Computerwoche-Serie

SAP-Migration Teil 1: Ratgeber für SAP R/3-Umsteiger

07.11.2007
Von 
Vice President Software & SaaS Markets PAC Germany
Viele R/3-Anwender planen ein Update auf SAP ERP. Das ist ein guter Anlass, in der Applikationslandschaft aufzuräumen.

Geht es nach SAP, dann gehört R/3 schon lange zum alten Eisen. Zwar pflegt der Hersteller das Produkt noch, doch die Standardwartung ("Mainstream Maintenance") für das weit verbreitete R/3 4.6C lief im Dezember 2006 aus. Offiziell erhalten Anwender die Wartungsleistungen seitdem nur noch zu höheren Gebühren. Für die meisten SAP-Kunden ist R/3 aber nach wie vor das Kernprodukt der ERP-Landschaft. Gemäß den Zahlen des Marktforschungsunternehmens Raad Research aus Münster, das regelmäßig deutsche SAP-Nutzer befragt, entfallen auf die Releases 4.6C und 4.6D etwa 48 Prozent der Installationen. Rund 45 Prozent der Kundensysteme verwenden R/3 4.7. Den Anteil der ERP-Releases "ERP 6.0" und "ERP 5.0" beziffern die Analysten auf 21 beziehungsweise neun Prozent. Dass in Summe über 100 Prozent dabei herauskommen, liegt daran, dass die Befragten mehr als ein SAP-System nutzen.

Softwarelizenzen im Schrank

"Die Situation im deutschen ERP-Markt ist paradox", beschreibt PAC-Senior-Consultant Christian Glas die aktuelle Lage. Über 90 Prozent der SAP-Kunden hätten hierzulande bereits Lizenzen für SAP ERP gekauft. Kaum ein Anwenderunternehmen jedoch habe seine ERP-Landschaft bereits auf das neue SAP-System umgestellt. Das dürfte sich Glas zufolge in den kommenden Jahren allerdings ändern. Der Marktbeobachter geht davon aus, dass ab dem laufenden Jahr die Zahl der Migrationsprojekte stark ansteigen wird. Aus diesem Grund liefert die mit dieser Ausgabe beginnende Serie "SAP-Migration" Tipps für Umsteiger.

Viele SAP-Anwender nutzen mehrere Programmversionen. Da ein Großer Teil noch ein Altsystem (älter als R/3 4.7) als Haupt-Release fahren, rechnen Experten wie Nils Niehörster von RM Consult mit zahlreichen Migrationsprojekten in den nächsten beiden Jahren.
Viele SAP-Anwender nutzen mehrere Programmversionen. Da ein Großer Teil noch ein Altsystem (älter als R/3 4.7) als Haupt-Release fahren, rechnen Experten wie Nils Niehörster von RM Consult mit zahlreichen Migrationsprojekten in den nächsten beiden Jahren.

Wenn Firmen migrieren, dann vor allem auf das aktuelle Release ERP 6.0. RM Consult rechnet damit, dass R/3 4.7 als Migrationsziel für Nutzer älterer Releases künftig kaum noch eine Rolle spielt. Wer noch einen R/3-Lizenzvertrag hat, muss allerdings einen neuen Kontrakt mit SAP abschließen. Hier handelt es sich zwar um einen Neukauf, jedoch werden R/3-Investitionen angerechnet.

Release-Politik von SAP

Eine Reihe von Firmen nimmt nun Migrationsprojekte in Angriff, um die von der Client/Server-Ära geprägte R/3-Welt zu verlassen und in Richtung ERP und Netweaver aufzubrechen. Sie tun dies einerseits, um den höheren Wartungsgebühren zu entgehen – PAC geht unter Berufung auf eigene Studien davon aus, dass in 80 Prozent der Fälle die Wartungspolitik von SAP Grund für den Systemwechsel ist. Andererseits wollen Firmen modernere Software, da sie neue Funktionen liefert. In der PAC-Umfrage nannten 45 Prozent dies als Beweggrund, wobei Mehrfachnennungen möglich waren.

Gegenüber R/3 verfügt ERP 6.0 unter anderem über ein neues Hauptbuch (General Ledger) sowie über erweiterte Funktionen für das Personalwesen und die Geschäftsdatenanalyse. Das ERP-Hauptbuch fasst Merkmale zusammen, für die bisher mehrere R/3-Anwendungen erforderlich waren. Beispielsweise gestattet es eine parallele Rechnungslegung gemäß US-GAAP (United States Generally Accepted Accounting Principles) und IFRS (International Financial Reporting Standards).

Viele Firmen warten trotz der Features und des Wartungsdrucks noch ab und wollen erst später die Software wechseln. Sie verweigern sich nicht grundsätzlich dem Umstieg, vielmehr benötigen sie für solche Vorhaben triftige Gründe, eine langfristige Produktperspektive und ein gut bestücktes Budget. Ein Anlass bietet sich, wenn Unternehmen ohnehin ihre IT-Umgebung modernisieren wollen und darüber nachdenken, Prozesse künftig anders oder ganz neu zu gestalten. SAP verspricht Firmen, dass sie solche Maßnahmen mit ERP 6.0 leichter vornehmen können, als dies mit R/3 bisher möglich war.

