"Wir waren alle so naiv"

09.08.2001
Von in Ingrid
25-jährige Chefs sind out. Der leuchtende Stern der New-Economy-Stars ist verblasst. Wir wollten von vier jungen Ex-CEOs wissen, welche Jobs für sie noch in Frage kommen, nachdem sie schon auf dem obersten Treppchen der Karriereleiter standen, und was für sie von den New-Economy-Träumen übrig blieb.

„Wir waren alle so naiv“, so das nüchterne Resümee der vier Ex-Chefs in der COMPUTERWOCHE-Diskussionsrunde. Bei einem Startup arbeitet heute niemand mehr.

Am meisten Glück hatte Urs Keller: Er verkaufte seine Agentur komplett - und sich selbst gleich mit. Mit der 100-prozentigen Übernahme tauschte er seinen Chefsessel gegen den eines Abteilungsleiters ein; der CEO-Titel verschwand von der Visitenkarte.

Urs Keller

Quelle: Jens Bruchhaus

Der Wechsel vom Chef zum Angestellten fiel Keller nicht leicht. „Das war nicht so einfach,“ gibt er unumwunden zu. Zwar blieb ihm die Jobsuche erspart, aber das Angestelltenleben hat auch Nachteile: „Es ist schwierig, nicht mehr alles zu wissen und nur noch Einblick in bestimmte Bereiche zu haben. Mir war vorher nicht so bewusst, wie die Strukturen sind.“

Keller und sein Gründungskollege Dirk Schwartz verkauften ihre Karlsruher Agentur Websolute im Frühjahr 2000 an das Internet-Portal Web.de, rechtzeitig vor dem allgemeinen Abwärtstrend. Der Deal brachten den beiden Gründern eine hübsche Abfindung ein. Aus heutiger Sicht war der Verkauf zum damaligen Zeitpunkt die richtige Entscheidung, denn die Alternative, Venture Capital anzunehmen und an die Börse zu gehen, barg die größeren Risiken. Zwar leitet Keller heute bei dem börsennotierten Portal Web.de die Unternehmensbereiche Content und E-Commerce, aber in den Vorstand stieg er nach der Übernahme nicht auf.

Die Geschichte des Startups begann 1998, als der Wirtschaftsingenieurstudent Keller und sein Studienkollege Schwartz in ihrer Karlsruher Studentenbude begannen, Websites zu programmieren. Die Sache lief so gut, dass das Studium bald zu einer lästigen Nebensache wurde und die beiden mit weiteren Freunden zusammen die Agentur Websolute gründeten. Schnell kamen neue Mitarbeiter und größere Büroräume hinzu. Zwei Jahre später, mit inzwischen 50 festen und 20 freien Kollegen, einer Niederlassung in Hongkong und dem zweiten Umzug nach der Wohnzimmergründung, kam das Startup an einen kritischen Punkt: Es brauchte schnell Geld, um im großen Stil weiterzuinvestieren und die Mitarbeiter zu bezahlen.

Die Jungunternehmer standen vor der schwierigen Entscheidung: Venture Capital aufzunehmen oder zu verkaufen. Nach zahlreichen Verhandlungen mit potenziellen Investoren und dem ebenfalls in Karlsruhe angesiedelten Interessenten Web.de entschlossen sich die Gründer zum Verkauf. Für die Niederlassung in Hongkong hatte Web.de keine Verwendung. Hier bewiesen die beiden Gründer erneut ihr Verkaufstalent, denn das Büro inklusive des gerade erst abgeworbenen Geschäftsführers verkauften sie innerhalb eines Nachmittags.

„In einem großen Unternehmen kann ich noch viel dazulernen“, übt sich Keller heute in Zweckoptimismus. In Management-Seminaren und Coachings trainiert er heute Fähigkeiten, die ihm während seiner Startup-Zeit fehlten. „Wir haben damals schnell gemerkt, bei welchen Aufgaben wir an unsere Grenzen kamen, und haben dafür Leute eingestellt, die das können und die mehr verdienten als wir“, so der 30-Jährige zur damaligen Strategie. Selbst an die BWL-Seminare in der Universität denkt er heute wehmütig zurück, die er damals öde fand und denen er mit seiner jetzigen Praxiserfahrung mehr abgewinnen könnte.

