Tight-Loose-Tight-Management

"Agil ist doch Quatsch"

Kommentar  17.05.2022
Von 
Trainerin für Führungskräfte und Organisationsdesignerin. Als Expertin für moderne Führung und achtsame Kommunikation unterstützt sie seit 2016 Führungskräfte und Unternehmen aus dem digitalen Umfeld, aber auch soziale Einrichtungen und Betriebe aus dem produzierenden Gewerbe. Sie verbindet in ihrer Arbeit nicht nur verschiedene Theorien und Ansätze, sondern auch ihre Erfahrungen aus dem Wassersport. Ihr Motto „Surfen lernst du nur in kleinen Wellen“ steht für einen achtsamen Wandel und Veränderungsprozess. Susanne Ringen lebt und arbeitet in Norwegen sowie Berlin. Zu erreichen ist sie unter

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Viele Führungskräfte kennen das: Das Team soll selbstorganisiert arbeiten – doch so richtig reibungslos und entspannt läuft es nicht. Die Tight-Loose-Tight-Methode könnte helfen.
Für einen kreativen und produktiven Workflow müssen klare Rahmenbedingungen geschaffen werden. Mit dem Tight-Loose-Tight-Prinzip können Führungskräfte optimalen Freiraum innerhalb gesetzter Grenzen bieten.
Für einen kreativen und produktiven Workflow müssen klare Rahmenbedingungen geschaffen werden. Mit dem Tight-Loose-Tight-Prinzip können Führungskräfte optimalen Freiraum innerhalb gesetzter Grenzen bieten.
Foto: sarayut_sy - shutterstock.com

"Agil ist doch Quatsch" ist oft das vorschnelle Urteil. So sah es auch die Führungskraft einer großen deutschen Zeitung, die mir in einem meiner Seminare von ihrem Frust berichtete. Was war los?

Eigentlich wollte die Führungskraft, dass ihr Team viel Verantwortung übernimmt. Stattdessen kamen Mitarbeiter ständig mit Fragen. Wollten nichts entscheiden, ohne sich immer wieder abzusichern. Daher begann die Führungskraft, das Team wieder enger zu führen. Machte Vorgaben. Entschied Dinge, die sie eigentlich nicht mehr entscheiden wollte. Doch es wurde schlimmer statt besser. Und die Führungskraft kam zu nichts mehr. Wie viele Führungskräfte äußerte sie Zweifel:

  • Können wirklich alle Mitarbeiter selbstorganisiert arbeiten?

  • Funktioniert das agile Prinzip vielleicht doch nur in bestimmten Branchen?

  • Wenn ich alles kontrollieren muss: Will ich dann überhaupt noch führen?

Das Tight-Loose-Tight-Prinzip

In solchen Fällen hilft eine hierzulande kaum bekannte Führungsmethode aus Norwegen. Kurzgefasst sorgt "Tight-Loose-Tight" dafür, dass Teams aufgrund klarer Führung eigenständiger arbeiten können. Das Ergebnis: Die Mitarbeiter entwickeln ungeahnte Kräfte – und die Chefs sind entspannter.

Im Seminar wurde der frustrierten Medienmanagerin klar: Das Problem lag in der Führung – und nicht in der mangelnden Eigenverantwortung der Mitarbeiter. Und schon gar nicht im Prinzip der Selbstorganisation. Sie verstand, dass sie ihrem Team nicht nur den Rahmen klarer stecken, sondern auch konkretes Feedback geben musste. Auf einmal hatte sie klare Anhaltspunkte zum Umsetzen – und hörte auf, am Prinzip der Selbstorganisation oder ihren eigenen Fähigkeiten zu zweifeln.

Um zu analysieren, was Ihr Team wirklich von Ihnen braucht, können Sie das Tight-Loose-Tight-Prinzip anwenden.

Sie können dadurch

  • die wirklichen Ursachen für Probleme in Ihrem Unternehmen oder Team identifizieren,

  • die richtigen Lösungsansätze in Ihrer Führung finden,

  • wertvolle Zeit und Geld sparen. Denn: Sie vermeiden Maßnahmen, die Ihre Probleme nicht lösen.

Tight-Loose-Tight hat ihren Ursprung in der agilen Softwareentwicklung. Der Begründer Rune Ulvnes erkannte, dass Methoden der Selbstorganisation zwar Raum für Innovation und Kreativität geben, Teams sich aber auch sich selbst überlassen fühlen können. Mit dem Ansatz entwickelte er eine Methode, die zum einen Eigenverantwortung im Team ermöglichte. Zum anderen ist die Führungskraft "nah dran". Unterstützung, keine Kontrolle.

Was bedeutet Tight-Loose-Tight?

Mit dem Begriff "Tight" setzen Führungskräfte einen Rahmen, eine Klammer, in der sich ihr Team bewegen kann:

  • "Loose" bedeutet, dass Ihr Team in diesem Bereich frei agieren kann – wie frei, ist abhängig von dem Rahmen, den Sie stecken. Sie vermitteln Ihrem Team klar und präzise das "Warum": die Vision und Ziele des Unternehmens, ihre eigene Erwartungshaltung und die gewünschten Ergebnisse. Seien Sie klar, deutlich und präzise.

