Das Hamburger Projekt Sozialhilfe-Automation (Prosa)

Abläufe in der Verwaltung sollen jetzt gestrafft werden

03.11.1989

Die Verwaltung der Freien und Hansestadt Hamburg betreibt zur Zeit ein umfassendes Projekt zur Reorganisation der Arbeitsabläufe in der Sozialhilfeverwaltung, zu dem auch die Entwicklung eines modernen Dialogverfahrens zur Unterstützung der Sozialhilfesachbearbeitung gehört. Matthias Kammer und Willi Kickert* umreißen das vorgesehene Lösungskonzept.

Die Entwicklung von Dialog verfahren zur Unterstützung der Sozialhilfe-Sachbearbeitung scheint zur Zeit Konjunktur in der öffentlichen Verwaltung zu haben. Dies ist auch nicht verwunderlich denn hier liegt sicherlich einer der Verwaltungsbereiche, in denen der Problemdruck und damit die Notwendigkeit, herkömmliche Arbeitsabläufe unter Ausnutzung moderner technischer Möglichkeiten zu reorganisieren, am größten ist.

Aus diesem Grund hat der Hamburger Senat im März 1988 beschlossen, eine Projektorganisation zur umfassenden Reorganisation der Arbeitsabläüfe in den Sozialdienststellen einzusetzen. Betroffen davon sind mehr als 1300 Beschäftigte in insgesamt über 30 Dienststellen der Bezirksverwaltung und der Fachbehörde.

Aufgabe des Projekts ist es, die Sozialhilfeverwaltung künftig so zu reorganisieren, daß die Zielsetzung des Bundessozialhilfegesetzes effektiver und effizienter realisiert wird. Dies umfaßt neben Veränderungen der Aufbau- und Ablauforganisation, der Entwicklung und Umsetzung eines Konzepts zur besseren Qualifikation der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter auch die Entwicklung und praktische Einführung eines modernen Dialogverfahrens zur Unterstützung der Sachbearbeitung.

Die Hamburger Verwaltung hat sich nach Auswertung von in anderen Gemeinden laufenden oder geplanten Dialogverfahren entschieden, eine eigene Anwendung zu entwickeln. Maßgebend hierfür war die Einschätzung, daß der erforderliche Anpassungsaufwand nicht hinter dem einzusparenden Entwicklungsaufwand zurückbleibt. Obwohl es um die Erfüllung der gleichen gesetzlichen Aufgaben geht, weichen sowohl die Arbeitsabläufe als auch die fachlichen Vorgaben (Ermessensrichtlinien) in den verschiedenen Gemeinden relativ stark voneinander ab. Die Anforderungen, die es zu realisieren gilt, sind mithin bislang kaum standardisiert und dementsprechend gab es auch kein den Anforderungen der Stadt entsprechendes und erprobtes Produkt am Markt.

Hinzu kam, daß der Senat zur Sicherung der Akzeptanz des Vorhabens großen Wert darauf legte, die Projektarbeit als transparenten Gestaltungsprozeß zu organisieren, an dem die künftigen Benutzer sich einflußnehmend beteiligen können. Eine solche Beteiligung wäre nur in sehr eingeschränktem Maße möglich gewesen, wenn ein Fremdprodukt übernommen werden und nur noch anzupassen gewesen wäre.

Zielrahmen des Projekts

Der vom Senat vorgegebene Zielrahmen, der vom Projekt weiter konkretisiert wurde, sieht zur Modernisierung der Sozialhilfeverwaltung generell vor,

- die Dienstleistung für die Bürger zu verbessern,

- die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu verbessern und ihre Produktivität zu erhöhen,

- das für die Erledigung heute anfallender Arbeit in den Sozialdienststellen gebundene und stetig ansteigende Personalkostenvolumen zu verringern und

- mehr Transparenz über die Faktoren, die für die Ausgabenentwicklung in der Sozialhilfe bestimmend sind, zu schaffen.

Herkömmliche Akte wird weniger wichtig

Das zu entwickelnde Dialogverfahren soll die Sozialhilfe-Sachbearbeitung umfassend unterstützen: Alle BSHG- und sonstigen von den Sozialdienststellen zu erbringenden Leistungen sind in die technikgestützte Sozialhilfeabwicklung nach einem einheitlich gestalteten Technickonzept zu integrieren. Die herkömmliche Akte wird künftig nur noch eine untergeordnete Bedeutung haben.

