Nicht nur für einfache Dialoganwendungen und Datenbank-Abfragen

Zwischen CASE und "Standard" bleibt noch Platz für 4GL-Systeme

07.02.1992

CASE-System auf der einen und Standardanwendungen auf der anderen Seite scheinen den Einsatz von Sprachen der vierten Generation auf Nischenanwendungen zu beschränken. Für Gerd Quiel* erfüllen diese Systeme hingen eine wichtige Funktion: Sie helfen dem Anwender dabei, Standardsoftware-Produkte seinen individuellen Bedürfnissen anzupassen.

Seit die ersten Sprachen der Feierten Generation (4GL) auf dem Markt erschienen - und das ist mittlerweile mehr als zehn Jahre her - reißt die Diskussion um das Für und Wider dieser Hilfsmittel nicht ab. Einige der immer wieder aufgegriffenen Themen lauten:

- 4GL contra 3GL,

- 4GL als Ressourcenfresser,

- 4GL nur für einfache Dialoganwendungen,

- 4GL als Query-Sprache für Datenbanken und

- Werden 4GLs noch benötigt, wenn ein gutes CASE-Tool fertige Anwendungen generiert oder alle Anwendungen durch den Einsatz von Standardsoftware abgedeckt sind?

Stand der Technik läßt noch zu wünschen übrig

Die Liste der Pros und Kontras beziehungsweise der Einsatzeingrenzungen könnte endlos fortgesetzt werden. Doch trotz aller Gegenreden haben sich die 4GLs einen sicheren Platz in der DV-Landschaft, erstritten. Eine sinnvoll eingesetzte 4GL, scheint eine wichtige Ergänzung der Anwendungsentwicklungs-Landschaft darzustellen - auch und gerade im Zusammenhang mit CASE-Tools zur Entwicklung umfangreicher Anwendugssysteme sowie mit verstärktem Einsatz von Stardard-Anwendungssoftware.

Zum einen haben die CASE-Tools noch lange nicht den Stand der Software-Entwicklung erreicht, der notwendig wäre, um die viel zitierte Anwendungskrise zu meistern. Zum anderen löst der Einsatz von Standard-Anwendungssysteme nur selten alle Probleme eines Unternehmens im Rahmen der Informationsverarbeitung - insbesondere in bezug auf die Integration unterschiedlicher Rechnersysteme und die Einbindung von Altsystemen. Gar nicht erst näher entgehen will ich auf die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn ein Informationssystem auf der Grundlage einer kooperativen Verarbeitung beschrieben und dabei unterschiedliche Rechnerebenen einbezogen werden sollen.

Also bleibt wieder nur der Weg der Eigenprogrammierung -aber wie? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich den veränderten Einsatzrahmen der Informationsverarbeitung von heute anzusehen. Zunächst müssen wir untersuchen, wie die typische integrierte Informationsverarbeitungs-Landschaft eines Unternehmens heute aussieht.

Die untenstehende Abbildung zeigt schematisch eine solche IV-Landschaft, bei der die Anwendungsentwicklung nicht in allen Fällen durch CASE-Tools unterstützt wird. Die klassischen Anwendungsgebiete sind durch Standardsoftware oder/und Eigenentwicklungen abgedeckt. Daneben wird heute immer dringlicher die Integration mit den Endbenutzer-Komponenten gefordert.

Hier bieten sich die Sprachen der vierten Generation gerade zu an: Sie können die Lücke zwischen den eingesetzten Systemen schließen, wenn sie neben einem guten Sprachumfang noch einige - für die heutigen Einsatzumgebungen wesentliche - zusätzlich Funktionen bieten. Dazu zählen unter anderen:

- der Zugriff auf Daten der unterschiedlichen operativen Systeme (also keine Einschränkung auf bestimmte Datenbanksysteme),

- ein mächtiger nicht prozeduraler Sprachumfang mit prozeduralen Elementen zur Konstruktion von anwendungsbezogenen Vorgängen,

