Anwender des Jahres/Citibank

Zocken wie die Profis am Telefon

29.11.2002
"Guten Tag, willkommen beim Citiphone Brokerage Service", sagt eine angenehme Stimme. Übrigens eine männliche. Ob die Finanzexperten bei der Citibank wohl glauben, beim Aktienhandel verstößt eine Frauenstimme schon gegen Business-Etiketten? Jedenfalls haben die Banker aus Duisburg ein bemerkenswertes IT-Projekt gestemmt und sind in die Endrunde des Wettbewerbs "Anwender des Jahres" gekommen.

Aktien telefonisch zu ordern ist in der Theorie eine tolle Idee. Reich werden an jedem Ort, zu jeder Zeit, vielleicht in der Sauna Vermögen verdaddeln oder den Coup landen, nach dem man ausgesorgt hat - das könnte aus einem Film stammen mit Männern à la Don Johnson. Ist aber Realität und stammt aus einem Hochhaus am Harry-Epstein-Platz direkt neben dem Duisburger Hauptbahnhof.

Dort residiert die Citibank, die ein Projekt wagte, bei dem Fachleute mit IT-Verstand etwas bedenklich die Augenbrauen hochziehen. Spracherkennung in eine geschäftskritische Anwendung zu integrieren, "da sind meine persönlichen Erfahrungen in anderen Firmen weitgehend grauenvoll", erinnerte sich ein Mitglied der Jury für den Wettbewerb "Anwender des Jahres".

Grauenvoll ist dann aber kein adäquater Terminus für das automatische, telefongestützte Ordersystem mit integrierter Spracherkennung, das Jacquelyn Lincoln als Projektleiterin mit Wilfried Schroers und Guido Wiebrecht sowie weitere, rund 60 interne und externe Mitarbeiter innerhalb eines Jahres erfolgreich absolvierten, erläutert Jörg Jessen, Senior Projekt Manager bei der Citibank.

Andernfalls würden wohl nicht rund 70 Prozent aller Citibank-Kunden, die bislang telefonisch - allerdings über ein Call-Center - ihre Wertpapiere orderten, das neue System nutzen. Das Problem des Aktienhandels ist dabei schnell umrissen: Das Volumen des Wertpapiergeschäfts ist sowohl kurzfristig, also auf Tages- und Wochenbasis, wie auch auf mittlere Sicht (mehrere Jahre) starken Schwankungen unterworfen. Für Banken bedeutet dies, dass sie für ihre Call-Center eigentlich immer eine schnelle Eingreiftruppe von gut ausgebildeten (und damit teuren) Aktienhändlern vorhalten müssen, um Spitzenbelastungen abzufangen. Sie müssen also ständig mit eigentlich nicht kalkulierbaren Personalkosten kalkulieren - auf Dauer eine unbefriedigende Situation.

Kein kostspieliger Personalüberhang mehr

Für die Duisburger Finanzexperten liegen die Vorteile des telefonischen Ordersystems mit integrierter Spracherkennung (IVR = Interactive Voice Response) deshalb auf der Hand: Die Citibank braucht keinen kostspieligen Personalüberhang mehr in ihren Call-Centern vorzuhalten, um kaum vorhersehbare Spitzentage abzufangen. Heute werden Hochdruckzeiten durch das System ausgeglichen. Das bedingt auch Einsparungen in den Call-Centern, denn viele Mitarbeiter können nunmehr anspruchsvolleren Beratungstätigkeiten nachgehen. Der Service für die Kunden in der Ordererfassung und der Depotverwaltung bleibt so schnell wie gewohnt. Dabei kommt es nicht auf die aktuellen Marktvolumina an. Durch das Telefonsystem können orderspezifische Aufgaben 24 Stunden lang und nicht wie bisher nur während der Börsenzeiten bearbeitet werden.

Projekt-Manager Wiebrecht weist zudem darauf hin, dass mit dem IVR-Projekt auch die Weichen für einen zukünftigen Ausbau gestellt wurden, weil nunmehr die technischen Grundlagen für weitere IVR-Systeme geschaffen sind. Ihren Geschäftszweig Telefonbanking hat die Citibank bereits mit der neuen Lösung ausgestattet. Grundsätzlich, so die Projektverantwortlichen, dürften weitere IVR-Systeme auch für alle übrigen Bankbereiche wie etwa jetzt schon im Bereich Transaktionsmanagement Entlastungen schaffen. Im Klartext heißt das aber durchaus: Das dürfte auch Call-Centern zugute kommen. Prinzipiell kann, so Projekt-Manager Schroers, das System jetzt ohne großen finanziellen und technischen Aufwand weiter ausgebaut werden.

Kein "Drücken Sie jetzt die Eins"

Automatische Telefonsysteme sind dabei keine Neuigkeit, Ordereingaben per Tastatur und DTMF-Tonerkennung (DMFT = Dual Tone Multiplexed Frequency) seit längerem bekannt. Was das Citibank-Projekt von anderen Lösungsversuchen unterscheidet, ist das ausgeklügelte Spracheingabesystem. Der Kunde muss sich nicht mehr mühsam zahllose Tastatureingaben ("Drücken Sie jetzt die Eins" etc.) für komplexere Aktionen beim Aktienhandel merken. Alle Funktionen, die nötig sind, um ein Wertpapierdepot zu führen, bietet das IVR-System an. Einzelne Orders lassen sich für alle deutschen Parkettbörsen aufgeben. Das Citibank-Projekt unterstützt zudem den Kauf und Verkauf von Optionsscheinen über außerbörsliche Direkthandelssysteme. Echtzeitkurse aller in Deutschland börsengehandelten Wertpapiere lassen sich ebenfalls abfragen. Wer Aktien von den 2500 wichtigsten börsennotierten Unternehmen handeln oder auch nur deren aktuellen Kurs erfahren will, nennt sie einfach. Das IVR-System teilt dem Kunden dann die entsprechende Wertpapiernummer mit und übernimmt sie in die Order.

