nearshore-Teams

Agile Software als Maßanzug für End-to-end-Prozesse

18.12.2017
Von 
Hans Königes war bis Dezember 2023 Ressortleiter Jobs & Karriere und damit zuständig für alle Themen rund um Arbeitsmarkt, Jobs, Berufe, Gehälter, Personalmanagement, Recruiting sowie Social Media im Berufsleben.
Der Mittelständler Solarlux entwickelt sein Kundenportal als Microservices in agilen Projekten. Das Softwareteam arbeitet dabei verteilt: am Firmensitz in Niedersachsen und, im Rahmen eines „Outbranching“, beim Dienstleister SHE in Cluj, Rumänien. Zwischenbilanz nach einem Jahr.

Alles von der Faltwand über den Wintergarten bis hin zur kompletten Stadionfassade: Die Solarlux GmbH fertigt, konzipiert, produziert und realisiert individuelle Glas- und Fassadensysteme. CEO Stefan Holtgreife setzt jedoch im Wettbewerb nicht allein auf die Produkte, sondern will die Kundenbindung auch durch Software stärken, die Mehrwerte schafft. Vor diesem Hintergrund stand Michael Berens, CIO des familiengeführten mittelständischen Unternehmens mit 780 Mitarbeitern, Vertriebspartnern in mehr als 50 Ländern und Hauptsitz im niedersächsischen Melle, 2016 vor der Aufgabe, eine Plattform für die Ablösung des existierenden Kundenportals zu schaffen.

Sitzt wie angegossen: Agile Software als Maßanzug für End-to-end-Prozesse.
Sitzt wie angegossen: Agile Software als Maßanzug für End-to-end-Prozesse.
Foto: Baiterek Media - shutterstock.com

Um den Übergang schlank und kalkulierbar zu gestalten, wollte Solarlux die neue Plattform auf Microservices aufbauen: kleinteilige Anwendungen, die in kurzen, einzeln testbaren Entwicklungsschritten zusammengefügt werden können. "Wir wollten weg vom Big-Bang", so der CIO, der sich aus großen Entwicklungsprojekten oft ergebe. Das sei gerade in Bereichen mit viel Dynamik wie Vertrieb und Kundenmanagement sehr wichtig.

Glatter Change-Prozess mit Microservices

So ein Wechsel lässt sich nicht nebenbei bewerkstelligen; das war Michael Berens von Beginn an klar. "Aus der Historie wissen wir, dass interne Entwickler immer auch Aufgaben aus dem Tagesgeschäft haben." Also stand er vor der Aufgabe, ein Team aufzubauen, das die Plattform und die Applikationen entwickelt - und zwar in agiler Methodik.

Das musste so sein, denn Software in Microservices-Architektur lässt sich nur agil entwickeln: mit viel Verantwortung für die einzelnen Entwickler, einem kommunikationsstarken Projektmanagement und unter verantwortlicher Beteiligung der Fachabteilungen. Das hat sich Berens von Kolleginnen und Kollegen bestätigen lassen, die über einschlägige Erfahrungen verfügen.

Michael Berens ist CIO der Solarlux GmbH.
Michael Berens ist CIO der Solarlux GmbH.
Foto: Solarlux GmbH

Agiles Arbeiten stellt hohe Anforderungen an alle Team-Mitglieder, angestammte wie neue. In Melle jedoch, das im Einzugsbereich der Städte Osnabrück, Bielefeld und Paderborn liegt, und von wo es auch nicht weit nach Hannover ist, erwies es sich als äußerst schwierig, überhaupt Entwickler zu finden - erst recht solche, die mit Scrum oder anderen agilen Verfahren vertraut sind. Berens: "Die großen Städte binden die Ressourcen und wir gucken in die Röhre, wenn wir Stellen ausschreiben."

Nearshoring - aber wie?

Angesichts dieser Situation gab es bei Solarlux schon frühzeitig Überlegungen in Richtung Nearshoring - dem Beschaffen von Entwicklungskapazitäten im nahe gelegenen Ausland. Es erwies sich jedoch als nicht einfach, einen Fuß in diese Welt hineinzubekommen, berichtet Berens: "Man kann ja nicht einfach jemanden ins Ausland schicken, um dort Entwickler zu suchen, ohne Verbindungen vor Ort zu haben." Was man brauche, sei eine stabile Infrastruktur für die Remote-Zusammenarbeit und den Draht zu einer Hochschule, um weitere Entwickler zu finden.

Vor diesem Hintergrund entschloss sich Solarlux, auf einschlägige Services zu setzen. Der CIO entschied sich in Absprache mit der Geschäftsleitung für ein Angebot der Ludwigshafener SHE Informationstechnologie AG, die über eine Tochtergesellschaft im rumänischen Cluj Software-Entwicklungsleistungen von der Beratung über Geschäftsprozessanalyse, Projektmanagement und Programmierarbeiten bis hin zu Deployment und Betrieb anbietet.

Es sei der "Outbranching"-Ansatz, wodurch sich SHE von anderen Nearshore-Anbietern unterscheide, erläutert deren CEO Carsten Stockmann: Weil man die komplette Software-Entwicklungskette abdecke und dedizierte Teams zusammenstelle, die ausschließlich für einen Kunden arbeiten, könnten die Kunden die Teams in Cluj führen wie eine eigene Niederlassung - auf Englisch "Branch".

