Zum "Rightsizing" von Telearbeit Es geht um die Organisation des Arbeitens ausserhalb des Betriebs

24.03.1995

Regelmaessig ueberprueft das Tuebinger Schulungs- und Beratungsunternehmen Integrata sein Modell der Telearbeit. Vor zehn Jahren eingefuehrt und auf Anhieb akzeptiert, stellt es offenbar eine sehr flexible Arbeitsorganisationsloesung dar, die sowohl fuer das Unternehmen mit seinen 13 Niederlassungen als auch fuer seine Mitarbeiter effizient und praktikabel ist. Gilbert Anderer* schildert das Integrata-Konzept.

Kaum eine Organisationsform der Arbeit wird so sehr von widerspruechlichen Superlativen begleitet wie die sogenannte Telearbeit.

So prognostizierte zum Beispiel eine AT&T-Studie aus dem Jahr 1971, dass im Jahr 1991 alle Angestellten der USA Telearbeiterinnen und Telearbeiter sein wuerden, waehrend andere Einschaetzungen davon ausgehen, dass im Jahr 2000 fuenfzehn bis zwanzig Prozent der Frankfur-

ter Beschaeftigten in Telearbeit taetig sein werden. Waehrend vor noch nicht allzulanger Zeit der Tod der Telearbeit vorausgesagt wurde, erlebt sie derzeit wieder einen unerwarteten Aufschwung.1)

Das Management fuerchtet um Existenzberechtigung

Auch in der gesellschaftspolitischen Diskussion sind die Meinungen denkbar kontraer. So standen die Gewerkschaften der Telearbeit lange Zeit skeptisch gegenueber, weil sie sowohl die gewerkschaftliche Organisationsfaehigkeit als auch die Isolierung der Arbeitnehmer durch raeumliche Parzellierung befuerchteten. Waehrend so die einen Telearbeit als Schwaechungsstrategie der Arbeitnehmervertretungen sahen, hegte die Management-Seite ganz andere Befuerchtungen: Mitarbeiter, die sich dem unmittelbaren Zugriff entzogen und selbstaendig arbeiteten, liessen besonders fuer das mittlere Management latente Zweifel an der Notwendigkeit der eigenen Position manifest werden.

Ueberkommene Management-Konzepte, die Kontrolle vor Controlling setzten, widersprachen dem durch Telearbeit geforderten Bild des muendigen Mitarbeiters, der seine Arbeitsleistungen und den Zeitpunkt ihrer Erbringung in gewissem Umfang selbstaendig definieren kann.

Nicht minder verwirrend ist der Sprachgebrauch: Waehrend Satelliten- und Nachbarschaftsbueros noch begruendet unterschieden werden koennen, sind Telearbeit, Teleheimarbeit und Arbeit zu Hause lediglich verschiedene Etiketten ein und derselben Sache.

Bei alldem sollte es nicht ueberraschen, wenn ein nuechterner Blick auf die Arbeitswirklichkeit hier zu etwas anderen Einschaetzungen kommt: Telearbeit sollte dringend einem Rightsizing unterworfen werden, wobei dieser der Informationstechnik entlehnte Begriff die begriffliche Neufassung ebenso umschliesst wie die organisatorische Ausgestaltung dieses Arbeitsmodells. Hierfuer werden die Erfahrungen der Integrata zugrunde gelegt, die das Modell seit Jahren mit dem erforderlichen Pragmatismus erfolgreich praktiziert und das wohl einzige Unternehmen in der Bundesrepublik ist, das diese Arbeitsform im eigenen Haus regelmaessig empirisch ueberprueft und die Entwicklung systematisch verfolgt.2)

Telearbeit bezeichnete seit den fruehen achtziger Jahren im wesentlichen informationstechnisch gestuetzte Heimarbeit. Das war sachlich zumindest teilweise begruendet, weil eine wichtige

Huerde die informationstechnische Ausstattung des Arbeitsplatzes und auch dessen kommunikative Anbindung an das Unternehmen war.

Die Projekte scheiterten haeufig an zu hohen Kosten. Demgegenueber wurden soziale und personale Handlungsfelder in der Literatur zwar immer wieder diskutiert 3), sie traten aber gegenueber der technischen Komponente eindeutig in den Hintergrund. Die vermutete Aussicht auf lukrative Beratungsmaerkte mag diesen Trend verstaerkt haben.