Flexiblere Prozessanpassungen

Ein Beispiel dafür liefern Anwender aus der Energieversorgerbranche. Auch wenn nicht jeder Stromerzeuger sofort die neuen ERP-Funktionen benötigt, profitieren diese Gesellschaften unter Umständen trotzdem von einem Umstieg auf die neue Business-Software. Erfahrungen eines Stadtwerksbetriebs haben gezeigt, dass sich Unbundling-Projekte, also die juristische Trennung von Vertrieb und Netzwirtschaft, mit dem neuen SAP-System leichter realisieren lässt als mit R/3.

Ein weiterer Grund, warum Unternehmen jetzt umsteigen, liegt in der Release-Politik des Herstellers begründet. SAP hat nämlich versprochen, das Kernsystem bis etwa 2011 stabil zu halten. Seit diese Planungssicherheit besteht, gehen Firmen vermehrt Migrationsvorhaben an.

Funktionale Erweiterungen der ERP-Software gibt es auch in der Zwischenzeit, doch sollen Anwenderunternehmen diese "Enhancement Packages" je nach Bedarf einspielen können. Und anders als beim klassischen R/3-Release-Wechsel muss hierzu nicht das System heruntergefahren werden.

Neue Funktionen in ERP 6.0

"Das neue ERP-System liefert eine Reihe von Funktionen, die Anwender direkt verwenden können und dabei hilft, Prozesse schneller abzuwickeln", so Jos Anthonijsz, Leiter ERP beim IT-Dienstleistungs- und Beratungsunternehmen Gisa aus Chemnitz. Gisa hat bereits einige R/3-Systeme seiner Kunden auf ERP 6.0 migriert. Beispiele für bei Nutzern geschätzte Eigenschaften des Produkts seien die Methoden zum Ändern vieler Kontrakte in einen Schritt, die Massenfreigabe von Budget für Projekte sowie ein erweitertes "Easy Cost Planning" (schnelle Ermittlung der geplanten Projektkosten).

Reise-Management

Firmen könnten Reisen leichter planen und abrechnen, da sich externe Stadtpläne und Landkarten sowie Hotelreservierungen einbinden lassen. Dies setze jedoch voraus, dass der Anwender neben dem HR-System (ERP HCM) auf das "Netweaver Portal" nutzt.

Forderungsbezogene Klärungsfälle

Als vorteilhaft sehen viele Kunden Anthonijsz zufolge außerdem Mechanismen an, mit denen sich forderungsbezogener Klärungsfälle bearbeiten lassen (Dispute Management). Bei Unstimmigkeiten zwischen Lieferanten und Kunden hinsichtlich des zu zahlenden Betrags wird hier die logistische Prozesskette im Verlauf zwischen Rechnungsstellung und Zahlung ergänzt. Bei Klärungsfällen unterstützt die Software den Sachbearbeiter durch automatisierte Buchungen.

Belegaufteilung im Hauptbuch

Das erweiterte Hauptbuch vereint verschiedene Sichten in einer Datenbasis. Wichtigster Vorteil aber gleichzeitig größte Herausforderung ist die Implementierung der automatischen Belegaufteilung. Damit sind eine Echtzeit-Belegaufteilung und die Erstellung von Bilanzen auf Entitäten wie zum Beispiel "Segment" möglich. Für die Migration des neuen Hauptbuches sollte eine Projektlaufzeit von mindestens sechs bis zwölf Monaten eingeplant werden. Der Übergang ist jedoch optional, denn das bisherige Hauptbuch steht weiterhin zur Verfügung.

Allerdings lassen sich manche Unternehmen auch davon nicht dazu hinreißen, ihre R/3-Umgebung schon jetzt anzufassen. Für Björn Sänger von der Vereinigung der Kindertagesstätten aus Hamburg beispielsweise reichen die Funktionen des Personalwesenmoduls von R/3 völlig aus, einen Umstieg auf die neue Technik hat der IT-Experte erst für 2010 ins Auge gefasst. Andere Unternehmen sind derzeit auf anderen Baustellen beschäftigt. Der Teleshopping-Anbieter HSE24 zum Beispiel hat den Kopf für ein Upgrade des ERP-Systems R/3 4.5B erst wieder frei, wenn das SAP-CRM-System komplett eingeführt ist.

Was auf Firmen zukommt

Meist stellen Anwender bei einem Umstieg auf ERP zunächst genau die Funktionen um, die sie zuvor in R/3 implementiert hatten. Somit kommt dieses "technische Upgrade" einem Release-Wechsel gleich, da letztlich die Kernkomponente von ERP eine Weiterentwicklung von R/3 ist. Dieser Vorgang bereitet offenbar weniger Schwierigkeiten, wenn die Anwender gut vorbereitet sind. Manche Firmen berichten sogar, dafür weniger Zeit in Anspruch genommen zu haben, als ursprünglich geplant war.