Das Verfahren soll in mehreren Ausbaustufen entwickelt werden. Die erste Ausbaustufe wird nach dem derzeitigen Planungsstand folgende Aufgaben umfassen:

- Berechnung, Bescheiderteilung und Zahlbarmachung von Hilfen außerhalb von Einrichtungen und zwar: laufende Hilfen zum Lebensunterhalt, Hilfe

zur Pflege, Hilfe zur Weiterführung des Haushalts, Altenhilfe, Blindengeld, einmalige Hilfen, soweit es sich um Bekleidungsbeihilfen, Heizungsbeihilfen und Weihnachtsbeihilfen handelt;

-Zahlbarmachung sonstige einmaliger Hilfen, außerhalb von Einrichtungen:

- Bearbeitung von Anträgen auf Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, Ermäßigung von Fernsprechgebühren;

- Unterstützung bei der Heranziehung Unterhaltspflichtiger, Geltendmachung von Erstattungsansprüchen, Berechnung einmaliger Hilfen im Rahmen der Eingliederungshilfe.

Parallel zur praktischen Einführung der ersten Ausbaustufe in den Sozialdienststellen wird das Verfahren um folgende Aufgaben erweitert werden

- Berechnung und Bescheiderteilung bei einmaligen Hilfen, soweit sie nicht in der ersten Ausbaustufe enthalten sind, bei Hilfen in Einrichtungen, bei der Heranziehung Unterhaltspflichtiger,

- Berechnung, Bescheiderteilung und Zahlbarmachung bei Leistungen aus den Garantiefonds,

- Verwaltung von Forderungen,

- Verwaltung orthopädischer Hilfsmittel,

- statistische Auswertungen,

- zentrale Abrechnung von Sozialhilfeleistungen mit nicht staatlichen Heimen, Anstalten und sonstigen Einrichtungen sowie mit Kassenärztlichen Vereinigungen und ähnlichen Institutionen.

- Bereitstellung fachlicher Hilfen (schnell auffindbare Informationen über den Inhalt von Gesetzen, Verordnungen, Fachlichen Weisungen etc. ).

Auch durch die vorgesehene umfassende Technikunterstützung wird nicht die Gefahr entstehen, daß Sozialhilfesachbearbeiter zu Datenerfassern herabqualifiziert werden und bisherige hochwertige Tätigkeiten durch den Technikeinsatz zu monotonen Arbeitsabläufen degenerieren Eine solche Beurteilung verkennt, daß die Technik an der eigentlichen Tätigkeit der Sachbearbeiter, nämlich der Aufnahme und Beurteilung von Lebenssachverhalten, der Beratung von Hilfeempfängern sowie der Entscheidung über eine Leistung, nichts ändert, sondern vorrangig die Umsetzung dieser Entscheidung unterstützen kann und soll.

Gefahr einer Schematisierung

Zu begegnen ist der Gefahr einer Schematisierung von Ermessensentscheidungen. Dieser Gefahr entgeht man jedoch nicht durch eine Beschränkung von technischen Unterstützungsmöglichkeiten - auch ohne Unterstützung wird es schematisch entscheidende Sachbearbeiter geben -, sondern nur durch eine entsprechende Ausbildung der Beschäftigten sowie eine Gestaltung des Verfahrens, die Ermessensspielräume deutlich macht und den Anwender bei der Ausübung seines Ermessens und der Abarbeitung seiner Entscheidung unterstützt.

Die arbeitsteilige Fallbearbeitung in den Sozialdienststellen soll zugunsten ganzheitlich gestalteter Arbeitsabläufe über wunden werden: Alle unmittelbar auf einen Fall bezogenen Tätigkeiten von der Beratung des Hilfesuchenden über Daten aufnahme, Entscheidung über die Leistung bis zur Zahlbarmachung sollen jeweils so weit wie möglich bei der zuständigen Sachbearbeiterin bzw. dem zuständigen Sachbearbeiter konzentriert werden. Die Zergliederung der Arbeitsabläufe entfällt.

Zu beachtende Regeln in Programme aufnehmen

Auch alle Zahlungen auslösenden Funktionen sollen in die Tätigkeit der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter integriert werden. Besondere Anordnungsbefugnisse sollen entfallen, formale Richtigkeit und Vollständigkeit von Zahlungsanweisungen werden dadurch sichergestellt, daß alle zu beachtenden Regeln in Programme aufgenommen werden.