Lange Arbeitszeiten waren in den Gründertagen eine Selbstverständlichkeit. „Wir waren alle höchstens Mitte 20, ungebunden und ohne Familie“, so Keller über sein Team bei Websolute. „Deshalb waren lange Arbeitszeiten kein Problem.“ Mit dem schnellen Wachstum kamen aber neue Mitarbeiter ins Unternehmen, die Wert auf ein Privatleben legten und nicht bis zum Umfallen arbeiten wollten. „Die Ersten wissen, wie der Laden tickt, wer später kommt, trifft bereits auf feste Strukturen“, berichtet Keller aus eigener Erfahrung.

Der Hype ist vorbei. Heute treiben nüchterne Begriffe wie Marktbereinigung oder Dotcom-Sterben so manchem Startup-Chef den Angstschweiß auf die Stirn. Frank Thomsen hatte weniger Glück als Keller. Er musste der Abwicklung seines Gründertraums tatenlos zusehen. „Wir haben einfach zur falschen Zeit Geld gebraucht, als der Markt sich schon in der Talfahrt befand; alles mit einem „E“ davor war plötzlich nicht mehr gefragt“, so der 31-jährige Ex-Chef heute resigniert. Am 1. Januar 2001 musste er Involvenz anmelden, Ende Januar gingen endgültig die Lichter aus.

Dabei hatte seine Karriere als Unternehmensgründer viel versprechend begonnen. Bereits 1995 beschäftigte sich der angehende Kommunikationswissenschaftler mit HTML 1.0. Als Werkstudent bei Siemens durfte er den Internet-Auftritt eines kompletten Geschäftsbereiches entwerfen, der einen Umsatz von 1,2 Milliarden Mark erwirtschaftete. In den Anfangszeiten des Web war es durchaus nicht ungewöhnlich, dass Firmen das Netz und die Firmenpräsenz noch den experimentierfreudigen Studenten überließen. Mit seiner parallel zum Studium betriebenen Agentur erstellte er Websites für Unternehmen wie die Hypo-Vereinsbank und Siemens.

Vom Erfolg angespornt, gründete Thomsen im Mai 1997 zusammen mit seinem Bruder Lars eine Agentur für Internet und Marketing, die später ASP-Lösungen anbot (www.twest.de). Die Brüder engagierten im ersten Jahr bereits zwölf Mitarbeiter. „Zu Beginn lief alles prima, wir bekamen Venture Capital von Wellington und stellten auf der Systems 1999 unser Produkt `Twest` vor“. Ein Büro in bester Innenstadtlage Münchens gehörte für die jungen Chefs selbstverständlich dazu. Geld, das ausgegeben werden wollte, gab es damals genug.

Frank Thomsen

Quelle: Jens Bruchhaus

Allerdings kamen sie mit der Entwicklung ihrer ASP-Lösung nicht so schnell voran wie erhofft, und plötzlich floss kein Geld mehr. Ihnen blieb nur der Konkurs. Vom großen Traum blieb ein eineinhalbstündiges Flash-animiertes Musical übrig, die Vergangenheitsbewältigung der Firma übernahm ein Insolvenzverwalter.

Das Musical „The Rush“ hatte im Mai in München Premiere. Als Ein-Mann-Show geschrieben, gesungen und präsentiert von dem Ex-New-Economy-Chef Frank Thomsen, beweist es durchaus dessen künstlerische Fähigkeiten. Darin nimmt er seine eigene Geschichte kritisch unter die Lupe. Von der Goldgräberstimmung zu Beginn, als fast alles möglich war, bis zum Niedergang.

Statt Eckbüro mit Blick über den Viktualienmarkt im Herzen Münchens stehen die Server jetzt in seiner Privatwohnung. „Ich fahre momentan zweigleisig; neben der Musical-Produktion suche ich einen Job für ein geregeltes Einkommen. Damit ich unser Produkt Twest vielleicht irgendwann noch einmal verkaufen kann, betreibe ich den Service bei mir zu Hause weiter - die Server stehen bei mir im Klo auf einer Zwischendecke.“ Fehlende Phantasie kann dem Jungunternehmer sicher niemand nachsagen.

Mit der momentanen Entlassungswelle gestaltet sich die Jobsuche ziemlich schwierig. Vielen ehemaligen jungen Chefs sagen Firmen der Old Economy utopische Gehaltsvorstellungen und eine gewisse Arroganz nach. Die Branche sei sehr geldgetrieben, und in Deutschland habe der Deal der Samwer-Brüder, die ihren Online-Auktionsdienst Alando.de für viel Geld an E-Bay verkauften, die Vorbehalte gegen diese Szene noch verschlechtert. Die Diskussionsteilnehmer dagegen seien nicht reich geworden.

