Wikinomics-Autor Don Tapscott: "Geistiges Eigentum teilen ist eigentlich dumm"

24.09.2007
Warum es "uneigentlich" trotzdem eine Erfolgsstrategie ist, erläutert Don Tapscott, Mitverfasser des Buchs "Wikinomics" im Gespräch mit CW-Redakteurin Karin Quack.

CW: In Ihrem Buch "Wikinomics" entwickeln Sie interessante Ideen. Das bestätigten auch die CIOs, mit denen ich darüber gesprochen habe. Doch alle sagten sinngemäß: Unser Vorstand wird unternehmenskritische Prozesse keinesfalls irgendwelchen unkontrollierbaren Communities anvertrauen. Was entgegnen Sie darauf?

Brauchbares Know-how schlummert häufig außerhalb der Unternehmensgrenzen, sagt Don Tapscott.
Brauchbares Know-how schlummert häufig außerhalb der Unternehmensgrenzen, sagt Don Tapscott.
Foto: Don Tapscott

Tapscott: Bringen Sie mich da rein, ich gebe diesen Vorständen ein Executive Briefing (lacht). Nein, im Ernst: Diese Leute brauchen ein Aha-Erlebnis, beispielsweise einen Besuch bei Procter & Gamble. Dann werden sie einsehen, dass uns eine Art natürlicher Auswahl bevorsteht: Unternehmen, die die Prinzipien von Wikinomics befolgen, werden Erfolg haben, die anderen fallen zurück.

CW: Goldcorp, Procter & Gamble ? die kommerziellen Unternehmungen, die Sie in Ihrem Buch als Beispiele anführen, standen mit dem Rücken zur Wand. Ihre Informationskultur zu ändern war ihre letzte Option. Da fällt die Entscheidung relativ leicht.

Tapscott: Ja, sicher. Aber es ist besser, nicht zu warten, bis das Dach brennt, sondern proaktiv zu handeln. Ich will das wirklich nicht klein reden. Diese Ideen bürsten alles gegen den Strich, was wir kennen. Sie sind keineswegs intuitiv. Auf den ersten Blick scheint es die dümmste Sache der Welt zu sein, geistiges Eigentum mit Anderen zu teilen. Aber das Human-Genome-Projekt oder IBMs Linux-Strategie dienten jeweils dem Interesse der Unternehmung.

Die Grundidee der "Wikinomics"

In ihrem Buch "Wikinomics: How Mass Collaboration Changes Everything" (Penguin Group, 2006) beschreiben Don Tapscott, Gründer und CEO des in Ontario, Kanada, beheimateten Trendforschungs- und Beratungsunternehmens New Paradigm, sowie sein Kollege Anthony Williams, wie Web-2.0-Werkzeuge ein völlig neues ökonomisches Umfeld schaffen können: Sie ermöglichen es beispielsweise, Know-how-Pools außerhalb des eigenen Unternehmens anzuzapfen, weltweit verteilt an Entwicklungs- und Fertigungsaufgaben zu arbeiten, die Konsumenten direkt in die Produktgestaltung einzubinden und nicht zuletzt die internen Mitarbeiter besser miteinander zu vernetzen. Wer auf diese Weise von interaktiven Web-Anwendungen wie Blogs, Wikis oder Social Software profitieren will, muss sich nach Auffassung der Autoren allerdings vier Prinzipien aneignen: Öffnung nach außen ("open"), Umgang mit externen Partnern auf Augenhöhe ("peer"), Teilen von Informationen und Ergebnissen ("share") sowie globales Handeln ("act globally"). Wie Tapscott und Williams einräumen, ist dazu in den meisten Fällen eine grundlegende Änderung der Unternehmenskultur notwendig. Um diesen neuen Ansatz zu verdeutlichen, haben Tapscott und Williams das letzte Kapitel ihres Buchs als Blog ins Internet gestellt ? mit der deutlichen Aufforderung: "Edit this book".

CW: Intelligente Unternehmen managen, so haben Sie geschrieben, ein Portfolio des geistigen Eigentums: Sie unterscheiden zwischen dem, was sie behalten, und dem was sie herausgeben. Auf welcher Basis treffen sie die Unterscheidung?

