Bi-modale Organisationen

Agil oder stabil? Beides!

24.04.2017
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Hendrik Schubert ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der EWERK Gruppe. 1995 erkannte er die Chancen, die sich durch das Internet und verbundene Technologien ergaben. Sein Credo: Digitalisierer sind die Architekten der nächsten industriellen Revolution. Wer nachhaltige Veränderungen erreichen möchte, muss sich entlang seines Business-Kontexts verändern und immer wieder aufs Neue querdenken.
Gewinnt der Beständige das Rennen, oder ist das Glück mit den Mutigen? Vor dieser Frage stehen Unternehmen in Zeiten des digitalen Wandels. Die Anwort liegt in einer gesunden Mischung aus beidem – in einer sogenannten bi-modalen Herangehensweise.

Unternehmer wissen: Der digitale Wandel erschüttert die Grundfesten unserer Wirtschaft. Firmen sind in ein Wettrennen eingetreten. Das Ergebnis: völlig offen.

Langsam und beständig wie eine Schildkröte – oder wendig und agil? Eine Kernfrage für heutige Unternehmen.
Langsam und beständig wie eine Schildkröte – oder wendig und agil? Eine Kernfrage für heutige Unternehmen.
Foto: R. Hall - shutterstock.com

Stellt sich die Frage: Gibt es einen Plan, eine Strategie, die sich unter den Gewinnern des digitalen Wandels herauskristallisiert? Denn natürlich gibt es unterschiedliche Herangehensweisen, dem Wandel zu begegnen. Einerseits durch exploratives, schnelles Vorstoßen in neue Gefilde, ähnlich einem Hasen - oder in bedachtem, beständigen und planvollem Handeln, das nach Stabilität in unsicheren Zeiten sucht: wie eine Schildkröte.

Im Hinblick auf die digitale Revolution führen beide Strategien mehr oder minder zum Erfolg. Statistiken belegen einerseits, dass Schnelligkeit und Mut nicht immer belohnt werden. Etwa die Hälfte aller Start-Ups schließen innerhalb der ersten fünf Jahre wieder. Noch deutlich werden die Zahlen, schaut man in Richtung der Epizentren der digitalen Revolution, wie etwa das Silicon Valley. Dort scheitern rund 90 Prozent der Neugründungen in den ersten fünf Jahren. Klarer Fall also: Der Hase verliert in der Mehrheit der Fälle. Oder etwa nicht?

Denn es lässt sich auch gegenteilig argumentieren. Schließlich haben die heutigen ganz Großen der Digitalindustrie aufgrund ihrer mutigen und oft schnellen Aktionen die Konkurrenz abgehängt - getreu dem altsozialistischen Motto: "Überholen, ohne Einzuholen". Ironisch, dass gerade dieser einst so zurecht belachte Satz in Zeiten der digitalen Disruptionen erstmals Gültigkeit erlangt.

Aus diesen Beobachtungen lassen sich zwei Grundregeln ableiten:

  • Zuerst muss man die Art des Wettkampfes verstehen. Denn der digitale Wandel hat kein deutlich umrissenes Ziel. Es geht hier um einen Prozess, nicht um ein Ereignis. Durchhaltevermögen ist deshalb wichtig - genauso wie das stete Ausschau halten nach neuen Richtungen.

  • Dann gilt es, die richtige Balance zwischen Agilität und Stabilität zu finden. Natürlich ist die Frage nach Hase oder Schildkröte falsch. Sie lautet vielmehr: Wie kann ich Hase und Schildkröte sein, und beide Eigenschaften, auf den ersten Blick gegensätzlich, vereinen? Wie kann ich echte Innovation und Agilität sowie Verlässlichkeit und Stabilität zur gleichen Zeit erreichen?

Die Antwort lautet: bimodale Fähigkeit. Der Begriff, erstmalig 2014 von den Köpfen von Gartner in die Diskussion eingebracht, beschreibt die Kombination zweier unterschiedlicher, aber komplementärer Herangehensweisen.

Im Modus 1 ist die Veränderung linear und konzentriert auf

  • Vorhersehbarkeit,

  • Genauigkeit,

  • Verlässlichkeit, und

  • Stabilität.

Modus 2 ist eine nichtlineare Herangehensweise und fokussiert auf

  • Agilität und

  • Schnelligkeit.

Lernen geschieht durch direktes Feedback.