Die idiomatischen Eigentümlichkeiten von Anrufern meistert das System offensichtlich souverän. Schroers erinnert sich an die Testphase, die man mit einem ausgewählten Kreis von Kunden vor der offiziellen Inbetriebnahme durchlief. Bayern, die dialektal eine veritable Herausforderung darzustellen vermögen, konnten die Duisburger Software laut Wiebrecht und Lincoln nicht schrecken. "Wir haben die Telefonate in der Betaphase mitgehört. Und da kam es häufiger vor, dass wir uns verständnislos ansahen, weil wir nichts verstanden von dem, was der Anrufer gesagt hatte. Das System aber erwiderte ohne Zögern - und das auch noch richtig."

Das IVR-System wurde in enger Zusammenarbeit mit Mitarbeitern der Call-Center und mit Marketing-Experten sowie Spezialisten für Sprachdialoge aufgebaut. Ziel war es, den Kunden in einer Weise mit dem System kommunizieren zu lassen, wie es seiner Gewohnheit im Umgang mit einem Call-Center-Mitarbeiter entspricht. Des Weiteren halfen die Call-Center-Spezialisten mit, ein möglichst ausuferndes Vokabular der Kunden zu sammeln. Hierzu stellten die Leute um Jacquelyn Lincoln einen weitreichenden Thesaurus auf.

Die zu erwartenden Dialoge wurden zunächst in "Usability Trials" mit einer kleinen Auswahl von Personen getestet, schrittweise angepasst und in einer zweiwöchigen Pilotphase vor der Einführung des Systems mit einem ausgewählten Kundenkreis noch einmal auf ihre Tauglichkeit geprüft.

Ein umfangreiches kontextsensitives Hilfesystem erklärt nicht nur die Systemnutzung, sondern gibt auch Erklärungen, warum bestimmte Eingaben für eine Order notwendig sind und was verschiedene Fachbegriffe bedeuten. Sollten trotzdem Probleme auftreten, bleibt als Reißleine immer noch der kurze Weg zu einem Agenten im Call-Center, mit dem sich der Kunde direkt verbinden lassen kann. Dieser Agent erhält die Daten des Citibank-Klienten ohne Zeitverzögerung auf seinen Bildschirm eingespielt samt allen Informationen darüber, in welchem Bereich des IVR-Prozederes (Flows) der Kunde sich befunden hat.

Realisiert wurde diese Option mittels CTI, der schon seit längerem bekannten Computer-Telefonie-Integrations-Technik. So wird en passant auch festgehalten, wo und welche Probleme aufgetreten sind. Das Sicherheitssystem erlaubt es, einen einmal auf dem IVR-System identifizierten und authentifizierten Kunden ohne erneuten Identifikationsprozess sofort zu bedienen.

Sprachbegabter Computer

Die Kosten für das gesamte IVR-System waren erheblich. Insgesamt belief sich die Entwicklungszeit intern auf rund 3000 Personentage. Inhäusige wie externe Mitarbeiter arbeiteten rund ein Jahr bis zur Einführung der kompletten Citibank-Lösung. Die Investitionen in die Hardware (4,5 Millionen Euro) und Software (zirka 6,5 Millionen Euro) verschlangen beträchtliche Summen. Der laufende Betrieb kommt die Citibank mit etwa 250000 Euro pro Monat ebenfalls teuer zu stehen. Hier allerdings ist eine signifikante Kostensenkung bereits in Sicht: Wurde das System nämlich bisher noch von Siemens betrieben, übernehmen die Banker die Operation des stabil laufenden Systems jetzt selbst, auch um die weiteren in der Entwicklung befindlichen IVR-Systeme integrieren zu können.

Die Infrastruktur des IVR-Projekts ist so ausgelegt, dass im Zuge eines Ausbaus auch Citibank-Niederlassungen in anderen Ländern in Europa das automatisierte Telefoniesystem für eigene Geschäftsbereiche benutzen können. Schon jetzt ist ein Telefonbanking-System für Großbritannien im Aufbau. Und wer mal ausprobieren will, wie Aktienhandel über das Telefon mit einem sprachbegabten Computer funktioniert, kann sich eine Demonstration unter 0180/3322112 zu Gemüte führen. (jm)

Software:

Call-Routing ICM von CISCO

IVR Applikation Intervoice Brite

Spracherkennung / Grammar Speechworks International (SWI)

Messaging System MQSerious von IBM

Business Software Citibank eigen Agentenapplikation Citibank eigen

Realisierende Unternehmen:

Siemens als Overall-Integrator

HP als ICM-Spezialisten

IntervoiceBrite als IVR-Lieferant und Applikationsentwickler

Speechworks International als Spezialist für Spracherkennungssysteme

Eyretel als Lieferant der Recording-Lösung