Tapscott: Das hängt davon ab, wie sie ihre Innovationsfähigkeit orchestrieren. Sie müssen wissen: Wenn sie auf einen öffentlichen Know-how-Pool zugreifen, können sie die Ergebnisse nicht besitzen. Die Intellectual-Property-Strategie ist also Teil der Innovationsstrategie. Die Unternehmen sollten sich überlegen, auf welcher Ebene sie mit anderen konkurrieren wollen, denn teilweise müssen wir mit unseren Konkurrenten kooperieren. Wenn Procter & Gamble in einer Community wie InnoCentive öffentlich nach einem Molekül sucht, das bestimmte Substanzen bindet, dann gibt das Unternehmen geistiges Eigentum auf. Aber es zieht daraus einen Nutzen, der den Nachteil mehr als aufwiegt. Wenn Sie sich vor dem Wettbewerb verbarrikadieren wollen, schließen sie auch die Tore vor der Innovation.

CW: Aber diese Vorteile kann nur nutzen, wer deutlich schneller ist als die Konkurrenz.

Tapscott: Das ist ein guter Punkt. Es spielt keine Rolle, was unser Mitbewerber von uns weiß, so lange unser Innovationstempo hoch genug ist. Innovation ist nicht statisch. Sie ist wie eine Tretmühle: Man muss sich ständig bewegen, um schneller zu sein als die Konkurrenz. Procter & Gamble bezieht heute 50 Prozent seiner Innovationen von außerhalb des Unternehmens. Das Gegenbeispiel ist die Musikindustrie: Anstatt die Herausforderung durch das Internet anzunehmen und Musik als Service anzubieten, hat sie ihr altes Geschäftsmodell verteidigt und die eigenen Kunden gegen sich aufgebracht. Die Industrie, die uns die Beatles brachte, ist nun zu einem Hassobjekt geworden. Und sie wird ersetzt ? durch Myspace, iTunes etc.

CW: Aus Ihrer Sicht sind dann wohl auch die großen Softwareunternehmen zum Sterben verurteilt: Microsoft, SAP und sogar Apple.

Tapscott: Das hängt davon ab, ob sie in der Lage sein werden, ihr Business-Modell zu ändern. Microsoft beispielsweise muss von einer Software- zu einer Service-Company werden. Das ist übrigens nicht meine Ansicht, sondern die des Microsoft-CTOs Ray Ozzy. Microsoft muss Software als einen Service anbieten, teilweise sogar kostenlos, beispielsweise durch Werbung finanziert. Und Apple vergibt sich durch seine Politik viele Möglichkeiten. Sie müssen sich öffnen, beispielsweise die Schnittstellen des iPhone freigeben, damit andere Leute dessen Funktionalität erweitern können. Das ist die große Tragödie von Apple. Ich bin Mac-Anwender seit 1984. Und ich bin frustriert, dass sie keinen größeren Marktanteil haben.

CW: Aber Apple ist doch eine richtige Erfolgsgeschichte.

Tapscott: Ich finde, es könnte ihnen wesentlich besser gehen.

CW: Vielleicht wollen sie es nicht anders.

Tapscott: Da könnten Sie Recht haben.

CW: Kommen wir zur Unternehmens-IT! Das Marktforschungsunternehmen IDC hat herausgefunden, dass nur ein Drittel der Web-2.0-Aktivitäten durch die CIO-Bereiche kontrolliert wird. Wie beurteilen Sie das?

Tapscott: Ich verstehe den Punkt nicht. Die CIOs sollten hier überhaupt keine Kontrolle ausüben. Manche Aktivitäten wollen einfach zugelassen werden, und dazu gehört Collaboration. Vielleicht ist es ja nicht ganz so simpel. Vielleicht braucht man ja gemeinsame Standards für Wikis, beispielsweise derart, dass jeder Socialtext nutzen sollte. Oder man baut wie Procter & Gamble sein eigenes Social Network, wobei ich mich frage, warum man nicht einfach Facebook nutzt.

