IT im Gesundheitswesen/Digitale Patientenakten - Traum jedes Verwaltungsleiters

Abrechnungswelten im Pilotbereich Kinderpsychiatrie zusammengebracht

17.11.2000
Auf dem Weg zur digitalen Patientenakte ist die Vestische Kinderklinik Datteln um wesentliche Schritte weitergekommen. Prozesse und Workflow haben heute einen höheren Automatisierungsgrad. Auch steht ein "Gerüst" für die Gesamtdokumentation der Daten zu den jeweiligen Patienten. Einige komplexe Abrechnungsschritte laufen bereits automatisch ab. Rolf Bastian* beschreibt den Wandel.

Auf den ersten Blick mag es paradox anmuten, doch DV und ärztliche Gebührenordnung haben eine ähnliche Funktion: Beide sollen die Wirklichkeit abbilden. Aber während die DV im Lauf der Jahre durch Diskussionen und Paradigmenwechsel diesem Ziel zumindest stetig näher kam, scheinen die Früchte gesundheitsbürokratischer Anstrengungen vor allem darin zu bestehen, dass sich die Praxis einer immer komplexeren Abbildung anpassen muss.

Tausende von Ziffern umfasst der zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Spitzenverbänden der Krankenkassen ausgehandelte "Einheitliche Bewertungsmaßstab" (EBM), der die Behandlung eines Patienten in abrechenbare Einzelleistungen und deren Wert umzusetzen versucht. Für viele Ziffern gibt es Sonderregelungen und Einschränkungen (einmal pro Quartal, einmal pro Patient während der gesamten Behandlung etc.) Durch gesetzliche Änderungen, den medizinischen Fortschritt oder neue Vereinbarungen wird dieser Katalog zudem ständig modifiziert. Rechtsanwälte schreiben zu den Möglichkeiten, die eine oder andere Ziffer zu bewerten, mittlerweile ganze Abhandlungen.

Der Arzt muss nach der Behandlung die durchgeführten medizinischen Maßnahmen im Raster dieses schwer überschaubaren Katalogs darstellen - nur so kann er eine Vergütung erwarten. Angesichts der Komplexität der Materie eine immer aufwändigere Angelegenheit.

Rund 20 Prozent seiner Arbeitszeit verbringt Dr. Rainer Dieffenbach, Leiter der Fachabteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Vestischen Kinderklinik Datteln, mittlerweile mit dem so generierten Verwaltungsaufwand - "Zeit, die meinen Patienten verlorengeht". "Nur wer sich detailliert mit dem EBM auskennt, kann seine Leistungen richtig abrechnen. Doch es dauert Jahre, bis man derart tief in die Materie vorgedrungen ist", so seine Erfahrung.

Ein wichtiges Ziel der Vestischen Kinderklinik ist es deshalb, mit Hilfe der IT die erbrachten Leistungen lückenlos zu dokumentieren. Das ist aber nicht alles: Nicht nur optimale Abrechnung, sondern generelle Reduzierung des Verwaltungsaufwandes und Optimierung des eigentlichen Zwecks eines Krankenhauses, der Patientenbehandlung, gehören zu den zentralen Anforderungen an ihre Informationssysteme. Im Unterschied zu manch anderer Klinik stellt sie deshalb nicht das Verwaltungssystem in den Mittelpunkt. Treibende Kraft, erläutert Andreas Wachtel, Verwaltungsleiter der Klinik, ist vielmehr das medizinische System, das alle angegliederten Prozesse im Haus optimiert.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde als Pilotbereich bei der Einführung ausgewählt, weil hier die Anforderungen besonders schwierig sind. Was hier funktioniert, kann getrost auf andere Abteilungen übertragen werden. Leistungen werden von den gleichen Therapeuten zum Teil stationär, zum großen Teil aber ambulant erbracht - dahinter stehen zwei "Abrechnungswelten". Mit einem einzigen Patienten arbeiten oft zahlreiche "Leistungserbringer" - Ärzte, Pychologen, Ergotherapeuten, Logopäden etc. -, deren Leistungen jeweils zugeordnet werden müssen. Eine weitere Besonderheit: Viele Patienten werden in Gruppentherapien parallel behandelt. All dies stellt höchste Anforderungen an Prozessorganisation und Dokumentation.

Die IT muss zwei große Bereiche integrieren. Patientenverwaltung und Abrechnung des stationären Bereichs werden zentral über SAP R/3 (Modul ISH) gesteuert. Den gesamten ambulanten Bereich hingegen rechnen die Fachabteilungen in eigener Regie ab. Dazu wurde die Lösung Cymed von K&L Konzepte, Witten, eingeführt, die sowohl Verwaltung als auch die medizinische Dokumentation abbildet. Zwischen beiden IT-Welten werden die Daten bi-direktional über HCM/ HL7-Schnittstellen ausgetauscht (siehe Grafik). Derzeit arbeitet man an einer BAPI-Anbindung für die Systeme der medizinischen Dokumentation.

