IT im Anlagenbau/Anforderungen des Anlagenbaus an Standardsoftwarelösungen

Ablösebedarf: Integration darf Abläufe nicht komplizierter machen

20.02.1998

Engineering, Konstruktion, die Beschaffung und Montage komplexer Industrieanlagen sind ohne intensive DV-Unterstützung gar nicht mehr denkbar. Sie werden mit 2D- und 3D-CAD-Systemen vom ersten Entwurf bis zu den Detailzeichnungen komplett durchkonstruiert. Mit Hilfe intelligenter CAE-Systeme werden die einzelnen Anlagenkomponenten teilautomatisch ausgelegt und spezifiziert.

Welche gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen muß eine integrierte Standardsoftwarelösung für den Großanlagenbau erfüllen? Zunächst einmal sind die strategischen Trends dieses Marktsegments zu betrachten.

Ein Trend bezieht sich auf das Neubaugeschäft. Häufig können Aufträge hier allein dann gewonnen werden, wenn ein großer Teil der Lieferungen aus dem Käuferland selbst stammt; das bedeutet, daß der Anteil des Local Content steigen wird. Dieses stellt gänzlich neue Anforderungen an die Beschaffung von Ausrüstungen: Lieferanten müssen weltweit gesucht, qualifiziert beurteilt und überwacht werden. Der Trend zum Global Sourcing kommt aber auch aus anderen Bereichen.

Vielfach übernimmt der Lieferant nicht nur die Bereitstellung und Fertigung des Equipments, er wird auch mehr und mehr in das Detail-Engineering einbezogen beziehungsweise muß es selbst übernehmen. Dadurch verändert sich die Beschaffung vom Einkauf einzelner Ausrüstungsteile bis hin zur sogenannten Systembeschaffung.

Mit großer Regelmäßigkeit setzen Anlagenbauer heute fremde Engineering-Büros für Detailaufgaben ein, sei es im In- oder im Ausland. Das hat zur Folge, daß Anlagenbauer und Konstruktionsbüro gemeinsam auf CAD-Zeichnungen, CAE-Daten und Expertensysteme sowie Ausrüstungsdaten zugreifen müssen. Zusammengefaßt ließe sich dieser Trend als Global and simultaneous Engineering and Procurement bezeichnen.

Ein weiterer Trend resultiert aus der zunehmenden Modularisierung und Standardisierung der Anlagenkonzepte, also einer stärkeren Produktorientierung der Anlagenbauunternehmen. Um den Preis einer Anlage wettbewerbsfähig zu halten, werden entweder ganze Teilanlagen, Teilsysteme oder auch Komponenten weitgehend standardisiert und parametrisiert.

Dadurch läßt sich das wiederholte Detaildesign einzelner Anlagenteile weitgehend vermeiden beziehungsweise der Engineering-Aufwand deutlich reduzieren.

Modularisierte und standardisierte Anlagenkonzepte führen zudem zu deutlichen Einsparungen bei der Beschaffung und kommen auch dem Kunden, also dem Betreiber der Anlage, in der Betriebsphase durch deutlich gesenkte Instandhaltungskosten zugute.

Simultane Vernetzung sehr verbreitet

Ein dritter wesentlicher Trend bezieht sich auf die Betreiberkonzepte. Hier übernimmt der Anlagenbauer den Service, aber auch den Betrieb der Anlage. Nach dem Motto "Build own operate" übernimmt er die Verantwortung für den kompletten Lebenszyklus einer Anlage. Wenn der Kunde Betrieb und Wartung selbst übernimmt, fordert er häufig die Übergabe der Dokumentation in elektronischer Form. Doch möchte er häufig bereits in der Planungs- und Bauphase auf seine Hauptplanungsunterlagen zugreifen können. Häufig stellt er auch selbst einen Teil der Anlage bereit oder übernimmt bestimmte Leistungen. Ein zusätzlicher Service kann darin bestehen, die Daten für die Instandhaltung einer Anlage komplett mitzuliefern. Die simultane Vernetzung zwischen Kunden, Betreiber, Servicefirmen, Lieferanten, Engineering-Büros etc. ist schon heute sehr intensiv und wird noch weiter zunehmen.

Aus diesem Trend leiten sich klare Anforderungen an eine künftige DV-Unterstützung ab. Zum einen sind die Daten entlang des Kerngeschäftsprozesses im Anlagenbau viel stärker zu integrieren. Über Engineering, Beschaffung, Versand, Montage bis hin zu Betrieb und Wartung einer Anlage müssen im wesentlichen die gleichen Datenstrukturen verwendet werden.

Zweitens ist verteiltes Arbeiten in mehreren rechtlich selbständigen Einheiten und an mehreren Standorten weltweit zu unterstützen. Dabei ist zu beachten, daß die Integration nicht zu einer Verkomplizierung des Gesamtprozesses führen darf. Die einzelnen Komponenten einer integrierten DV-Lösung sollten lose gekoppelt miteinander arbeiten können.

Das folgende Anforderungskonzept basiert auf einem Referenzprozeß für den Großanlagenbau.

Die Anlage wird in der Engineering-Phase sukzessive in einer baumartigen Struktur dargestellt und aufgebaut. In der Anlagenstruktur wird die Anlage mit ihren Teilanlagen, Baugruppen, Komponenten und einzeln zu beschaffenden Ausrüstungsgegenständen komplett beschrieben. Die Anlagenstruktur ist neben dem CAD-System sowie den speziellen CAE-Systemen das Hauptarbeitsinstrument des planenden Ingenieurs. Sie muß es zudem ermöglichen, technische Daten einzelner Komponenten abzubilden und zu klassifizieren. Wichtig ist ferner die Verwendung mehrerer Kennzeichnungssysteme, so daß sich auch die Kundenkennzeichnung abbilden läßt.

