Angst vor dem Ausverkauf am Neuen Markt

Zurück in die Wagenburg

13.04.2001
Am Neuen Markt läuft nichts mehr - stabil ist nur noch der Abwärtstrend. Mit dem dramatischen Kursverfall ist aber nicht nur das Image von Frankfurts Wachstumsbörse angekratzt, eine niedrige Aktienbewertung schränkt auch die Handlungsfähigkeit der Firmen ein. Viele Expansionsstrategien sind inzwischen nur noch Makulatur, finanziell geht es ans Eingemachte. Von Andrea Goder*

"Unsere Aktie finanziert das enorme Wachstum", gab sich Dieter Heyde noch im Juni 2000 auf der Hauptversammlung in Bad Nauheim selbstbewusst. Im Jahr 2005 sei die von ihm gegründete Heyde AG "eine Unternehmensgruppe mit 1,5 Milliarden Mark Umsatz, einer Ebit-Marge von über 15 Prozent, rund 4000 Mitarbeitern sowie auf drei Kontinenten vertreten", so die Vision des mittlerweile zurückgetretenen Vorstandschefs des IT-Dienstleisters. Noch vor einem Jahr lief die Akquisitionsmaschinerie der Hessen auf Hochtouren, fast schon im Quartalsrhythmus wurden Prognosen nach oben geschraubt, der Aktienkurs sprang in schwindelnde Höhen.

Gerüchte um LiquiditätsengpässeJäh unterbrochen wurde die Erfolgsstory dann allerdings mit enttäuschenden Zahlen für das dritte und vierte Quartal 2000. Das Nemax-50-Unternehmen hatte sich - wie so viele Firmen am Neuen Markt - verzettelt. Gerüchte um Liquiditätsengpässe machen seitdem die Runde. "Vorausgesetzt, dass die Situation bei Heyde nicht deutlich schlechter ist, als von der Geschäftsführung dargestellt, rechnen wir nicht damit, dass das Unternehmen in Konkurs gehen wird", beschrieb Simon Scholes, Analyst bei der Bank Gesellschaft Berlin, Anfang März die angespannte Finanzlage des IT-Dienstleisters zurückhaltend.

Doch eine weitere Hiobsbotschaft der Bad Nauheimer folgte prompt. Durch die geplante Wertberichtigung von Tochtergesellschaften werde sich das vorläufige Ergebnis für das Jahr 2000 voraussichtlich um 32 Millionen Mark verschlechtern, meldete der seit März amtierende neue Vorstand. Zu schaffen macht den Hessen vor allem das im Juni 1999 zu 100 Prozent übernommene britische Softwarehaus Tantus Plc., "der einzig wirkliche Missgriff in unserem Akquisitionsportfolio", wie von Heyde zu erfahren ist. Neben der angelsächsischen Tochter, die in der Bilanz 2000 zu 100 Prozent abgeschrieben wird, räumt das Unternehmen auch Schwierigkeiten mit der brasilianischen Niederlassung ein. Aber auch im Heyde-Konzern selbst gibt es "Baustellen", wie Sprecher Joachim Fleing erklärt. Der erst im Oktober 2000 neu gegründete Unternehmensbereich Systemintegration Financial Services habe bis dato kaum Umsätze erzielt.

Wie die Heyde AG deshalb vor kurzem in einer Ad-hoc-Mitteilung bekannt gab, würden erste Schritte zur Restrukturierung von den Hausbanken gestützt. Doch Anleger fragen sich, wie lange und in welchem Umfang. Mit einem Börsenkurs von derzeit unter drei Euro dürfte jedenfalls die globale Einkaufstour der Hessen - mit Stationen in den USA, Lateinamerika, Großbritannien, Tschechien und Spanien - gestoppt sein. Sämtliche Übernahmen, davon allein zehn im vergangenen Jahr, erfolgten bis dato über Kapitalerhöhungen, die die Aktie ohnehin stark verwässerten. Jetzt fällt die für das Unternehmen so wichtige Akquisitionswährung bis auf weiteres völlig aus.

Angesichts der desolaten Situation an den Finanzmärkten wird die Luft auch für andere prominente Highflyer dünner. Beispiel: Intershop. Das Jenaer Unternehmen hat für seine globale Expansion bislang den Kapitalmarkt kräftig zur Kasse gebeten. Allein in den USA verbrannte das deutsche Aushängeschild der New Economy Analystenberechnungen zufolge pro 1000 Dollar Umsatz etwa 1050 Dollar an Werbe- und Vertriebsaufwendungen.

