Kienbaum-Studie über Innovations-Management in der deutschen Industrie

Zu einseitig besetzte Teams sind der Tod jeder neuen Idee

30.08.1991

Neuartige Ideen werden am leichtesten in Teams vorangetrieben, die sich sowohl aus Visionären als aus Analytikern und Realisierern zusammensetzen. So das Ergebnis einer empirischen Grundsatz-Enquete des Kienbaum-Forums zum Thema Innovation in der deutschen Industrie. Rolf Berth* erläutert die unter seiner Federführung erstellte Studie.

Wenn man den Gesetzen der Innovation auf die Spur kommen will, muß man natürlich auch den Versuch unternehmen, das "Schicksal" neuer Ideen zu erforschen. Daß dies technisch und psychologisch äußerst kompliziert ist, braucht vermutlich nicht betont zu werden, denn Ideen stellen sich spontan ein und entziehen sich durch diese Spontaneität der empirischen Beobachtung.

Also kann man die Geschichte von Ideen nur in der Rückschau in den Griff bekommen. In diesem Fall erfährt man, was amerikanische Psychologen schon in den 50er Jahren nachgewiesen haben: Im Rückblick trachten fast alle Menschen danach, Erfindungen, Innovationen sowie Erneuerungen rational zu erklären und Iogisch zu rechtfertigen. Aus zufällig und planlos zustandegekommenen Ideen werden im nachhinein Strategisch wohldurchdachte Überlegungen. Kurzum: Der Mensch ist beim Erklären von erneuernden Gedanken ein äußerst geschickter Geschichtsklitterer.

Welche Ideen kommen eigentlich durch?

Nichtsdestoweniger unternahmen wir den Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Ideen eigentlich "durchkommen". Zu diesem Zweck untersuchten wir 524 Ideen, die bei 116 Geschäftseinheiten angefallen waren. Einige Ergebnisse habe ich in den nebenstehenden Tabellen zusammengefaßt.

Wo kommen Ideen auf?

(Angaben in Prozent)

Am Arbeitsplatz 23

In der Pause 18

Zu Hause/Fernsehen 19

Zu Hause/Essen 13

In der Natur 11

Freizeitsport 9

Andere Orte 7

Wie lange hat man sich vorher mit dem Problem beschäftigt?

(Angaben in Prozent)

Lange nachgedacht 37

Einige Zeit nachgedacht 31

Kam ganz spontan 32

Wer generierte die Idee?

(Angaben in Prozent)

(Vorstand/Geschäftsführer) 11

Direktor 12

(Unter-) Abteilungsleiter 38

Produktmanager etc. 39

Wie innovativ war die Idee?

(Angaben in Prozent)

Revolutionär, Durchbruch 18,3

Signifikante Verbesserung 33,1

Geringfügige Verbesserung 48,6

Ungewöhnliche Sensationen offenbarten diese Zahlen nicht. Ein erstes Ergebnis erzielten wir aber, als wir den Innovationsgrad mit der geistigen und körperlichen Entfernung vom Arbeitsgeschehen korrelierten.

Dabei trat eine nicht unwichtige Gesetzmäßigkeit zutage: Es besteht ein starker Zusammenhang zwischen der Innovationsstärke einer Idee und dem Umfeld, in dem sich der Kreative befindet. Wichtige Durchbruchsideen kommen den Leuten in Situationen fern vom Arbeitsplatz, Abgeschiedenheit ist hilfreich. Mitmenschen scheinen zu stören, wenn es um anspruchsvolle Innovation geht. Hingegen stellen sich Ideen von geringfügiger Kreativität leichter am Arbeitsplatz ein.

Komplettes Abschalten in der Freizeit ist hinderlich

Bedeutende Ideen scheinen demnach nur von Menschen zu kommen, in denen die Probleme des Berufs bewußt oder unbewußt im Privatleben weiterarbeiten. Die rigorose Trennung von Beruf und Freizeit, das komplette Abschalten zu Hause und in der Freizeit scheint gute Ideen mit Tragweite zu verhindern (siehe auch Abbildung 1).