Es ist nun ironischerweise gerade der dramatische Fortschritt in der Informationstechnik, der einer organisatorischen Neufassung dieses Begriffs recht gibt, denn tatsaechlich ruecken technische Huerden, die die Diskussion lange Jahre gepraegt haben, mehr und mehr in den Hintergrund. Selbst die Einbindung von Videokommunikation 4), vor wenigen Jahren allenfalls in Pilotprojekten moeglich, wird mehr und mehr zur Selbstverstaendlichkeit.

Als Fazit ist festzuhalten: Der Begriff der Telearbeit ist nicht mehr geeignet, die realen Auspraegungen dieser Arbeitsform zu umschliessen. Seine technologische Verengung verstellt den nuechternen Blick auf die organisatorischen Gemeinsamkeiten dieser vielfaeltigen Varianten und die wirklichen Probleme in der Ausgestaltung. Worum es tatsaechlich geht, ist die Organisation des Arbeitens ausserhalb der Betriebsstaette.

Zu Beginn des Modells der Arbeit zu Hause - damals noch zu Recht als Telearbeit bezeichnet-, stand eine umfassende Studie Wolfgang Heilmanns 3). Sie muendete in die Umsetzung im eigenen Unternehmen. Obgleich damals vor allem zur "Organisation der dezentralen Software-Produktion" - so der Untertitel des Buchs - gedacht, wurde das Verfahren rasch auf andere Taetigkeitsfelder uebertragen und war auch bald Bestandteil der Integrata- Unternehmensphilosophie. Mittlerweile ist Programmierung als Taetigkeitstyp von "Heimarbeitern" kaum mehr von Bedeutung.

Zu Hause arbeiten, aber bei Integrata

Lag der Anteil der Programmierung 1988 noch bei immerhin 15 Prozent, so waren es Ende 1994 lediglich noch vier Prozent. Dagegen dominieren jetzt eindeutig konzeptionelle Taetigkeiten (Organisationsanalysen, Softwaredesign etc.) und typische Vertriebsaktivitaeten (Telefonate, Vertriebsvor- und - nachbereitung) (vgl. Abbildung 1). Dieser Wandel reflektiert zum einen die Veraenderungen des Markts, der weniger die klassischen Programmiertaetigkeiten nachfragt als vielmehr das Softwaredesign und zum anderen die Veraenderung der Produktionsbedingungen selbst: Software wird heute ganz ueberwiegend direkt beim Kunden erstellt oder in den Raeumen einer der 13 Geschaeftsstellen. Gleichwohl erfreut sich das Arbeitsmodell nach wie vor einer praktisch unveraendert grossen Akzeptanz - ein Beleg fuer seine praxisgerechte Ausgestaltung.

Aufschluss ueber verlagerbare Taetigkeiten geben auch Raenge und Einsatzbereiche der Mitarbeiter. 54 Prozent der "Telearbeiter" sind als Berater und Systemingenieure im Aussendienst taetig, 33 Prozent gehoeren Leitung und Vertrieb an, und nur ein kleiner Teil der Innendienstmitarbeiter kann von dieser Arbeitsform Gebrauch machen. Eine Aufschluesselung nach "Professionals", "Management" und "Unterstuetzungsfunktionen" erbrint im Prinzip ein aehnliches Resultat (vgl. Abbildung 2). Nutzer dieser Organisationsweise sind ganz ueberwiegend Professionals, aber auch sehr viele Fuehrungskraefte nutzen die Ruhe zu Hause (das wichtigste Argument in den Augen der Beteiligten), um Konzepte zu erarbeiten und wichtige Besprechungen vorzubereiten. Die sogenannten Unterstuetzungsfunktionen (Sekretariat, Assistenz etc.) sind als kommunikatives Rueckgrat ganz ueberwiegend im Unternehmen angesiedelt.

Die Taetigkeitstypen lassen sich organisatorisch klar beschreiben:

- Sie sind ueberwiegend wissensbasiert, das heisst, sie setzen hohe analytische und konzeptionelle Faehigkeiten voraus.