Zweitlisting kurz vor UltimoFrisches Kapital zu beschaffen war für die Company - im März 2000 noch mit stolzen elf Milliarden Euro am Neuen Markt bewertet - in den letzten beiden Jahren kein Problem. So spülte im Oktober 2000 das Zweit-Listing an der Wallstreet rund 100 Millionen Dollar in die Firmenkasse. "Die Nasdaq-Notierung kam für Intershop gerade noch rechtzeitig und hat mögliche Liquiditätsengpässe bis auf Weiteres verhindert", beschreibt Helmut Bartsch, Analyst bei der Baden-Württembergischen (BW) Bank AG in Stuttgart die Lage. Setzt Intershop die Cash-Burn-Rate des ersten Quartals 2001 fort, in dem erneut tiefrote Zahlen geschrieben wurden, dürften die liquiden Mittel allerdings nach Schätzungen von Frankfurter Bankern allenfalls noch bis zum Jahresende reichen.

Ähnliche Spekulationen gibt es seit Wochen auch im Zusammenhang mit dem zweiten deutschen E-Commerce-Pionier Brokat. Die Schwaben haben schwer an der Integration ihrer beiden teuren US-Übernahmen Blaze und Gemstone zu knabbern. Jetzt werden die Börsianer skeptisch: Sehr hohe Verluste, eine unbefriedigende Umsatzentwicklung, zu viele Mitarbeiter, ein ins Bodenlose gestürzter Aktienkurs - der Versuch, das Unternehmen in ruhigere Gewässer zu steuern, kommt im Moment einer Quadratur des Kreises gleich.

Reihum haben sich in den zurückliegenden Monaten am Neuen Markt die Zeichen verkehrt: Das Fundament vieler IPO-Stories, nämlich Wachstum mit Hilfe von Zukäufen respektive Internationalisierung, trägt nicht mehr. Brain International, Emprise, Haitec, Bäurer, Infor, CPU - die Liste von Firmen, wo statt weiterer Expansion zunächst Konsolidierung angesagt ist, ließe sich beliebig fortsetzen. Rund zwei Drittel aller Nemax-50-Aktien rangieren derzeit unter ihrem Ausgabepreis. Firmen - so sie im Moment überhaupt attraktiv wären - sind zum "Schäppchenpreis" zu haben; das Wort vom "drohenden Ausverkauf" macht die Runde.

Auch Blue Chips kamen ins TrudelnApropos Ausverkauf: Die katastrophale Stimmung auf dem Frankfurter Börsenparkett erschwert Kapitalmaßnahmen auch für Firmen, die lange Zeit auf einem relativ soliden Fundament standen. Mit der Übernahme der MSH International Service AG hatte sich allerdings auch die Hamburger Systematics AG, die vergangene Woche vom US-Dienstleister EDS geschluckt wurde, wohl zu viel zugemutet. Eine zur Finanzierung des Deals geplante Kapitalerhöhung musste jedenfalls im Dezember aufgrund widriger Marktverhältnisse verschoben werden. Für die Hanseaten ein teurer Spaß, denn außerordentliche Aufwendungen für die Vorbereitung der Kapitalerhöhung (unter anderem musste ein Emissionsprospekt erstellt werden) schlugen mit 3,7 Millionen Euro zu Buche. Daneben drückten hohe Bankkredite für die Bridge-Finanzierung, über die bis dato der MSH-Deal finanziert wurde und die verlängert werden mussten, auf die Bilanz.

Während Systematics mit der Übernahme durch den EDS noch rechtzeitig unter das Dach eines starken Partners schlüpften konnte, scheint sich die finanzielle Situation für immer mehr Firmen am Neuen Markt zuzuspitzen. Gauss Interprise beispielsweise ließ im letzten Geschäftsjahr den Jahresfehlbetrag auf 117 Millionen Euro anschwellen. Parallel dazu schrumpfte der Cash-Bestand des Hamburger Internet-Beratungs- und Softwarehauses bis Ende vergangenen Jahres auf 6,5 Millionen Euro. Um das operative Geschäft nicht zu gefährden, entschlossen sich Altaktionäre im Februar und März zu zwei Kapitalerhöhungen aus eigenen Mitteln, die zwölf Millionen Euro in die klamme Firmenkasse brachten.

"Es ist mehr als fraglich, ob sich an der Börse Investoren für Gauss-Aktien gefunden hätten", beschreibt ein Analyst aus dem Emissionskonsortium das Finanzdebakel der Norddeutschen, mit dem diese allerdings keineswegs alleine dastehen. Doch zurück zu Gauss: Weitere acht Millionen Euro an Fremdmitteln stellte die Vereins- und Westbank zur Verfügung. Firmengründer und Vorstandschef Heino Büchner glaubt, dass damit das Thema Liquiditätskrise "endgültig aus der Welt" sei. Mit den zusätzlichen Finanzmitteln will er den Breakeven im vierten Quartal erreichen und die internationale Expansion fortsetzen. Ob sich allerdings der Traum vom Global Player erfüllt, ist allein schon aufgrund der schwierigen Integration des US-Unternehmens Magellan Software mehr als fraglich.