Wie hängen Ideengeneration und Persönlichkeitstypus zusammen? Um zu einer Gretchenfrage der Erforschung neuer Ideen vorzustoßen, setzten wir eine Typologie ein, die mein Institut als "Kienbaum-Drei-Phasen-Test" schon oft erfolgreich verwendet hat und die auf die Professoren Kotter (Harvard) und Leavitt (Stanford) zurückgeht. Diese Typologie unterscheidet als Typ 1 den "Ordnungsorientierten Analytiker", als Typ 2 den "Realisierer mit Sozialgeschick" und als Typ 3 den "Ideenreichen Pionier/Visionär". Die Liste der Eigenschaften innerhalb des jeweiligen Kreissegments von Abbildung 2 beschreibt die Neigungen dieser drei Typen hinreichend.

Dem aufmerksamen Leser wird vermutlich auffallen, daß der Abstand zwischen den Typen 1 und 2 geringer beziehungsweise die Kluft zwischen 1 und 2 einerseits und 3 andererseits besonders tief ist. Das kommt daher, daß die beiden linken Persönlichkeitstypen gleichsam eine geistige Klammer haben; sie sind aufrechte Konservative, etwas rückwärtsgerichtet und manchmal etwas kleinkariert. Kotter nennt sie sehr treffend "die Verwalter". Damit sind beide fundamental anders als der innovative Pioniertyp, der die Welt revolutionär verändern möchte und bisweilen jene unorthodoxen Führungsfähigkeiten besitzt, mit denen man Visionen verwirklicht.

Jeder der 258 interviewten Manager und Mitarbeiter ordnete sich einem der beschriebenen Persönlichkeitstypen zu; diese Einordnung wurde dann anhand unseres Drei-Phasen-Tests erhärtet, was in der Regel keinerlei Schwierigkeiten machte. Viele Befragte nannten zwar eine Zweitneigung, aber die Hauptausrichtung konnte stets identifiziert werden; und auf diese dürfte es ankommen.

Wir stellten uns nun zwei für unser Anliegen wichtige Fragen:

1. Wie teilen sich die drei Persönlichkeiten in unserer Stichprobe auf? Und da eine vorsichtige Verallgemeinerung mit Sicherheit statthaft ist: Wie viele Vertreter der drei Charaktertypen gibt es jeweils im deutschen Management?

2. Von welcher dieser drei Charaktergruppen kamen die von uns gesammelten 524 Ideen?

Das Ergebnis wird in Abbildung 3 visualisiert. Es ist eindeutig: Die Typen 1 und 2, die Kotter die Verwalter nennt, sind beide bei weitem zahlreicher vertreten als die visionären Spinner und innovativen Denker. Aber obwohl sie so zahlreich - zu insgesamt 84 Prozent - unser Management schmücken, gehen von ihnen erschreckend wenig neue Ideen aus; sie sind sozusagen fast ideensteril.

Beim Typ 3, dem Pionier und Visionär, verhält es sich genau umgekehrt: Er hat Seltenheitswert, aber die überwältigende Zahl der Ideen kommt von ihm. Natürlich liegt es in der Natur der Dinge, daß Visionäre neue Ideen haben, das muß per definitionem so sein. Was jedoch erstaunt, ist die Einfallsarmut der Verwalter, mit denen wir so reichlich gesegnet sind.

Auch wenn die Stichprobe nicht im klassischen Sinne repräsentativ ist, so darf doch angenommen werden, daß sich die ermittelte Typologie mit einer gewissen Fehlertoleranz in ähnlicher Form im gesamten deutschen Management wiederfindet. Eine Toleranz, die das Gesamtergebnis nicht in Frage stellt, ist natürlich zu unterstellen.