Vor allem im Großanlagenbau ist die Bearbeitung der Anlagenstruktur auf die spezifischen Anforderungen der einzelnen Gewerke beziehungsweise Disziplinen auszurichten. So müssen für Maschinen- und Apparatebau, Rohrleitungstechnik, MSR- und Elektrotechnik sowie gegebenenfalls Bautechnik spezifische Datenstrukturen angelegt werden können. Wichtig sind Schnittstellen zu CAD-Systemen, so daß sich aus "Process and Instrumentation Diagrams" die kompletten Anlagenstrukturdaten übernehmen lassen.

Eine Einbindung von CAE-Systemen ist wichtig, um die einzelnen in der Anlagenstruktur abgebildeten Komponenten automatisch auslegen zu können. Als Abschluß der Engineering-Phase ist die Beschaffungsvorbereitung gezielt zu unterstützen. Rohrleitungen oder Stahl und in großen Mengen verwendete Komponenten wie Pumpen oder Motoren, müssen durch das System automatisch abgesammelt und zu Beschaffungsgruppen gebündelt werden können.

Bei der Beschaffung müssen Lieferantenauswahl, Anfragebearbeitung sowie auch der Angebotsvergleich in effizienter Weise unterstützt werden. Dabei ist Flexibilität gefragt, um einerseits mit strategischen Systemlieferanten zusammenarbeiten und zum anderen auch gezielt aus einer Vielzahl, insbesondere kleinerer Lieferanten die günstigsten auswählen zu können. Eine historisch aufgebaute Lieferantendatenbank kann insbesondere in der Angebotserstellung die Durchlauf- und Bearbeitungszeit stark verkürzen und die Beschaffungspreisrisiken reduzieren.

Besondere Anforderungen ergeben sich auch durch die teilweise komplexe Versandabwicklung sowie - durch eine lückenlose und aktuelle Terminüberwachung der Beschaffungsaufträge - die Beschaffungsabwicklung. Jede Verzögerung einer Materiallieferung auf der Baustelle kann den Montagefortschritt behindern und damit zu deutlichen Mehrkosten führen. Durch eine Verknüpfung sämtlicher Vorgänge in der Kerngeschäftsprozeßkette Anlagenbau mit einem Terminplanungs- und Überwachungssystem lassen sich Verzögerungen frühzeitig feststellen und vermeiden.

Lieferung, Materialeingang und Materialdisposition auf der Baustelle sind für einen zügigen Montagefortschritt lebensnotwendig. Dazu ist es erforderlich, daß sich die Bauleitung vor Ort permanent über den Stand der Lieferungen und die Materialbestände informieren kann. Die zügige Materialentnahme und der Verbrauch der Materialien auf der Baustelle sollten durch eine Codierung der Ausrüstungsteile mit den entsprechenden Anlagenpositionsnummern aus den Ausrüstungslisten und Engineering-Zeichnungen ermöglicht werden.

Eine elektronische Unterstützung entlang der Kerngeschäftsprozeßkette Anlagenbau ist vor allem für das Change-Management erforderlich. Beim Bau von Großanlagen kommt es regelmäßig zu Änderungen des Auftragsumfangs der Auslegung einzelner Anlagenkomponenten sowie zu Änderungen auf der Baustelle. Änderungen des Lieferumfangs müssen deshalb lückenlos nachgeführt werden können, damit es nicht zu Mehrkosten kommt.

Ersterfassung der Anlage entfällt

Nach Inbetrieb- und Abnahme durch den Kunden sind umfangreiche Dokumentationen zu erstellen und dem Kunden beziehungsweise dem Betreiber zu übergeben. Es ist daher nur konsequent, dem Anlagenbetreiber im Prinzip die komplette Datenbank mit Anlagenstruktur, Ausrüstungsstandards und CAD-Zeichnungen auszuhändigen. Damit entfällt für den Betreiber die aufwendige Ersterfassung der Anlage für das Instandhaltungssystem.

Der Anlagenbau ist also durch eine Vielzahl verschiedener Abwicklungsformen gekennzeichnet, die eine sehr flexible Systemunterstützung verlangen. So muß es möglich sein, Projekte mit Konsortialpartner oder Unterlieferanten, Bestellungen durch den Kunden oder die Beschaffung von Material im Namen und auf Rechnung des Kunden durchzuführen. Ebenso sind zahlreiche Spielarten der Zusammenarbeit mit Lieferanten und Engineering-Firmen zu unterstützen. Integrierte Standardsoftwarepakete bilden die geeignete Basis für eine Unterstützung des Großanlagenbaus.

Angeklickt

Eine besondere Bedeutung im Großanlagenbau hat die Beschaffung von Anlagenkomponenten und Baugruppen. Beschaffung, Versand und Materialdisposition ergeben einen äußerst komplexen Prozeß. Für eine Großanlage müssen häufig um die 10000 einzelne Ausrüstungsteile über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg bestellt, inspiziert, versandt, geliefert und materialwirtschaftlich auf der Baustelle verwaltet werden. Die Beherrschung dieses komplexen Anlagenbauprozesses ist eine wesentliche Voraussetzung für die effiziente Projektabwicklung und damit ein entscheidender Wettbewerbsfaktor.

*Dr. Matthias von Bechtolsheim ist Berater bei Arthur D. Little International Inc. in Wiesbaden.