Keine Kreditlinien bei BankenAuch der Nürnberger Bintec Communications AG steht das Wasser bis zum Hals. Mit einem Jahresfehlbetrag von 10,3 Millionen Euro verfehlte der krisengeschüttelte Nürnberger Netzspezialist seine ursprünglichen Ziele um Längen. Nur mehr 1,7 Millionen Euro hatte das Unternehmen zum Jahresende in der Kasse. Bei Banken existierten zum gleichen Zeitpunkt keine weiteren Kreditlinien. Die Liquiditätssituation sei, wie das Unternehmen im Geschäftsbericht 2000 einräumt, "derzeit angespannt". Eine erste Rettungsaktion wurde mit einer Grundkapitalerhöhung und der Ausgabe von 720 000 neuen Aktien durch zwei Vorstände, den Aufsichtsratsvorsitzenden und einem bisherigen Kapitalgeber bereits unternommen. Wie lange allerdings der dadurch erzielte Mittelzufluss von 2,2 Millionen Euro reichen wird, um das operative Geschäft und die europäische Expansion fortzusetzen, bleibt auch im Fall Bintec abzuwarten.

Unternehmen leben von der SubstanzGelingt es Firmen nicht, die Finanzierung aus eigener Kraft zu sichern oder noch rechtzeitig private Investoren zu finden, geht es ans Eingemachte. Neben massiven Abschreibungen werden Beteiligungen abgestoßen, ganze Geschäftsbereiche veräußert, und selbst Tafelsilber kommt unter den Hammer. So verkaufte der angeschlagene Hamburger Softwareanbieter Softmatic vor kurzem den Unternehmensbereich Dokumenten-Management-Systeme an die Bielefelder Ceyoniq AG (vormals Computer Equipment). Auf die Übernahme von zwei bereits angekündigten Akquisitionen werde verzichtet, teilte der norddeutsche ERP-Spezialist vor wenigen Wochen mit.

Geradezu bedrohlich ist die Situation bei der NSE Software AG, die seit dem IPO im April 1999 durch ein tiefes Tal der Tränen schreitet. Zum Börsengang als "führender Anbieter von Sales-Force-Automation-Lösungen für die Finanzdienstleistungsbranche" angetreten, blieben die Münchner, die auch international hoch hinaus wollten, ihren Aktionären bis heute in puncto Umsatz und Gewinn vieles schuldig. Aus dem Ruder gelaufen sind NSE vor allem die Entwicklungskosten für die Finanzsoftware "Finas Enterprise", eine Produktlinie, die Anfang März eingestellt wurde. Nur wenige Tage später warf der dritte Vorstandschef in nur zwei Jahren das Handtuch.

Ob Gauss Interprise, Bintec oder NSE - wer auf dem Parkett wiederholt mit negativen News überraschte, hat auch in anderer Hinsicht von der Börse nichts mehr zu erwarten. Noch einmal das Beispiel Intershop: Die Stephan-Schambach-Company galt in vielen Neuen-Markt-Fonds lange Zeit als Top-Ten-Wert - mit entsprechender Gewichtung. So auch in einzelnen Fonds von Union Investment, der Frankfurter Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken. Für Fonds-Manager Wassili Papas war Intershop einer der Favoriten schlechthin - ein Unternehmen, das "in Deutschland im Internet-Bereich seinesgleichen sucht und eine ähnliche Erfolgsstory wie SAP werden könnte", schwärmte er noch im Dezember 2000 gegenüber der "Welt". Art Technology Group (ATG), Intershop und Broadvision würden nach Einschätzung des Fondsexperten den Markt unter sich ausmachen. "Es ist so einfach, langfristig Geld zu verdienen", sah sich der 31-Jährige bereits auf der Gewinnerseite.

Eine kapitale Fehleinschätzung, wie sich nur wenige Wochen später zeigte, denn von der Intershop-Gewinnwarnung Anfang 2001 wurde auch der Frankfurter Fondsspezialist eiskalt erwischt. ATG und Broadvision schickten vor kurzem ebenfalls Gewinnwarnungen hinterher. "Wir haben uns geirrt und die Konsequenzen gezogen", erklärt Union-Manager Rolf Drees. Fatal jedenfalls für die Schambach-Company. Sämtliche Intershop-Positionen wurden in den Union-Fonds komplett abgebaut. Dass man sich vom Management in Jena getäuscht fühle, wollte Drees allerdings so nicht stehen lassen. Schließlich sei der Titel im Vergleich zu anderen Internet-Firmen am Neuen Markt lange Zeit ein "Qualitätswert" gewesen.

