Expertendiskussion nach Winnenden

"Medienverwahrlosung" trifft besonders Jungs

20.03.2009
Es sind vor allem Jungs, die sich in der virtuellen Welt verschanzen. Die das Netzwerk mit Fremden den Treffen mit echten Freunden vorziehen. Die schon als Kinder viele Stunden täglich damit verbringen, auf dem Computerbildschirm virtuell Menschen zu töten.

Eine Woche nach dem Amoklauf von Winnenden diskutieren Experten wie schon nach dem Amoklauf in Erfurt im Jahr 2002 über mögliche Zusammenhänge zwischen Gewaltverbrechen von Jugendlichen und exzessivem Computerspielen. Erneut werden Forderungen nach strengeren Altersfreigaben laut; Eltern und Schule wieder in die Pflicht genommen.

Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), Christian Pfeiffer, warnt eindringlich vor einer "Medienverwahrlosung" der deutschen Kinder. Besonders große Sorgen macht er sich dabei um die Jungen. Rund 50 Prozent der zehnjährigen Jungen spielen - zumindest ab und zu - Spiele, die erst ab 18 freigegeben sind. Im Alter von 15 sind es schon 82 Prozent, sagte Pfeiffer am Mittwoch in München. Je mehr brutale Inhalte die Jungen spielten, desto aggressiver seien sie.

Der Medienforscher Johannes Fromme hält im dpa-Gespräch dagegen. Er meint, allzu oft würden Computerspiele vorschnell für reale Gewaltexzesse wie den Amoklauf in Winnenden verantwortlich gemacht. Der Professor für Erziehungswissenschaftliche Medienforschung an der Universität Magdeburg ist überzeugt: "Die Wahrscheinlichkeit, dass ein 17-Jähriger ein Counter-Strike-Spiel oder Ähnliches auf dem Rechner hat, ist relativ hoch. Eigentlich ist das normal." Pauschalen Forderungen, Computer generell aus Kinder- und Jugendzimmern zu verbannen, erteilte Fromme eine Absage. "Das würde ich für unsinnig halten, weil ein Computer ein multimediales Gerät ist, das für alles Mögliche verwendet werden kann."

Auch Wissenschaftler Manfred Beutel hält eher eine strengere Altersfreigabe für Spiele mit Suchtpotenzial für einen möglichen Lösungsansatz. Der Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Mainzer Uniklinik betont, die meisten Jugendlichen hätten nun mal Zugang zum Internet und damit zu Online-Spielen. Ein Anzeichen für Computerspielsucht gebe es aber erst dann, wenn das PC-Spiel den Alltag dominiere und Partner, Beruf oder Essen nebensächlich würden, sagte er am Donnerstag bei einem Fachkongress in Mainz. Nach seiner Ansicht müsse Computerspielsucht aber als eigenständiges Krankheitsbild eingestuft werden.

Kriminologe Pfeiffer nimmt außerdem Eltern, Lehrer und Politik in die Pflicht. Die Lehrer sollen Eltern auf die Gefahr aufmerksam machen, die lauert, wenn ihre Kinder Tag und Nacht vor der Glotze oder dem Computer hocken. Von der Politik forderte Pfeiffer, Ganztagsschulen auszubauen, die auch Freizeitangebote wie Sport, Musik oder Schach im Programm haben. "Man kann die Jungs nur dazu verführen, dass sie andere Dinge spannender finden als Computerspiele", sagt der Kriminologe.

Warum sind es aber gerade Jungs, die von virtueller Gewalt derart fasziniert sind und dann zu dem werden, was Pfeiffer als "medienmäßig vergammelt" bezeichnet? Eine Erklärung des Kriminologen: fehlende Wärme im Kindesalter. Auch im Kindergarten und in der Grundschule bekämen viele Jungs von ihren Erziehern nicht die gleiche Zuwendung wie Mädchen. "Das ist ein Hinweis auf die Frage, warum sie sich anders verhalten, warum sie unglücklicher werden, warum sie mehr im Abseits landen." Viele fühlten sich stets zurückgesetzt und suchten dann schnell einen Gegenentwurf zu der Realität, die sie traurig macht. Viele fänden diese Alternative im Gewaltspiel, wo kleine, schüchterne Jungs zu großen, selbstbewussten Helden werden.

Zum Fall des Attentäters von Winnenden, Tim K., der in der vergangenen Woche 15 Menschen und sich selbst tötete, sagt Pfeiffer: "Die ohnmächtige Wut ist nicht entstanden durch das Computerspiel. Die ist im Leben entstanden. Aber wir wissen, dass das Computerspiel ihm die Richtung gewiesen hat, wie er seine Wut umsetzen kann." (dpa/tc)