Es fragt sich nun, o wir aus dem soeben Ermittelten ein praktikables Management-Rezept ableiten dürfen, das uns ermöglicht, für einen breiten, kreativen Ideenfluß im Unternehmen zu sorgen: In der Tat scheint es so, als müßten wir uns nur gehörig auf die Suche nach den raren Schöngeistern, Visionären, Spinnern und Erfindern machen, um uns - wenn wir genug von ihnen gefunden haben - getrost zurücklehnen zu können, in dem Bewußtsein, daß der Ideenacker bestellt sei.

Ganz so einfach ist es nun leider nicht, denn ein entscheidendes Resultat unserer Forschung steht noch aus: Wir klassifizierten die 524 von uns untersuchten Ideen nämlich auch nach dem Erfolg, der ihnen beschieden war.

Wurde die Idee realisiert und zeitigte sie außerdem noch Markterfolg oder Vergleichbares, so wurde sie als "erfolgreich realisiert" eingeordnet. Wenn sie sich zwar soweit durchgesetzt hatte, daß sie realisiert worden war, aber nur wenig für einen Erfolg sprach, erhielt sie die Bezeichnung "mäßig erfolgreich". "Mißerfolgsideen" sind solche, die Pech bei der Realisierung hatten, diese Phase aber immerhin erreichten. Die "abgebrochenen" Ideen wurden bereits vor einer Realisierung aufgegeben.

In einem zweiten Schritt stellten wir fest, welche die fünf wichtigsten Personen waren, die auf die Generierung und Weiterentwicklung der jeweiligen Ideen den größten Einfluß hatten.

Diese Personen wurden dem Kienbaum-Drei-Phasen-Test unterworfen und auf die Zugehörigkeit zu den drei Charaktertypen hin untersucht. (An dieser Stelle sei angemerkt, daß es der Typ des Analysierers war, der sich als größter "Bremser" von Ideen hervortat.)

Das Ergebnis dieser Untersuchung wird in Abbildung 4 dargestellt. Es ist demnach unabweisbar, daß wir zwar den Visionär zur Generierung von Ideen dringend brauchen, daß es dann aber für die Realisierung und Durchsetzung einer Idee von allerhöchster Wichtigkeit ist, daß die beiden anderen Typen hinzukommen.

Was wir glauben gelernt zu haben, ist dies: Ideen, die erfolgreich in einem neuen Produkt, einer neuen Organisation, in einem verbesserten Betriebsklima oder ähnlichem ihren Niederschlag finden, sind beinahe immer von einem vielfältig zusammengesetzten Team vorangetrieben worden. Die Einseitigkeit von Teams ist der fast sichere Tod einer Idee. Anders ausgedrückt: Laßt Visionäre um uns sein, damit wir reichlich Ideen und Anregungen bekommen! Dann aber müssen wir für eine personelle Ausgewogenheit sorgen.

Die Verschiedenartigkeit der um eine Idee besorgten Menschen ist also Trumpf. Wenn nur "Spinner" beieinander sitzen oder auch wenn ausschließlich "Analysierer" oder "Macher" zusammenarbeiten, scheint dies für die Durchsetzung neuer Ideen fatale Ergebnisse zu haben.

Auseinandersetzung mit Andersgearteten suchen

Das Resultat unserer Untersuchung lautet also: Ideen brauchen am Anfang den Visionär, aber außerdem benötigen wir eine Mentalität des Aufeinanderzugehens, des Wissens um unsere Ergänzungsbedürftigkeit. Es kommt offenbar auf den Mut an, nicht nur mit seinesgleichen zusammenzuglucken, sondern sich der Auseinandersetzung mit anders Gearteten zu stellen. Die Pflege der visionären Geister und die bunte Vielfältigkeit von Teams bilden zusammen das Rezept, das diese Studie als empfehlenswerten Weg zu erfolgreichen Ideen nahelegt.

*Dr. Rolf Berth ist Leiter des Kienbaum-Forums, Akademie für Führung und Innovation in Wirtschaft und Gesellschaft: Er ist Autor eines Buches zum Thema "Visionäres Management", das bei Econ erschienen ist.