Gelder knapp - Image geht flötenWas es heißt, nicht mehr zu den Lieblingen von Analysten und Fonds-Managern zu gehören, bekamen die Jenaer vor kurzem auf der Softwarekonferenz "Pan-Euro Software und Services" in London zu spüren. Während sich Firmen wie SAP und Commerce One über regen Zulauf freuen durften, hatten nur wenige Besucher den Weg zur Intershop-Veranstaltung gefunden. "Ein mangelndes Interesse des Kapitalmarktes reflektiert vielfach die fehlende Zukunftsperspektive von Firmen", erklärt BW-Bank-Analyst Bartsch.

Auch wenn sich abgestürzte Highflyer am Neuen Markt in Schadensbegrenzung üben, ihre Expansionspläne offiziell nur "einfrieren" - das Image vieler Firmen ist und bleibt angekratzt. Verunsicherung macht sich dann auch schnell auf Seiten der Kunden breit. "Aufgrund negativer Schlagzeilen überdenken viele Unternehmen, die in einem Entscheidungsprozess stehen, ihre Projekte", weiß Bartsch.

"Selbst wenn es nur Gerüchte um Liquiditätsprobleme sind, kann das schon existenzgefährdend sein", bestätigt auch Achim Fehrenbacher, Analyst beim Hamburger Bankhaus M.M. Warburg. Knüppeldick kam es deshalb in den zurückliegenden Wochen vor alllem für die NSE Software AG. Nachdem bereits im Februar ein Auftrag des Baufinanzierers BHW im Volumen von 6,5 Millionen Mark verloren ging, musste das Unternehmen vor kurzem melden, dass ein weiterer großer Deal (Volumen: 8,2 Millionen Mark) geplatzt ist. Diese Hiobsbotschaften dürften sicher ausschlaggebend dafür sein, dass die Münchner entgegen den Vorschriften am Neuen Markt ihre Jahresbilanz nicht rechtzeitig zum 31. März vorlegen konnten und bei der Deutschen Börse Aufschub beantragten.

Neigung zur "Nabelschau" nimmt zuFatal ist eine solche Entwicklung aber mindestens aus noch einem weiteren Grund: Gewinnt der Abwärtstrend in den Firmen an Tempo, binden Restrukturierungs- und Turnaround-Programme hohe Management-Kapazitäten. "Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, das operative Geschäft nicht zu vernachlässigen", warnt indes M.M.-Warburg-Analyst Fehrenbacher. Gleichzeitig muss das Management aber noch mehr Zeit für die "Pflege" des Kapitalmarktes aufbringen, um die weitere Finanzierung zu sichern und neue Investoren zu gewinnen. Für viele Companies am Neuen Markt heißt es deshalb, wie ein Insider spottet, "zurück in die Wagenburg", also in den Dunstkreis von Emmissions- und Unternehmensberatern, Banken und Wirtschaftsprüfern. Der Markt und Kunden seien deshalb "bis auf Weiteres Nebensache".

*Andrea Goder ist freie Journalistin in München

Cashburner am Neuen Markt - einige "anschauliche" BeispieleKurs am 5.4. (Euro) / Emissionspreis (Euro) / 52-Wochen-Hoch (Euro) / Veränderung* gegenüber Emissionspreis in Prozent

Bintec / 2,30 / 19,00 / 33,00 / -87,9

Gauss Interprise (1) / 1,90 / 44,00 / 32,50 / -82,7

Heyde (2) / 2,00 / 39,00 / 37,20 / -59,0

Intershop (3) / 3,50 / 51,00 / 117,00 / -45,1

NSE Software / 1,10 / 19,00 / 26,20 / -94,2

Softmatic / 1,60 / 20,00 / 25,50 / -92,0

(1) Split: 1:4 (28.6.2000)

(2) Split: 1:3 (1.9.1999); 1:5 (16.8.2000)

(3) Split 1:3 (23.8.1999); 1:5 (16.8.2000)

*Unter Berücksichtigung genannter Aktiensplits / Quelle: CW/Consors

Abb: Aktuelle Pannenstatistik

Der Neue Markt glänzte auch im vergangenen Jahr mit einer Flut von negativen Pflichtveröffentlichungen. Der "Hit" waren nach einer aktuellen Untersuchung des Münchner Emissions-Beratungshauses IPO-Management die Rücknahme prognostizierter Umsatz- und Ergebniszahlen. Von 85 gelisteten Unternehmen kamen insgesamt 128 diesbezügliche Ad-hoc-Mitteilungen. Spitzenreiter war mit einem Anteil von 48 Prozent die Softwarebranche, gefolgt vom TK-Sektor (40 Prozent). Quelle: IPO-Management