- Sie sind relativ gut isoliert, das heisst alleine oder in kleinen Teams durchfuehrbar, ohne dass umfangreiche Unterlagen oder sonstige infrastrukturelle Voraussetzungen vorhanden sein muessen.

Seit mehr als zehn Jahren praktiziert das Ausbildungs- und Beratungsunternehmen die Arbeit zu Hause. Was macht dieses Modell so erfolgreich, dass es fuer die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heute als Gestaltungsoption aus der persoenlichen Arbeitsplanung nicht mehr wegzudenken ist? Eine Reihe von Faktoren sind von zentraler Bedeutung:

Management by objectives: Die Steuerung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgt ueber eine regelmaessige Zielvereinbarung und Erfolgskontrolle. Damit werden traditionelle Steuerungsmechanismen wie Anwesenheitskontrolle erheblich relativiert.

Freiwilligkeit: Zu Hause arbeiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur, wenn sie dies selbst auch wollen. Freiwilligkeit ist ein wichtiges Erfolgskriterium vor allem deshalb, weil das Arbeiten zu Hause immer wieder als Vorstufe zur Umwandlung von festen Beschaeftigungsverhaeltnissen in freie Mitarbeit dient.

Die Erfolgsfaktoren des Tuebinger Modells

Verantwortung vor Ort: Das Modell kennt nur wenige zentrale Steuerungsparameter. Die Ausgestaltung und Umsetzung des Modells obliegt den Geschaeftsstellen. Damit wird eine flexible Handhabung gewaehrleistet.

Zustimmung des Kunden: Schreibt der Kunde eine bestimmte Arbeitsform oder einen bestimmten Arbeitsort vor, muss sich der Mitarbeiter danach richten, auch wenn das eine Abweichung von seinen Gewohnheiten bedeutet.

Daten- und Persoenlichkeitsschutz: Informationen, die dem Datenschutz unterliegen beziehungsweise aus unternehmenspolitischen Gruenden geheimzuhalten sind, werden nicht zu Hause bearbeitet.

Grundsatz der zusaetzlichen Gestaltungsoption: Arbeit zu Hause wird den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern grundsaetzlich nur als zusaetzliche Gestaltungsoption angeboten, das heisst, sie koennen jederzeit wieder in der Firma arbeiten.

Gleichwohl sollen einige umstrittene Punkte nicht verschwiegen werden. Die Arbeit zu Hause wird von einigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fuer ausbaufaehig gehalten, auch in Arbeitsbereichen, die heute noch als klassische Innendienstbereiche gelten (Personalverwaltung, Rechnungswesen etc.). Hier koennte die Unternehmensleitung noch einiges mehr tun, um die Gestaltungsoptionen auch fuer diese Mitarbeiter zu verbessern.

Immer wieder Gegenstand der Diskussion ist das Finanzierungsmodell. Wenn auch ein breiter Konsens darueber besteht, dass das gegenwaertige Modell ausreichend ist, um Standardarbeitsplaetze zu finanzieren, so ist doch klar, dass aufwendige Entwicklungsumgebungen von mehreren zehntausend Mark auf der Stundensatzbasis nicht amortisiert werden koennen. Mitarbeiter, die solche Applikationen haeufig benoetigen, werden diese auch weiterhin im Unternehmen in Anspruch nehmen muessen, da nur dort die Administration und der Zugang der Anwendungen fuer andere Nutzer sichergestellt werden kann.

Was letzten Endes ein entscheidender Erfolg dieses Modells war: Integrata hat zu keinem Zeitpunkt allzu uebertriebene Erwartungen oder Befuerchtungen damit verknuepft. Man wollte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern lediglich eine interessante Form der Arbeitsgestaltung anbieten. Es ist gerade dieser unternehmerische Pragmatismus, den die heutige Diskussion vielfach vermissen laesst - ein Pragmatismus der die gewerkschaftlichen Befuerchtungen ebensowenig teilte wie die Befuerchtungen des mittleren Managements, bald ueberfluessig zu sein.

Das "Rightsizing" dieser Arbeitsform steht noch aus. Dabei kommt es weniger auf weitere Untersuchungen an - die wesentlichen Fragen sind laengst erschoepfend beantwortet - als vielmehr auf die pragmatische Umsetzung.