Berens findet es übrigens generell einen "Riesenvorteil des Nearshoring im Vergleich zum Offshoring, dass die Distanzen zu unserem Standort relativ gering sind". Im Offshoring würden sich Projekte oft nicht rechnen, weil die Distanzen zu groß seien und keine Nähe aufgebaut werden könne. Bei Solarlux dauerte es nicht lange, bis man soweit war, ein Team nach Cluj zu schicken. "Wir haben dabei festgestellt, dass Mentalität und Zielvorstellungen zusammenpassen: agile Softwareentwicklung und Microservices-Architektur", resümiert der CIO den ersten Trip ins Nearshore-Land.

Auch die nächsten Entscheidungen fielen schnell: Anhand einer Web-App zur Berechnung des Wärmeübergangs-Koeffizienten von Verglasungen wurde die Zusammenarbeit zwischen Melle und Cluj ausprobiert - noch ohne festen Vertrag, sondern auf Basis von Time-and-Material-Berechnung. "Dieser Test hat gut geklappt", urteilt der Solarlux-CIO und führt das auch darauf zurück, dass die SHE-Entwickler sich auf "die Sache" konzentrieren konnten und nicht vom Tagesgeschäft in der Solarlux-IT abgelenkt wurden.

Outbranching: logische Fortentwicklung

Der Übergang zum Outbranching war der nächste Schritt. Marius Cimpean, der SHE Cluj gegründet hat und eng mit der akademischen Szene der Siebenbürger Uni-Metropole (rund 1000 Informatik-Absolventen jedes Jahr) vernetzt ist, konnte schnell ein Team von Entwicklern zusammenstellen, das zwecks "Onboarding" einige Tage am Solarlux-Hauptsitz in Melle verbrachte. Umgekehrt reist der Teamleiter mit einem Kollegen für eine Woche nach Cluj, um die Nähe zum Outbranching-Team aufzubauen.

Marius Cimpean hat SHE Cluj gegründet.
Marius Cimpean hat SHE Cluj gegründet.
Foto: SHE Informationstechnologie AG

Das Solarlux-Team bei SHE umfasst gegenwärtig drei Leute, die den gesamten Software-Stack abdecken können; darunter eine Senior-Entwicklerin mit der Qualifikation für Full-Stack-Entwicklungen. "Hohe Entwicklungskompetenz ist vorhanden", freut sich Michael Berens, der bereits einen Ausbau der Branch auf fünf Leute ins Auge gefasst hat. Vorerst wurde das Team für eine Übergangszeit um zwei Halbtagskräfte auf Time-and-Material-Basis erweitert. Der CIO: "Das zeigt, dass man in Cluj flexibel agieren kann."

Einschleifen musste sich freilich die Organisation der agilen Zusammenarbeit nach der Scrum-Methode, räumt der CIO ein. Es gelte, sich von der Denke "Wir hier oder die da drüben", die gelegentlich noch durchschlage, zu verabschieden. Zu dem Zweck soll demnächst ein Entwickler aus Melle organisatorisch in das Cluj-Team integriert werden, an denselben Aufgaben arbeiten wie die Kolleginnen und Kollegen in Cluj und per Skype an den im agilen Umfeld erforderlichen täglichen Besprechungen ("Daily Standups") teilnehmen - zusammen mit Entwicklungsleiter Lohmeier und dem jeweiligen Product Owner aus dem Solarlux-Fachbereich. Wenn dann trotz enger Remote-Kooperation doch mal eine Reise anfalle, halte sich der Aufwand mit Flugzeiten von weniger als zwei Stunden ab Dortmund oder Hamburg im vertretbaren Rahmen, so Berens.

Sorge um ihre Arbeitsplätze wegen preisgünstiger, rumänischer Konkurrenz müssen sich die Entwickler in Melle nicht machen, betont der CIO. "Es geht um eine Ergänzung des Teams, nicht um Ersatz." Die Entwickler bei Solarlux seien viel zu sehr mit dem Tagesgeschäft befasst, um auch noch eine neue Plattform bauen zu können. Außerdem habe man im Rahmen normaler Fluktuation zwei Entwickler verloren, die ersetzt werden mussten, so der CIO.

Das Gesamt-Team finde die internationale Zusammenarbeit im agilen Team "spannend, denn wer entwickelt nicht gern Software auf moderne Weise?" Man setzt bei Solarlux zudem auf einen Sekundäreffekt des Nearshoring: eine attraktivere Position am Arbeitsmarkt , wenn es darum geht, in der Heimregion Experten zu finden. "Die Arbeit in internationalen Teams macht sich natürlich gut in der Vita von Softwarekräften", weiß Berens. Sein Entwicklungsleiter Lohmeier bestätigt: "Ein internationales Team zu managen und darin mitzuarbeiten ist einfach interessant. Man spricht Englisch, und das trainiert ungemein."

Die Zwischenbilanz des CIOs nach einem Jahr Outbranching: "Wir haben Ideen ohne Ende, welche Software wir bauen können, die Nutzen für uns und unsere Kunden hat! Solche Software kann man nicht kaufen, wir brauchen also einen Maßanzug für unsere End-to-end-Prozesse. Den in agiler Methodik zu bauen, das ist der richtige Weg." Und mit dem Outbranching-Modell, resümiert Berens, könne man nun "in einem vernünftig gemanagten, dezentralen Team gute Software bauen, die die Unternehmensziele unterstützt."