Integrativer Mittelpunkt aller Systeme ist die Datenbank Sybase Adaptive Server Anywhere. Hier werden die Patientendaten aller Bereiche redundanzfrei gespeichert. Diese für mobile Geräte konzipierte SQL-Datenbank erfüllte die spezifischen Klinikanforderungen in doppelter Weise. "Zum einen besitzt sie die notwendige Performance, um einigen hundert Benutzern auch bei hohen Ablagemengen einen schnellen Zugriff zu garantieren", so Norbert Kettler, DV-Beauftragter der Kinderklinik. "Zum anderen ist sie so wartungsarm, dass wir die Datenkataloge wie Abrechnung, Hausarzt, Berechtigungen des Personals etc. ohne Administrator pflegen." So können die Anwender Module und Prozesse den sich permanent wandelnden Bedingungen anpassen. Angesichts der angespannten Budgets im Gesundheitswesens ein enorm wichtiger Aspekt.

Das Datenmodell unterstützt diese Flexibilität. Es wurde so aufgebaut, dass das gesamte System parametrisierbar ist. In der Datenbank sind neben den klassischen Stammdaten, mit denen die Klinik beschrieben wird, und den Bewegungsdaten (Patienten und deren medizinische Dokumentation) auch die Systemdaten gespeichert. Damit können über die Datenbank Prozesse dargestellt und diesen Masken, Ausdrucke etc. zugeordnet werden (siehe Grafik). So lässt sich die gesamte Umgebung leicht den veränderten Bedingungen anpassen.

Verwaltungsleiter Wachtel: "Werden beispielsweise die Bestimmungen des EBM oder die Zusammensetzung von Therapiegruppen geändert, können wir die Module zur Abrechnung ohne Unterstützung eines Administrators selbst modifizieren."

Nach definierten Zeiträumen werden die Dokumente in ein optoelektronisches Archiv überführt. Dieses ist mit der Datenbank gekoppelt, so dass auch Altbestände jederzeit verfügbar bleiben. Bei Recherchen merkt der Nutzer nicht einmal, ob er aktuelle oder archivierte Daten erhält.

Die Datenbank ist zugleich die technische Grundlage für das große Ziel von Wachtel: die vollständige digitale Patientenakte, in der alle Dokumente ausschließlich elektronisch existieren und dem Patienten automatisch zugeordnet werden. Auf dem Weg dahin wurden pragmatische Zwischenlösungen realisiert.

Cymed koordiniert die Abläufe zwischen verschiedenen Abteilungen und Personen, die Leistungen für einen Patienten erbringen. Ein neuer Patient erhält mit Unterstützung der Kalenderfunktion einen Termin im Zeitfenster von sechs bis acht Wochen. Notwendige Dokumente - Bestätigung, Hinweise, etwa dass eine Überweisung mitzubringen ist - werden generiert. Am Tag vor der Behandlung erstellt die Verwaltung automatisch Arbeitspläne, die neben den Stammdaten des Patienten die vorgesehenen Maßnahmen und zugeordneten Therapeuten enthalten. Sie werden als Ausdrucke in die Fächer der zuständigen Ärzte gelegt. Diese holen die Patienten ab, arbeiten mit ihnen und tragen die durchgeführten Maßnahmen in das Formular ein. Das Sekretariat gibt dann die Daten wieder ins IT-System ein.

In den Prozessabläufen ist bereits umfangreiche Dokumentation enthalten: Name, Adresse und Index des Patienten, überweisender Arzt, Untersuchungen und Diagnosen. "Diese Daten bilden das Gerüst für die Gesamtdokumentation des Patienten", so Dieffenbach. Jeder behandelnde Therapeut ergänzt sie, zum Beispiel Interpretation von Befunden, Empfehlungen oder weitere Maßnahmen. Dies geschieht heute in der Regel noch per Hand oder Diktat, und das Sekretariat trägt dann die Daten in die vorbereiteten Bildschirmmasken ein.

Dank dieser Dokumentation kann das Sekretariat jederzeit über Termine, Behandlungsstatus etc. Auskunft geben - etwa wenn Eltern anrufen. Gleichzeitig werden alle Maßnahmen festgehalten. Dies ist zum einen wichtig, um die ausufernden "Gegensysteme wie beispielsweise den medizinischen Dienst der Krankenkassen, die ebenfalls zunehmenden Verwaltungsaufwand generieren, mit Informationen zu bedienen", so Dieffenbach. Zum anderen wird die Grundlage für eine leistungsgerechte Vergütung geschaffen.