CW: Da liegt aber das Problem. Die Sache sollte nicht ganz aus dem Ruder laufen. Aber wie können die Unternehmen etwas kontrollieren, das sich ihrem Besitz entzieht?

Tapscott: Sie können keine volle Kontrolle ausüben, aber doch ein Umfeld herstellen, das Gutes hervorbringt. Sun Microsystems beispielsweise hat vor zwei Jahren alle seine Mitarbeiter zum Bloggen aufgefordert. Sie veröffentlichen seither Informationen, die von keiner Rechtsabteilung freigegeben wurden ? und es hat nie ein Problem gegeben. Wenn Sie im Unternehmen eine intakte und vertrauensvolle Umgebung schaffen, dann dürfen Sie auch davon ausgehen, dass Ihre Mitarbeiter das Richtig tun.

CW: Was ist dazu notwendig?

Tapscott: Instrumente, mit denen sich die Transparenz fördern lässt. Sorgen Sie beispielsweise dafür, dass die Leute mit ihrem richtigen Namen am Informationsaustausch teilnehmen, also nicht anonym bleiben können.

CW: Die Web-2.0-Techniken werden oft von den Anwendern ins Unternehmen getragen. Daraus entsteht Reibung ? zwischen dem, was die Anwender wollen, und dem, was die IT-Governance vorschreibt. Wie lässt sich diese Lücke schließen?

Tapscott: Diese Lücke hat immer existiert. Der Konflikt zwischen der IT und dem Rest des Business ist so Alt wie die Unternehmens-IT. Aber jetzt hat der CIO eine einmalige Chance: Er kann das Business lehren, auf welche Weise es tatsächlich besser werden könnte.

CW: Aber viele CIOs verstehen noch nicht, worum es dabei geht. Sie müssen sich Rat bei ihren Töchtern und Söhnen holen.

Tapscott: Genau, das ist das erste Mal in der Geschichte, dass Kinder dem Business sagen, wo es lang geht.

CW: Gesetzt den Fall, der Vorstand und der CIO haben es verstanden. Bis derartige Ideen in den Köpfen der Mitarbeiter ankommen, ist es noch ein langer Weg. Sicher nicht ganz zu Unrecht fürchten die Angestellten die Konkurrenz durch externe, rein nach dem Ergebnis entlohnte Know-how-Träger. Das schafft Widerstände im Unternehmen.

Tapscott: Procter & Gamble ermutigt seine Forscher, hinauszugehen und Innovationen im Netz oder wo auch immer zu finden. Man möchte meinen, dass sich die Mitarbeiter dadurch bedroht fühlen. Aber es gibt da diese Sache, die Procter & Gamble PFE nennt ? proudly found elsewehre ? quasi ein Gegenentwurf zum NIH-Syndrom (not invented here). Das Unternehmen hat ein Belohnungssystem aufgebaut, das es den Forschern erlaubt, von den Innovationen zu profitieren, auch wenn es nicht sie selbst waren, die darauf gekommen sind.

CW: Lässt sich eigentlich ein Business-Case für Investitionen in Wikinonics-Technik errechnen?

Tapscott: Solche Investitionen brauchen keine Business-Case. Vielmehr sollten die Unternehmen einen Business-Case für Geschäftsinitiativen erstellen ? einschließlich der Technik, der Mitarbeiter, der Räumlichkeiten etc. Wer Investitionen in Wikinomics rechtfertigen muss, kann das mit folgenden drei "Gesetzen" tun. Erstens mit dem Bob-Dylan-Gesetz: "You don't need a weatherman to know which way the wind is blowing". Zweitens mit dem Disreali-Gesetz: Der ehemalige britische Premierminister Benjamin Disraeli bemerkte einmal im Unterhaus, dass dessen ehrenwerte Mitglieder Statistiken nutzen würden wie Betrunkene die Straßenlaterne, also nur, um ihre Ansichten zu stützen, und nicht, um Tatsachen zu erhellen. Und drittens mit "Dons Gesetz": Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Business-Plan aufgeht, verhält sich proportional zu der Überzeugung des Topmanagements, dass die Sache auf jeden Fall eine gute Idee sei. (qua)