Stress mit Unicode vermeiden

Viel Arbeit kann dagegen die Umstellung auf Unicode bereiten. Unicode in der SAP-Software gestattet es, alle Sprachen beziehungsweise Zeichen mit einer einzigen Codepage darzustellen. Bei den Standardfunktionen der SAP-Software geht das noch vergleichsweise einfach. Aufwendig wird es, wenn wie im Falle der Firma Weidmüller aus Detmold etwa 800 Abap-Module umzustellen sind. Hinzu kommen Schnittstellen zu anderen Systemen, die ebenfalls anzupassen und zu überprüfen sind. Doch an Unicode führt offenbar kein Weg vorbei: Ab 2007 sollen alle SAP-Applikationen nur noch in dieser Spracheinstellung installierbar sein. Der Aufwand für die Unicode-Anpassung und für die darauffolgenden Testläufe steigen mit dem Alter des R/3-Release.

SAP-Umgebungen entschlacken

Anwender nehmen eine Systemumstellung mitunter auch zum Anlass, ihre verzweigte ERP-Umgebung aufzuräumen. Nicht selten betreiben sie mehrere ERP-Systeme, und oft weisen diese Installationen unterschiedliche Release-Stände auf. Im Rahmen einer Migration überlegen die Verantwortlichen, ob sich ERP-Umgebungen nicht zusammenführen lassen – theoretisch eine gute Idee, praktisch ist das jedoch oft mit viel Arbeit verbunden, da die Stammdatenqualität eine solche Konsolidierung nicht eben begünstigt. Die Vorteile solcher Maßnahmen sprechen für sich: Das Abschalten von ERP-Systemen erleichtert nicht nur die Pflege von Geschäftsprozessen, sondern senkt auch die Betriebskosten gewaltig.

Einen Release-Wechsel möchten Unternehmen mit möglichst kurzen Ausfallzeiten (Downtime) gestalten. In einem Teil der Serie wird es darum gehen, wie sich die Downtime klein halten lässt. Allerdings hängt es natürlich immer von der individuellen ERP-Umgebung ab, wie gut Tools sowie Methoden greifen und ob alle Beteiligten gut vorbereitet sind.

"Wir bleiben bei R/3"

Für einen Umstieg auf R/3 4.7 und nicht auf ERP 6.0 hatte sich das auf Tür- und Fensterbeschläge aus Edelstahl spezialisierte mittelständische Unternehmen Vieler International aus Iserlohn entschieden. Eine Migration auf das aktuelle SAP-System hätte bedeutet, einen neuen Lizenzvertrag abschließen zu müssen, denn Vieler zählt zu jenen SAP-Kunden, die noch einen R/3-Vertrag haben. Neue Lizenzkosten wollte man aber nicht bezahlen. Der Anrechnungsbetrag für Investitionen in R/3 hängt von der Dauer der R/3-Nutzung ab. Er lag anfangs bei 90 Prozent und sinkt kontinuierlich. Als die Entscheidung bei Vieler anstand, betrug er etwa 55 Prozent.

Zuerst Stammdaten bereinigen

Einen außergewöhnlichen Weg einer ERP-Einführung hat der Industriekonzern EDAG aus Fulda beschritten. Dieser führte in der auf Stahlprodukte für Automobile (darunter Trittbretter, Ölwannen und Schutzbleche) spezialisierten mittelständischen Firmentochter WMU Weser-Metall-Umformtechnik aus Hannoversch-Münden ERP 6.0 ein. Damit löste die Firma ein Produktionsplanungs- und Steuerungssystem (PPS) eines anderen Anbieters sowie die Datev-gestützte Buchhaltung ab. Für den Umstieg sprachen die schwache Integration mit Drittprodukten wie einem Zeiterfassungssystem, das Wartungsende des PPS-Produkts sowie die geforderte Einbindung der WMU in Aton, die Finanzholding des EDAG-Konzerns. Das Besondere daran: EDAG nutzt R/3 4.7 in der Zentrale und hatte dieses System als Ausgangspunkt für den ERP-Rollout in der Firmentochter verwendet. Als Vorlage für die Struktur der Kreditoren, Debitoren und Kontenrahmen diente das zentrale R/3-System (Release 4.7) von EDAG. Aus einer Systemkopie zog das Projektteam ein ERP-System hoch, nahm ein Upgrade auf ERP 6.0 vor und stellte diese Umgebung auf Unicode um. Als Letztes wurden mit Hilfe des SAP-Werkzeugs "Legacy System Migration Workbench" die Stammdaten des R/3-Systems bei EDAG, darunter Materialstämme, Stücklisten und Arbeitspläne, in die neue ERP-Software kopiert. Die automatisierte Überführung der R/3-Bestandsdaten war allerdings erst möglich, nachdem diese in Detailarbeit bereinigt worden waren. Das gesamte Vorhaben dauerte von Juli 2006 bis Mitte Februar dieses Jahres.

Allerdings können nicht alle Firmen so wie EDAG auf ein hauseigenes "SAP Customer Competence Center" (CCC) zurückgreifen. Insbesondere an diese Unternehmen wendet sich die Serie, die mit dieser Ausgabe beginnt und in den folgenden vier Heften fortgesetzt wird.