Die lückenlose Dokumentation aller Maßnahmen ist Voraussetzung, dass bei der Abrechnung keine Leistungen übersehen werden. Zugleich optimiert die IT den Abrechnungsprozess selbst. Beim Eintrag von Leistungsziffern in das Überweisungssystem etwa wird geprüft, ob sie schon einmal eingegeben wurden, ob sie stimmig und in dieser Form zulässig sind etc. Auch komplexe Abrechnungsschritte wie die EBM-gerechte Zuordung von Gruppenleistungen zu einzelnen Patien-ten werden automatisch abgewickelt. So bildet das IT-System das Wissen ab, wie der EBM optimal genutzt werden kann - "ohne dass sich jeder Arzt detailliert in dieses hochkomplexe Werk einarbeiten muss", berichtet Wachtel stolz.

So bringt das System den Ärzten und der Klinikverwaltung doppelten Nutzen. Den ersten kann man durchaus in Mark und Pfennig messen. "Früher hatten wir bei rund 350 Patienten pro Quartal einen Abrechnungsverlust von 15 bis 20 Prozent", so Dieffenbach. "Mit dem neuen IT-System ging dieser Schwund auf zwei bis drei Prozent zurück - bei gleicher Stärke des Verwaltungspersonals, aber einem Zuwachs auf 700 Patienten. Und wir haben sogar das Potenzial, 800 bis 900 Patienten zu verkraften." Der zweite Vorteil lässt sich weniger exakt messen, trifft jedoch den Nerv der medizinischen Betreuung noch deutlicher. Dieffenbach: "Eigentlich bin ich Arzt. Doch selbst bei einer relativ kleinen Abteilung werde ich zu einem riesigen Verwaltungsaufwand gezwungen. Die IT-Systeme, die uns unterstützen, sind Licht am Ende des Tunnels."

Nach dem Einsatz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat die Vestische Kinderklinik das System nun auch in anderen ambulanten Abteilungen eingeführt, darunter Notfallaufnahme, Phoniatrie, Röntgen, Kardiologie und Gastroenterologie. All diese Bereiche werden durch die gemeinsame Datenbank Sybase Adaptive Server Anywhere integriert. Als nächstes Projekt steht die medizinische Dokumentation mit Cymed auch im stationären Bereich an.

Langfristiges Ziel ist es, die heute noch notwendigen manuellen Zwischenschritte und den Einsatz von Papier abzuschaffen, alle Daten direkt ins System einzugeben und alle Dokumente ausschließlich digital zu verwalten. Mit einer Datenbank, die in gleicher Form auf dem Server und auch auf mobilen Geräten in den Stationen - etwa Handhelds etc. - genutzt werden könnte, sind hier interessante Optionen geschaffen. Wachtel: "Auch wenn das heute für uns zweifellos noch Zukunftsmusik ist - es wäre die logische Konsequenz der digitalen Akte."

*Rolf Bastian ist Fachjournalist in Mainz.

Systemumgebung- Datenbank-Server: Pentium III 550 MHz

- 6 SCSI-Festplatten im RAID-Level-5-Verfahren mit zirka 70 GB Speicherkapazität, 512 MB Hauptspeicher.

- Betriebssystem: Windows NT 4.0 Server

- 40 Clients: Pentium III 400 bis 600 MHZ, 128 MB Hauptspeicher,4- bis 10-GB-IDE-Festplatte

- Betriebssystem: Windows NT 4.0 Workstation

- Netz: Giga-Ethernet-Backbone

- Geswitchtes Fast Ethernet mit 3Com-Komponenten

Die KlinikDie 1946 gegründete Vestische Kinderklinik Datteln ist heute eines der größten Krankenhäuser ihrer Art in der Bundesrepublik. Das überregionale 280-Betten-Haus, das mittlerweile Universitätsklinikum geworden ist, versorgt jährlich über 8000 Patienten stationär und mehr als 25000 ambulant. Es bietet ein breites Spektrum an Behandlungsgebieten für Kinder und Jugendliche aller Altersstufen.

Die Fachabteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie untersucht und behandelt junge Patienten mit psychischen Störungen (soziale und emotionale Verhaltensauffälligkeiten, Lern- und Leistungsstörungen etc.). Sie bietet den Familien umfangreiche therapeutische Angebote. Neben 40 stationären Betten und zehn teilstationären Plätzen liegt der Schwerpunkt auf der ambulanten Behandlung; hier werden pro Jahr rund 3000 Patienten versorgt.

Abb.1: Schematischer Datenflussplan

Patientenverwaltung und Abrechnung des stationären Bereichs werden zentral gesteuert. Den ambulanten Bereich rechnen die Fachabteilungen in eigener Regie mit der Lösung Cymed ab, die sowohl Verwaltung als auch die medizinische Dokumentation abbildet. Quelle: Bastian

Abb.2: Schematisches Prozessdatenmodell

In der wartungsfreien Datenbank sind neben den Stammdaten der Patienten auch die Beweg- und Systemdaten ohne Redundanzen gespeichert. Damit können Prozesse dargestellt und den jeweiligen Anforderungen angepasst werden. Quelle: Bastian