Mit der Schaffung ganzheitlicher Arbeitsabläufe ist verbunden, daß die Funktionen der Beschäftigten entfallen, die heute den Sachbearbeitern zuarbeiten. Eine Reihe von bislang manuell zu erledigenden Arbeitsschritten, die von diesem Personenkreis auszuführen waren, wird es nicht mehr gehen. Dies gilt insbesondere für alle Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit der Datenerfassung und -bearbeitung für das laufende Stapelverfahren stehen, für das manuelle Ermitteln und Zusammenstellen von Daten für statistische Unterlagen sowie das manuelle Ausfertigen von Krankenscheinen, Gutscheinen und Kassenanweisungen. Für den Zuarbeitungsbereich sind zur Zeit über 200 Stellen der Vergütungsgruppen VIII/VII BAT bzw. BesGr. A 5/A 6 gebunden. Die betroffenen Beschäftigten sollen eine neue Aufgabe in der hamburgischen Verwaltung übernehmen.

Vom Hamburgischen Rechnungshof wurde häufig eine relativ hohe Fehlerquote bei der Bearbeitung von Sozialhilfefällen moniert. Als Gründe dafür wurden genannt:

- unzureichende Kenntnisse über gegebene Leistungsmöglichkeiten,

- fehlerhafte Anwendung geltender Regelungen und

- unvollständige und/oder langwierige Bearbeitungen von Erstattungs- und Rückzahlungsansprüchen.

Um diese Fehlerquellen zu reduzieren, wird von PROSA die Möglichkeit geschaffen, den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern von jedem Punkt der Sachbearbeitung aus präzise und verständliche Hilfetexte und alle für die umfassende Fallbearbeitung relevanten Informationen online zur Verfügung zu stellen (zum Beispiel Textabschnitte aus zugrundeliegenden Ermessensrichtlinien, Gerichtsurteile, Adressen anderer Hilfe Institutionen).

Definierte Abläufe aus Berechnungsmodalitäten

Durch Gesetz oder fachliche Weisungen eindeutig definierte Berechnungsmodalitäten werden in definierte Abläufe umgesetzt; Dateneingabe und maschinelle Fallbearbeitung werden mit vorgangsbegleitenden Plausibilitätskontrollen ausgestattet. Die technische Unterstützung umfaßt schließlich die häufig als unvollständig beanstandete Geltendmachung von Erstattungsansprüchen gegen Dritte und Ansprüchen auf Rückzahlung von Darlehen.

Die inhaltliche Kontrolle soll darüber hinaus durch ein in das Sozialhilfeverfahren integriertes Stichprobenverfahren zur Auswahl von zur prüfenden Fällen verbessert werden.

Bildschirmoberfläche und Dialogsteuerung werden nach modernen Anforderungen der Softwareergonomie gestaltet. Die Dialogführung paßt sich flexibel den unterschiedlichen Arbeitsabläufen der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter an.

Das Verfahren muß sowohl den Bedürfnissen DV-unerfahrener als auch DV-erfahrener Beschäftigter entsprechen. Es soll die Sachbearbeitung sinnvoll unterstützen, aber nicht gängeln.

Die Bedienung des Systems muß innerhalb von zwei Tagen erlernbar sein. Bedienungsfehler dürfen nicht zu einem Funktionsausfall des Systems und oder zu irreversiblen Prozeduren führen.

Die Benutzeroberfläche muß verständlich, übersichtlich und für alle Arbeitsplätze einheitlich gestaltet sein.

Verbesserung der Beratung

Zur Verbesserung der Dienstleistungen für die hilfesuchenden Bürger wird einerseits angestrebt, Zeitreserven für eine ausführliche Beratung im Sinne der Zielsetzungen des Bundessozialhilfegesetzes und ihm verwandter Leistungsgrundlagen zu schaffen.

Andererseits kann durch die technische Unterstützung der für die Auszahlung von Geldleistungen erforderliche Ablauf wesentlich verkürzt werden: Künftig soll der Zeitraum einer unbaren Auszahlung, der heute bis zu sechs Wochen dauern kann, auf fünf Tage verkürzt werden.

Die Anwendungsentwicklung wird mit NATURAL 2 auf einer zentralen Datenbank (ADABAS 5) realisiert.

Der Einsatz von NATURAL als Programmierwerkzeug der vierten Generation ermöglicht eine Gestaltung von Dialogen und Bildschirmoberflächen, die modernen software-ergonomischen Anforderungen gerecht wird. Vorgesehen ist die Benutzung von Window-Technik und Kommandoprozessoren.