- Funktionen, mit denen DV-Fachleute. Anwendungssysteme entwickeln beziehungsweise Endbenutzer Informationen gewinnen, aufbereiten und weiterverarbeiten können,

- die Unterstützung des Entwicklungsprozesses durch Nutzung der DV-Komponenten im Rahmen eines interaktiven Rapid Prototyping,

- die Einsatzfähigkeit sowohl auf dem PC als auch auf der Host-Basis zur Unterstützung einer kooperativen Verarbeitung (die weitgehende Systemunabhängigkeit und damit Portierbarkeit sollte heute selbstverständlich sein) sowie

- eine Window-Technik für die Vorgangsbearbeitung am Bildschirm.

Im Rahmen meiner Beratungstätigkeit sowie bei Seminaren zum Thema 4GL habe ich mich mit Viertgenerations-Sprachen und Datenbanken verschiedener Hersteller beschäftigt - darunter Natural und Adabas von der Software AG, SAS-System von SAS Institute, Siron von Ton Beller, Mantis von Cincom sowie Oracle vorn gleichnamigen Anbieter.

Von den genannten Produkten unterscheidet sich Nomad von Must Software durch seinen konzeptionellen Ansatz, den meines Wissens keine andere 4GL zu bieten hat. Deshalb möchte ich im folgenden beispielhaft auf dieses Produkt eingehen. Neben der Sprachebene für Entwickler und der Integration von Daten unterschiedlicher Datenhaltungssysteme verfügt Nomad über ein zentrales Schema, das als aktives Dictionary für Daten, Masken und Funktionen bezeichnet werden kann.

Die Entwickler haben die Möglichkeit, in diesem Schema Hilfetexte oder den Zugriff auf Wertelisten zu hinterlegen, die der Anwender bei der Bearbeitung als Window aufblenden lassen kann. Dabei ist insbesondere die einfache Handhabung des Softwarewerkzeugs zu erwähnen.

Da Nomad außerdem ein Prototyping-orientiertes Vorgehen mit direktem Testen ermöglicht, ist es sowohl im DV-Bereich als auch - für kleinere, insbesondere für informationsbearbeitende Anwendungen - in den Fachabteilungen einsetzbar. Über den Entwurf der Benutzeroberfläche (Menüs und Masken) sowie die Abläufe läßt sich die Anwendung vollständig beschreiben. Die Datendefinitionen sowie die Bearbeitungsregeln werden dabei im zentralen Schema abgelegt, wo sie für die Bearbeitung aktiv zur Verfügung stehen.

Auf diese Weise kann die 4GL sowohl für die Entwicklung umfangreicher Anwendungen (als Lower-CASE-System) als auch im Endbenutzerbereich eingesetzt werden. Sie schließt die Lücke zu den Standard-Anwendungssystemen, indem sie es beispielsweise erlaubt, den Auswertungsanteil von Standardprodukten wie SAP dem firmeneigenenen Reporting-System anzupassen, ohne im Anwendungspaket selbst irgendeine Änderung vorzunehmen.

Bei der Auswahl und beim Einsatz einer 4GL sollte die Positionierung des Systems im Unternehmen eine wesentliche Rolle spielen; wichtig ist auch die strategische Ausrichtung des Systemanbieters. Auf den ersten Blick scheint der Funktionsumfang der meisten angebotenen Systeme gleich zu sein - nicht zuletzt wegen der Ausrichtung auf bestimmte Oberflächen wie beispielsweise CUA.

Zu beachten ist allerdings, daß sich einige Systeme (wie Focus, AS oder SAS) auf den Endbenutzer konzentrieren, während andere (zum Beispiel Mantis oder Natural) für die Anwendungsentwicklung ausgelegt sind. Die Lücke zwischen CASE und Standardsoftware können jedenfalls nur solche Systeme schließen, die beide Aspekte abdecken.

* Gerd Quiell ist Geschäfstführer der Unternehmensberatung Batos GmbH, Frechen.