Burn, money, burn

Die Venture-Capital-Geber trifft eine Mitschuld an der Misere. Im Musical von Thomsen kommen sie nicht gut weg. Sie haben wenig Ähnlichkeit mit der guten Fee und ihrer vollen Wundertüte, sondern erscheinen als knallharte Rechner. Dem Musical-Helden und seinem fast marktreifen Produkt gaben sie mit einer weiteren Finanzierungsrunde keine Chance, sondern drehten den Geldhahn einfach zu.

Bessere Erfahrungen sammelte Andreas Franz, der zwar nicht zu den Gründern, wohl aber zu den Glücksrittern der New Economy gehört, die dem Lockruf des schnellen Geldes folgten. „Wir müssen jedem Venture-Capital-Geber dankbar sein für die Chance, die er uns gegeben hat, so viele Erfahrungen zu sammeln“, summiert er die turbulenten Startup-Tage. Nach dem Betriebswirtschaftsstudium in Bayreuth startete Franz zunächst als Berater bei Anderson Consulting, heute Accenture, und ging anschließend für drei Jahre zu Bon Prix, einem Versandhandelsunternehmen, das zum Hamburger Otto-Versand gehört.

Nach sechs Jahren Old Economy zog es ihn 1998 zum Startup Lycos. Bei dem Internet-Portal arbeitete er als Business Developer an der europäischen Strategie mit. „Ich habe an Lycos geglaubt, aber für mich mehr Chancen bei einem kleineren Startup gesehen, das nicht so sehr an einen Konzern angebunden ist“. Mehrheitseigner Bertelsmann setzte zum damaligen Zeitpunkt stärker auf AOL als auf Lycos. Nach nur sieben Monaten wechselte Franz deshalb im April 2000 zum Familienportal urbia.com.

Andreas Franz

Quelle: Jens Bruchhaus

Der 35-Jährige startete als Vorstandsmitglied und investierte viel Elan in die Aufbauphase des Portals. Doch auch hier holte ihn schnell die Realität ein. Große Expansionspläne entpuppten sich als unrealistisch, und der Business-Plan musste schon nach einem halben Jahr einem neuen und bescheideneren Konzept weichen. „Nach sechs Monaten wusste ich, dass für mich aus der großen Zukunft bei Urbia nichts wird. Ich wollte nicht der Letzte sein, der das Unternehmen verlässt.“

Nach zwei New-Economy-Anläufen und ebenso vielen Enttäuschungen kam für den MBA-Absolventen kein weiteres Startup in Frage, obwohl es einige Angebote gab. „Ich wollte nicht beim dritten Startup nach drei Monaten gehen.“ Das hätte seine Vermittlungschancen vermutlich auch geschmälert. Da der Master-Titel keine billige Angelegenheit war, sollte der neue Job länger als ein paar Monate ein regelmäßiges Einkommen garantieren. Von Stock Options wollte Franz nichts mehr wissen.

Personalvermittler brachten den 35-Jährigen bei seiner dreimonatigen Jobsuche nur bedingt weiter. „90 Prozent der Headhunter sind schlecht, sie kennen kaum den Markt“, so sein vernichtendes Urteil. Aber schließlich verhalf ihm doch ein Personalberater zum jetztigen Job. Seit Oktober letzten Jahres arbeitet Franz als Marketing-Manager bei der RedDot-Solutions AG, einem Softwareunternehmen im beschaulichen Oldenburg, das Content-Management-Systeme anbietet.

Bei seinem neuen Arbeitgeber fühlt sich Franz wohl: „Die Firma ist organisch gewachsen; wir verdienen eine Mark, geben aber nur 50 Pfennige aus.“ Von Venture-Millionen ist dort nicht die Rede. Den Gründergeist des acht Jahre alten Unternehmens, das früher InfoOffice hieß, glaubt er immer noch zu spüren. „Keiner trägt Anzüge und der Umgang ist sehr locker.“

Anette Lippert

Quelle: Jens Bruchhaus

„Ich habe in einem Jahr so viel gelernt wie andere in vier Jahren“, davon ist Anette Lippert, ehemalige Geschäftsführerin von Consumerdesk Deutschland, überzeugt. Aber ein Jahr New Economy reichten der 30-Jährigen auch aus, um sich nach einem neuen Job um-zusehen. Nach dem Master-of Science-Abschluss in Environmental-Technology (Biologie und Management) in England und lästigen Fragen bei den ersten Vorstellungsgesprächen in Deutschland - „Wollen Sie mit ihrem Abschluss Zoodirektor werden?“ - arbeitete sie zunächst bei der Waris GmbH in München, die eine virtuelle Abfall- und Wertstoffbörse im Internet betrieb. Anschließend wechselte Lippert zu Viag Interkom, um dort das Produkt Planet-Interkom mitaufzubauen.