  • Sie überlassen Ihrem Team das "Wie": Für die Art und Weise der Arbeit, der eigenen Organisation und der nötigen Prozesse ist das Team verantwortlich. Die Mitglieder treffen auch die Entscheidungen, die nötig sind, um effizient zum Ziel zu kommen. Lassen Sie Raum und schenken Sie Vertrauen.

  • Schauen Sie gemeinsam mit dem Team auf die Ergebnisse, das "Was". Entsprechen diese dem "Warum"? Räumen Sie Ihrem Team Steine aus dem Weg. Bieten Sie Unterstützung, wann immer diese gebraucht wird. Seien Sie Mentor, Feedbackgeber, Sparringspartner und lernen Sie mit dem Team, wie die Zusammenarbeit verbessert werden kann. Seien Sie nah dran.

Tight-Loose-Tight-Hürden in der Praxis

Nachdem die Führungskraft aus dem Seminar das Tight-Loose-Tight Prinzip verstanden hatte, wurde ihr bewusst: "Ich bin unklar in den Zielen und meiner Erwartungshaltung. Ich habe nicht deutlich genug gemacht, welchen Entscheidungsspielraum meine Mitarbeitenden haben. Auch gebe ich manchen nicht ausreichend Feedback, da es mir unangenehm ist, Dinge offen anzusprechen". Sie erkannte: Ich führe im Loose-Loose-Loose-Stil.

Im nächsten Schritt kommunizierte die Führungskraft die Ziele und Meilensteine klarer an die Kollegen. Sie besprach Entscheidungsspielräume mit einzelnen Teammitgliedern und definierte diese sehr präzise. Sie beschäftigte sich mit Feedback-Techniken und lernte, Rückmeldungen zu geben. Außerdem reflektierte sie mit ihrem Team in monatlichen Retrospektiven die Zusammenarbeit. Die Eigenverantwortung im Team nahm deutlich zu – und auch die Motivation. Die Führungskraft selber hatte mehr Zeit und Raum für eigene Aufgaben. Sie begann, immer mehr im Tight-Loose-Tight Stil zu führen.

Ein häufiger Fehler, der an dieser Stelle oft zu sehen ist? Häufig meint man, es würde helfen:

  • noch mehr Regeln,

  • noch mehr Anweisungen,

  • ein Team-Coaching über Verantwortung,

  • Kündigungen oder Neueinstellungen

einzuführen.

Doch das würde sehr viel Energie, Zeit und Geld kosten. Und nicht das gewünschte Ergebnis bringen: Eigenverantwortung und gute Ergebnisse. Denn ohne die Analyse würde das gesamte Team infrage gestellt werden, und nicht das eigene Führungsverhalten.

Die Struktur lässt sich so zusammenfassen: Klare Richtung. Machen lassen. Dran bleiben. Meine Erfahrung: Damit gelingt Ihnen die Führung entspannt – denn Sie wissen, wo Sie ansetzen müssen.

Tight-Loose-Tight umsetzen: Tipps

Wenn Sie Tight-Loose-Tight erproben möchten, machen Sie sich bewusst, was Sie dafür brauchen:

  • Klarheit

  • Vertrauen und loslassen

  • dranbleiben

Beobachten Sie Ihr Team: Welches Verhalten fällt Ihnen auf? Welches würden Sie gerne verändern? Bedenken Sie: Das Verhalten ergibt sich aus den gesetzten Rahmenbedingungen – nicht aus den Menschen!

Stellen Sie sich dann die Frage, wie Sie in den drei Bereichen agieren.

Ein Beispiel: Sie geben eine klare Richtung vor, machen aber auch Vorgaben, wie Ihr Team arbeiten soll: Sie besprechen jeden Schritt, übernehmen alle Entscheidungen. Durch Zielüberprüfungen, Feedback und Abstimmungen sind Sie nah dran. Ergebnis: Sie führen im Tight-Tight-Tight-Stil.

Gehen Sie nun wie folgt vor: Besprechen Sie mit dem Team noch konkreter die Ziele und welche Entscheidungsbefugnisse die einzelnen Mitarbeiter haben. Delegieren Sie die Verantwortung für die Arbeit zurück ins Team – so kommen Sie dem mittleren Loose näher. Und: Sie gewinnen Zeit für Ihre eigentliche Arbeit!

Wenn Sie Tight-Loose-Tight für Ihre Führungsanalyse nutzen, werden Sie nicht nur bei Ihrem Team, sondern auch bei sich selbst viel Potenzial entdecken. Sie werden sehen, wo Sie dem Team, aber auch sich selbst im Weg stehen. Und Sie werden herausfinden, welche Maßnahmen wirklich geeignet sind, damit die Performance und Eigenverantwortung Ihrer Teams steigt. Und Sie sich entspannen können und mehr Zeit für Ihre eigentliche Arbeit gewinnen.

Übrigens: Mit Tight-Loose-Tight wird in Norwegen nicht nur in so großen Organisationen wie Telenor (der norwegischen Telekom) und öffentlichen Einrichtungen wie NAV (vergleichbar mit dem deutschen Jobcenter) geführt. Aktuell lässt sich sogar die norwegische Kirche in Sachen Tight-Loose-Tight beraten, erzählte mir Rune Ulvnes jüngst. Da können wir uns in Deutschland doch ruhig was bei den Norwegern abschauen. Oder? (mp)