Bürofunktionalität (wie Terminkalender, Wiedervorlage, Textverarbeitung, Speicherung unformatierter Daten) wird durch Nutzung von Modulen des Bürosystems CONNECT, ebenfalls einer in NATURAL 2 geschriebenen Applikation, integriert.

Mit dem Datenbankverwaltungssystem ADABAS arbeitet die Hamburger Verwaltung seit Jahren erfolgreich. Das neue Verfahren für die Sozialhilfe wird zentral durch die Datenverarbeitungszentrale der Hamburger Verwaltung zur Verfügung gestellt werden.

Die folgenden Verfahren werden nach der derzeitigen Planung über Schnittstellen im Wege des Datenträgeraustausches bedient werden können:

- Abwicklung des Kassen- und Rechnungswesens durch die Landeshauptkasse,

- Verfahren bei der Geltendmachung von Wohngeldansprüchen für Sozialhilfeempfänger

- Aufbereitung der Daten für die Bundessozialhilfestatistik durch das Statistische Landesamt,

- Rentenauskunftsverfahren der Deutschen Bundespost,

- Erstattungsansprüche gegenüber dem Arbeitsamt und der Kindergeldstelle,

- Meldeamtsanfragen,

- Ansprüche auf Rundfunkgebührenbefreiung gegenüber der Gebühreneinzugszentrale (C EZ).

Alle Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter werden mit einem Bildschirmgerät ausgerüstet, und in jedem Sachbearbeiterbüro wird ein Arbeitsplatzdrucker aufgestellt. Die Endgeräte werden über Steuereinheiten mit dem Großrechner verbunden.

Arbeitsplätze, die eine Besondere Funktionalität, etwa zur Auswertung und Präsentation statistischer Daten, benötigen, werden mit einem Personal Computer ausgestattet. Zur Verbindung zwischen Host und PC wird NATURAL CONNECTION eingesetzt.

PROSA hat sich gegen eine allgemeine Ausstattung von Sachbearbeiterplätzen mit Personal Computern entschieden, weil für die Nutzung spezieller PC-Funktionalität bei der vorgesehenen Konzeption kein Bedarf besteht, wesentliche Funktionen auf jeden Fall zentral abzuarbeiten sind, das Risiko für den laufenden Betrieb bei einem Verfahren dieser Größenordnung zu hoch und die gebotene Softwareergonomie und Performance mit den hier eingesetzten Werkzeugen auch auf dem Host erreichbar ist.

Stand der Entwicklung

Die Hamburger Verwaltung setzt für die Entwicklung des IuK-Vorhabens PROSA ein Werkzeug der CASE-Technologie ein, um für den sensiblen Bereich der Sozialhilfe eine hohe Qualität der Anwendung sicherzustellen sowie durch eine durchgängige Dokumentation spätere Modifikationen zu erleichtern und den Wartungsaufwand zu vermindern.

Gearbeitet wird mit dem vom EDV-Studio Ploenzke und der Software AG entwickelten PREDICT CASE, da sich dieses Produkt nahtlos in die vorhandene Werkzeugumgebung integrieren läßt.

Die bisherigen Erfahrungen haben die Entscheidung für den Einsatz eines CASE-Tools bestätigt. Die Komplexität der zu entwickelnden Anwendung wäre ohne eine solche Werkzeugunterstützung nur schwierig abzubilden gewesen: Das Datenmodell als Ergebnis der Anforderungsanalyse weist rund 80 Informationsobjekte auf, die in über 130 Beziehungen miteinander verknüpft sind; weiterhin sind 80 externe Partner und 45 Funktionen ermittelt worden, zwischen denen über 80 Datengruppen fließen.

Der Einsatz des CASE-Tools hat ferner dazu geführt, daß die in der Projektgruppe integrierten Sozialhilfe-Sachbearbeiter und DV-Fachleute sich wesentlich schneller und umfassender über den Inhalt der Aufgaben verständigen und die Ergebnisse besser kontrollieren konnten.

Das Projekt befindet sich gegenwärtig noch in der Phase der detaillierten logischen Beschreibung der Aufgaben und ist da bei, bis Ende 1989 einen ersten Prototypen zu erstellen.

Nach derzeitigem Planungsstand soll Ende 1990 mit de ersten Version des neuen Verfahrens in der ersten Dienststelle der Routinebetrieb aufgenommen werden.

Matthias Kammer ist Leiter des Projekts Prosa, Regierungsdirektor Willi Rickert ist sein Stellvertreter.