Im Mai 2000 begann sie als erste Mitarbeiterin und gleichzeitig Geschäftsführerin für das niederländische Startup Consumerdesk die deutsche Niederlassung aufzubauen. „Ich habe es sehr genossen, aber nachdem die Aufbauphase abgeschlossen war, wollte ich etwas Neues machen“, so Lippert zum knappen Jahr als Geschäftsführerin und den Motiven für den Wechsel. Von Startups wollte die 30-Jährige nichts mehr wissen. „Ich habe mich zwar in der Szene umgesehen, aber ich wollte nicht schon wieder ganz von vorne anfangen“, begründete sie ihren Entschluss.

Nachdem Headhunter keine interessanten Angebote im Portfolio hatten, recherierte die 30-Jährige im eigenen Netzwerk. Als sie noch selbst Personal suchte, fand sie über verschiedene Mailing-Listen, beispielsweise die der Webgrrls, oft qualifizierte Mitarbeiterinnen. Für sich selbst entdeckte sie dort nichts Passendes. Also zog sie mit einem Stapel Bewerbungsmappen und Lebensläufen über die CeBIT. „Ich habe mir die aktuellen Presseerklärungen angesehen und was die Unternehmen vorhaben, um mich anschließend gleich am Stand zu bewerben.“ Die neue Position musste reizvolle Projekte und interessante Kollegen bieten: „Ich wollte vorher wissen, worauf ich mich einlasse“. Ab Herbst arbeitet sie bei BMW als Managerin für neue Produkte und Trends in ein Projekt mit dem schönen Titel „Connected Drive“, oder weniger poetisch „Internet im Auto“, mit.

Ob Gründer, Geschäftsführer oder Mitarbeiter in der New Economy – alle erlebten Phasen der Euphorie, auf die irgendwann die Ernüchterung folgte. Das Erwachsenwerden bereitete Chefs und Mitarbeiter gleichermaßen Schwierigkeiten. „Viele unserer Entwickler hatten verklärte Vorstellungen. Irgendwann geht der CTO (Chief Technology Officer) nicht mehr mit zum Pizza-Essen; das verstanden viele nicht“, berichtet Twest-Gründer Thomsen. Begeisterungsfähigkeit und Enthusiasmus ließen sich auch in den motiviertesten Teams nicht konservieren. „In einem jungen Unternehmen wird mit der Zeit nicht mehr jede Idee verfolgt, wie das in den Anfangszeiten noch der Fall war“, bilanziert Lippert heute abgeklärt.

Heute können die ehemaligen Chefs nur noch schulterzuckend und mit einer Spur Ironie die Rekrutierungsmethoden in der Branche verstehen. „Zu Zeiten des Internet-Hypes waren die Einstellungskriterien bei manchen Firmen auf die Voraussetzungen ´37 Grad Körpertemperatur und aufrechter Gang´ reduziert“, merkt Franz an. Doch die Anforderungen stiegen rapide an.

Selbst wenn die ehemaligen CEOs ruhigeren Zeiten in traditionellen Unternehmen entgegenblicken, sehen sie sich als Macher dem Durchschnittsangestellten gegenüber als überlegen an. Ihre vielfältigen Erfahrungen und teilweise auch hemdsärmeligen Herangehensweisen bringen sie ihrer Meinung nach in eine gute Ausgangsposition beim Run auf die knappen Jobs. „Mit meinem Background kann ich Fallstricke vermeiden und Situationen schneller und besser einschätzen als Leute, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben“, so Thomsen selbstbewusst. Er liebäugelt nach dem eigenen Fiasko durchaus mit einem zweiten Versuch bei einem Startup. Noch lieber sähe er sich vermutlich als Musical-Star und Entertainer.

Von dem viel beschworenen Spirit wollen sich alle etwas in das neue Arbeitsleben hinüber retten. Für den einen ist es die Nonkonformität bei der Kleidungwahl, für den anderen das Firmenappartment in New York, das die Mitarbeiter bei Geschäftsterminen in den USA nutzen können.

Auf die wilden Tage in der New Economy möchte niemand der vier Gesprächsteilnehmer verzichten. Selbst wenn manches nur noch zur netten Gute-Nacht-Geschichte für die Enkel reicht. „Wir gehören alle zur Erbengeneration, die als träge eingeschätzt wurde. Aber wir haben bewiesen, dass wir selbst etwas bewegen können, und das Internet gab uns die Chance dazu“, so die Generation-X-Variante von Franz.