Bi-modale Organisationen setzen auf einen stabilen Kern – und agile Bereiche, die Trial and Error zur hohen Kunst machen.
Bi-modale Organisationen setzen auf einen stabilen Kern – und agile Bereiche, die Trial and Error zur hohen Kunst machen.
Foto: EWERK

Das Tolle an bimodalen Organisationen ist die Tatsache, dass es die Debatte um Stabilität versus Agilität über den Haufen wirft und praktische operationelle Ergebnisse liefert. Es geht nicht darum, konkurrierende Philosophien gegeneinander abzuwägen, sondern beides als sich ergänzende Eigenschaften zu etablieren, die dann strategisch in unterschiedlichen Bereichen eines Unternehmens eingesetzt werden können.

Der bimodale Ansatz hat starke Ähnlichkeit zum agitalen Denken, einem Begriff, den ich bereits in früheren Texten etabliert und erklärt habe. Er beschreibt eine Mischung aus der für Disruptionen notwendigen Agilität im digitalen Zeitalter und dem eher deutschen Ingenieursdenken, welches inkrementelle Verbesserungen innerhalb bestehender Systeme vorantreibt.

Während bimodales Denken eher auf eine Veränderung der Organisation eines Unternehmens zielt, konzentriert sich agitales Denken in der Art und Weise, wie Menschen denken - egal, ob innerhalb von Unternehmen oder in anderem Kontext. Beiden ist der Ansatz gemein, den Herausforderungen des digitalen Wandels mithilfe einer Komplettierung bewahrender Haltungen durch agile Sicht- und Handlungsweisen.

Bimodales Denken ist nicht nur ein intelligenter und spannender Weg, er ist wahrscheinlich sogar unumgänglich. Denn in der immer vielschichtigeren und unberechenbaren heutigen Welt ist bimodales Denken eine Antwort auf die unterschiedlichen Bedürfnisse, die von allen Seiten auf Unternehmen einprasseln. Unsicherheit wird beherrschbarer, indem man sich unterschiedliche Herangehensweisen zurechtlegt - sozusagen auf alle Fragen eine Antwort haben.

Deswegen boomt der bimodale Ansatz derzeit in vielen Organisationen. Gartner hat in einer Studie 2016 festgestellt, dass 40 Prozent bereits auf dem Weg dorthin sind. Sie schätzen, dass 2017 bereits drei Viertel aller Organisationen den Ansatz implementieren wollen.

Tipps aufgrund gesammelter Erfahrungen

Auch wir haben in den vergangenen Jahren Erfahrungen mit dem bimodalen Ansatz gesammelt. Dabei haben sich für uns einige Fallstricke auf dem Weg zur bimodalen Organisation herauskristallisiert. Die folgenden vier Ratschläge sollten Ihre Reise erleichtern:

  1. Klein anfangen & im Prozess Laufen lernen
    Der Umbau bedeutet für die meisten Unternehmen einen riesen Schritt, organisatorisch wie kulturell. Deswegen: Nicht alles auf einmal wollen, sondern an relevanten neuralgischen Punkten klein beginnen. Und dann nicht aufhören, sondern den Weg stetig und konstant weitergehen. Parallel können Erfahrungen aus den ersten Umbauten zur Fehlervermeidung bei späteren Schritten dienen.

  2. Unternehmensbereiche in Modi einteilen
    Nicht jeder Bereich muss disruptiv werden - der Betrieb von IT-Infrastruktur etwa benötigt Verlässlichkeit und Konstanz. Daher gilt: klar definieren, welche Teams in welchem Modus arbeiten sollen. Andernfalls droht besagtes Chaos.

  3. Bewusst sein, dass bimodales Denken die gesamte Organisationsstruktur umkrempelt
    Bimodales Denken betrifft, entgegen den meisten Annahmen, nicht nur die IT. Natürlich ist besonders sie gefragt, denn schließlich ist das Kernziel das Meistern des digitalen Wandels. Doch auch andere Firmenbereiche können durch bimodales Denken zum neuerlichen Höhenflug ansetzen.

  4. Ach ja, und die Firmenkultur
    Bimodales Denken fordert Mitarbeiter heraus, ihre Beziehung zum Geschäftsmodell des Unternehmens bewusst zu machen - und gegebenenfalls neu zu definieren. Dies ist keine Gefahr, sondern eine Chance! Denn Mitarbeiter werden nun zur Verantwortung gezogen, produktorientiert zu denken. Prozesse und Projekte treten in den Hintergrund, das Ergebnis hingegen gewinnt an Bedeutung. Dies ist ein wesentlicher Baustein für Erfolg in Zeiten des digitalen Wandels.